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Blog > Eintrag: Waräger, Juden und Russen in ewigem Kreislauf: Dmitrij Bykovs Roman „ZhD“
Waräger, Juden und Russen in ewigem Kreislauf: Dmitrij Bykovs Roman „ZhD“ Sonntag, 07. April 2013, 16:16:01  Die Version in russischer Sprache hier.
Dmitrij Bykovs Roman mit dem rätselhaften Titel „ZhD“ (ЖД), 2006 und danach in neun weiteren Auflagen, zuletzt 2012, erschienen, gehört zu den in Russland meistdiskutierten Werken der letzten Jahre. Mit seiner Idee einer „alternativen“, in keinem Schulbuch zu findenden Geschichte Russlands hat Bykov gleichermaßen die rechten Patrioten wie die linken Liberalen provoziert: Zwei fremde Mächte, die Waräger und die Chasaren, „nordische“ Nationalisten und ihre „südlichen“ Gegner jüdischen Glaubens, haben die ganze Geschichte Russlands bestimmt und die russische Urbevölkerung unterdrückt. - Hierzulande ist das Buch ebenso unbekannt wie der Name des Autors. Dabei handelt es sich keineswegs nur um eine weitere unter den in Russland verbreiteten Phantastereien über die nationale Geschichte, wie sie von sogenannten „alternativtschiki“ in Wissenschaft und Literatur angeboten werden, sondern um das Werk eines der begabtesten Schriftsteller der Gegenwart. Im Genre eine Mischung aus Politsatire, Groteske, Liebesroman und historischem Trakat, bietet es dem Leser ein Gespräch, in vielem ein Streitgespräch, über die Grundfragen des nationalen Schicksals. Vieles darin hat Berührungspunkte mit der Ideenwelt Gorkis, der mit einer kurzen Charakteristik am Rande in das Romanthema integriert ist.
Waräger und Chazaren
Die Russen, so lautet die Grundthese der Geschichtsexperten im Roman, stellen nicht die Urbevölkerung (korennoe naselenie) auf dem Territorium Russlands dar. Sie leben, beginnend mit der Staatsgründung, unter dem Joch zweier ausländischer Eroberer und Okkupanten, der Waräger und der Chazaren. Dass die Waräger (oder Normannen), ein skandinavischer Stamm, als von den Russen „gerufene“ Herrscher im 9. Jahrhundert den ersten russischen Staat gegründet haben, ist aus der „Nestorchronik“ bekannt. Dass aber die Chazaren, Bewohner des mittelalterlichen Khaganats im nördlichen Kaukasus und an der unteren Wolga, ein Volk der Händler mit der Religion des Judentums, schon vor den Warägern die Herrschaft in Russland übernommen haben, erfahren wir erst hier. Im weiteren Verlauf der Geschichte wechseln sich die beiden verfeindeten Mächte an der Spitze ab und werden gewissermaßen zu zwei gegensätzlichen Gesichtern des Staatsvolks. Die Urbevölkerung der Russen mit ihrer heidnisch-magischen Religion bleibt von der Herrschaft ausgeschlossen und wird von beiden Seiten unterdrückt und dezimiert. Zur Zeit der Handlung – in einer von unserer Gegenwart nicht allzu fernen Zukunft – stellen sich die beiden Mächte als Vertreter zweier moderner Ideologien dar, die sich zudem im Krieg befinden. Die Waräger, in Russland an der Macht, vertreten ein „nordisches“ Regime mit einem Kult der „Vertikale“, der Überlegenheit der „arischen Rasse“ und des bedingungslosen Gehorsams der Untertanen, unterstützt von der orthodoxen Kirche. Die Chazaren sind, im Gegensatz dazu, Verfechter der Freiheit der Persönlichkeit und des Lebensgenusses, allerdings nur, soweit es um ihre eigenen Rechte geht. Sie haben ihr „Khaganat“ (Israel) verlassen und sind mit ihrer Armee in Russland eingefallen, um ihre „Heimat“ zurückzuerobern. Die militärische Lage ist unklar. Die Waräger halten nur mit Mühe und gesteigerter militaristischer Propaganda eine Fassade der Macht aufrecht, die Chasaren haben aber gleichfalls keine glänzenden Siege vorzuweisen, so dass am Ende die gegenseitige Vernichtung oder ein heimlicher Pakt der kriegführenden Parteien zu erwarten steht. Die einheimische Bevölkerung, nur noch in Resten aus der Urbevölkerung der Russen bestehend, verhält sich den fremden Mächten gegenüber passiv und unterwürfig, sie besitzt kein Nationalbewusstsein und will nichts als überleben. Nur eine kleine Schar von ehrlichen Menschen aus beiden feindlichen Lagern, die sich von der herrschenden Ideologie freigemacht haben, will diesen Zustand ändern und – nach der erhofften gegenseitigen Vernichtung der kriegführenden Parteien – eine menschliche Ordnung in Russland errichten.
„Idioten zur Weißglut bringen“
Angesichts eines solchen Sujets erscheint die Verlagsankündigung „der politisch unkorrekteste Roman des neuen Jahrtausends“ nicht besonders übertrieben. Die heute herrschende Staatsideologie mit dem „nordischen“ (auch „teutonischen“) Nationalsozialismus in Beziehung zu setzen und gleichzeitig das Volk der Juden als eine aggressive Macht vorzuführen, die ihren Ursprung nicht im heiligen Land, sondern im Kaukasus und an der Wolga hat und die Anspruch auf ihre „Heimat“ erhebt, - das war im heutigen Russland eine unglaubliche Provokation, die sowohl auf das Lager der Patrioten wie auf das der liberalen Opposition zielte. Der Vorwurf der Russophobie von der einen und der des Antisemitismus von der anderen Seite kam denn auch prompt, und zwar in den ungenierten Ausdrucksformen, die besonders im russischen Internet üblich sind. Dabei spielte die Tatsache, dass der Autor väterlicherseits einer jüdischen Familie entstammt, eine wesentliche Rolle. Von der Möglichkeit, dass man der Abkürzung im Titel nur ein i zwischen Zh und D hinzufügen muss, um den Schimpfnamen für die Juden zu erhalten, wurde von manchem Kommentatoren mit sichtlichem Vergnügen Gebrauch gemacht. Für den Autor kamen diese Reaktionen keineswegs überraschend, man kann sogar sagen, dass sie beabsichtigt waren. „Ich verstehe es, Idioten zur Weißglut zu bringen“, hat er in einem Interview stolz erklärt. Ein Beispiel für diese Fähigkeit Bykovs ist auf diesem Blog in seinem Vergleich zwischen der „erstklassigen Diktatur“ der Sowjetzeit und der postsowjetischen „mittelmäßigen Demokratie“ vorgestellt (Links am Schluss des Eintrags). Auch die anderen Romane Bykovs mit ihrer Mischung aus phantastischen alternativen Geschichtsmodellen, Groteske und Politsatire sorgen immer für Aufregung. In „Rechtfertigung“ (Opravdanie, 2001) hat er das Schicksal einer Gruppe von Opfern des Stalinschen Terrors, ihr Standhalten in den Verhören und ihr geheimes Weiterleben als Soldaten einer Spezialeinheit in Krieg und Nachkriegszeit, zu einem eindringlichen Bild der sowjetischen Vergangenheit gemacht; in „Orthographie“ (Orfografija, 20003) wird die Rechtschreibreform von 1918 zu einem beziehungsreiche Symbol für die Ideenwelt der russischen Revolution und in „Der Evakuator“ (2005) verhilft ein Außerirdischer einigen ausgewählten Menschen zur Abreise aus einem in Terror und Chaos versinkenden Russland. Das nationale Thema steht auch in „ZhD“ im Vordergrund, aber Bykov hat es hier mit einer Leidenschaft und Ernsthaftigkeit behandelt, wie sie sonst seiner zum Spielerischen geneigten Natur nicht eigen sind. „ZhD“ sei sein Hauptwerk, „das Buch, für das ich geboren bin“, hat er in einem Interview erklärt. Ohne Scheu vor großen Worten stellt er den Roman, jedenfalls seiner Bestimmung nach, in eine Reihe mit den Werken der Weltliteratur, die so etwas wie ein „nationales Glaubensbekenntnis“ darstellen, dem Leser „die Nation erklären“: Homers „Ilias“ und Odyssee“, Dantes „Göttliche Komödie“, Cervantes’ „Don Quichote“, Gogol’s „Tote Seelen“. An Gogol’s Hauptwerk schließt sich Bykov mit dem Untertitel „Poem“ an, den der erste Teil des Romans „ZhD“ bei seiner Erstveröffentlchung in der Zeitschrift „Oktjabr’“ (2006, Nr. 8) trägt. Gogol’ habe mit seinem Roman „Die toten Seelen“ „die ewige Zwiespältigkeit, Unabgeschlossenheit und Formlosigkeit“ des russischen Wesens thematiert und damit das größte Nationalpoem der Russen geschaffen, ein Werk, das notwendig unvollendet bleiben musste wegen der „Unvereinbarkeit der beiden Gesichter Russlands und der mangelnden Erkennbarkeit seines dritten, des echten Gesichts“. Dem Andenken Gogol’s ist auch eine der möglichen Entschlüsselungen der Abkürzung „ZhD“ gewidmet, die Bykov im Vorwort als die von ihm bevorzugte anbietet: „Zhivye dushi“ – „Lebende Seelen“.
Für den Leser, besonders den westeuropäischen, ist es nicht leicht, die drei genannten Gesichter der Bewohner Russlands in den Romanfiguren der Waräger, der Chasaren und der „Einheimischen“ zu erkennen und sie in eine systematische Beziehung zueinander zu bringen. Fragen nach den genaueren historischen Zusammenhängen und logischen Begründungen sind hier wenig erfolgversprechend. Diese Unschärfe bringt aber auch die vielschichtige Bedeutung des Gegensatzpaares Waräger und Chasaren zum Vorschein, sie erlaubt Bezüge zu anderen Gegensatzpaaren, die zum festen Bestand des Russlandthemas gehören: Russland und Europa, Osten und Westen, Volk und Intelligenz, Bauern- und Stadtkultur, Aberglaube und Rationalismus, Kollektivismus und Individualismus.
Drei Gesichter des Staatsvolkes
Am einfachsten zu verstehen ist die Welt des Warägertums, ihre Beschreibung ist eine deftige Politsatire mit deutlichen Bezügen zum gegenwärtigen Russland, besonders in der engen Verzahnung von Staatsmacht, Armee und Kirche. Eine Symbolfigur für diesen Zusammenhang ist der „kapitan-ierej“ (Geistlicher im Rang eines Hauptmanns) Ploskorylov, in den Augen seiner Vorgesetzten ein „idealer Politruk“. Vor den Offizieren seiner Division erscheint er in der Priesterrobe mit der goldenem Achselschnur des Stabsoffiziers und reicht dem Diensthabenden die Hand zum Kuss. Seine aktuelle Lektion lautet „Der Nordische Weg“ und soll den Offizieren den nötigen Kampfgeist in dem großen Krieg mit den Chasaren, der heimtückischen Macht des „Südens“ vermitteln. Vorbildlich für den Geist des Warägertums erscheint in seinem historischen Rückblick die „russisch-teutonische Sache“, der Pakt zwischen zwei großen Mächten des Nordens (auch ohne die Namen Hitler und Stalin leicht erkennbar), die sich „ewige Liebe“ geschworen hatten und nur durch die Intrigen der Engländer in einen Krieg hineinzogen wurden. Kern der gemeinsamen „nordischen Idee“ ist die Überlegenheit der arischen Rasse, der unbedingte Gehorsam und die Bereitschaft der Soldaten zum Sterben für das „nordische Vaterland“. Ploskorylov arbeitet mit einem Spezialisten der militärischen Abwehr „Smersh“ („Tod den Spionen“, bekannt aus dem zweiten Weltkrieg) zusammen, der stolz von sich behauptet, er könne mit seiner Verhörtechnik „aus jedem ein Stück Dreck machen“. Die Armee wird als eine Maschinerie zur Vernichtung nicht des Feindes, sondern der eigenen Soldaten vorgeführt. Zwei der Hauptpersonen des Romans gehören dieser Armee an und werden durch ihre Erfahrungen dort zu Dissidenten: der Hauptmann Gromov verhindert einen ihm aufgetragenen Mord an einer Frau, die eine hohe Stellung im ideologischen Apparat der Chasaren einnimmt, und der Major Volochov ist mit eben dieser Frau in einem Liebesverhältnis verbunden.
Schwieriger ist es, die Rolle der Chasaren zu verstehen. Vieles in ihrer Weltanschauung kennzeichnet sie als Vertreter der Demokratie und der Freiheit des Individuums. Volochov, die dem Autor am nächsten stehende Figur, ein ganz von der Sorge um das Schicksal Russlands bestimmter Historiker, hat die Chasaren vor dem Krieg auf einer Reise in das „Khaganat“ (Israel) in ihrem eigenen Umkreis kennengelernt. Die Menschen dort, Freunde seiner Geliebten, die meisten davon Emigranten aus Moskau, haben ihm zuerst gefallen, ihr offener Umgang miteinander und ihre intellektuelle Brillianz haben ihm imponiert. Aber zugleich hat er erfahren, dass auch sie vom Nationalismus infiziert sind. Sein Bekenntnis zum Russentum hat ihn in die Lage eines verächtlich behandelten Außenseiters gebracht. Volochovs Einstellung zum Chasarentum bleibt zweispältig: er erkennt an, dass seine Vertreter, vor allem die revolutionäre Intelligenzija, eine wichtige Rolle im Kampf mit dem Warägertum gespielt und die kurzen revolutionären Aufschwünge in der Geschichte Russlands bewirkt haben, vor allem die von ihm verehrte Oktoberrevolution. Aber sie haben es nicht vermocht, eine neue humane Werteordnung zu schaffen, und sie werden auch jetzt nicht dazu in der Lage sein. Ihre Stärke beschränkt sich auf Kritik und Destruktion. Besonders missfällt Volochov der zur Schau getragene Intellektualismus dieser Menschen, ihre „philologische Kabbala“. Das Auftreten der Chasaren im Krieg zeigt sie als heimliche Verbündete der Waräger, im Grunde glaubenslos und nur auf die Eroberung der Macht ausgerichtet. Der Chefideologe der chasarischen Armee Evershtejn, früher im „Khaganat“ ein unabhängiger Intellektueller, erweist sich im Umgang mit der einheimischen Bevölkerung als ein gewissenloser Besatzer, seine Instrumente sind die gleichen wie die der warägischen Staatsmacht: Demagogie, Geheimdienstaktionen und nackte Gewalt. Waräger und Chasaren erscheinen so als zwei „Virusvölker“, zwei „Systeme der Vernichtung“.
Es bleibt die Frage nach dem dritten Gesicht der Menschen in Russland, verkörpert im Begriff der „Urbevölkerung“ . Von ihnen haben die Freiheitskämpfer keine große Unterstützung zu erwarten. Die Bewohner des Dorfes Degunino (der zentrale Schauplatz der Handlung) sind kümmerliche Gestalten, die in den Kampfpausen Brot und eingelegte Gurken an die Soldaten der rasch wechselnden Besatzungstruppen verteilen. Sie haben durch jahrhundertelange Unterdrückung ihre Würde und jeglichen Kampfgeist verloren. Bewahrt haben sie jedoch ihre Leidensfähigkeit und ihren Überlebenswillen, ihr tiefe Beziehung zur Natur, die heidnisch-magischen Bräuche und dazu ein Netz von familiären und freundschaftlichen Verbindungen, das ihnen eine zumindest potentielle Macht verleiht. Einer von diesen Originalrussen gehört zu den Hauptpersonen, er stammt bezeichnenderweise aus dem Milieu der Obdachlosen. Das Schicksal dieser Bevölkerungsgruppe wird von Bykov als ein tragikomischer Beitrag zum Thema „Leben in Russland“ vorgeführt. Die „vas’ki“ (kleinen Vasilijs), wie sie hier heißen, sind nämlich, da sie in der Hauptstadt zu einer Plage geworden waren, von der Straße aufgelesen, sterilisiert und in Heimen untergebracht worden, von wo aus die Behörden sie Interessierten zum Kauf anbieten. Diese Form der Wiedereinführung der Leibeigenschaft war ein großer Erfolg und führte zu einer regelrechten Mode: es galt als schick, einen vas’ka zu haben. Auf diese Weise ist auch der alte Mann Vasilij Ivanovitsch in eine bürgerliche (d.h. der Sowjetelite entstammende) Moskauer Familie geraten. Die Tochter des Hauses hatte sich sehnlichst einen vas’ka gewünscht und lernt ihn zu ihrer Überraschung als einen klugen Menschen kennen, der ihr mit freundlicher Geduld die Welt erklärt. Als Vasilij Ivanovitsch erfährt, dass gegen die vas’ki eine Vernichtungsaktion vorbereitet wird, macht er sich auf, um seine Klassenbrüder zu warnen. In dieser Episode sind zwei zentrale Leitmotive des Romanthemas enthalten: die Wanderschaft, der Aufbruch zu neuen Ufern, und die damit verbundene Absicht, Gutes zu tun, Barmherzigkeit zu üben.
Wanderschaft und andere Leitmotive
Das Motiv der Wanderschaft wird auch als eine Idee Volochovs vorgeführt, die er auf eine originelle Weise in die Praxis umsetzt. Der Major hat seine Truppe, die für alle möglichen Spezialaufgaben eingesetzt wird, durch geschicktes Taktieren der Kontrolle seiner Vorgesetzten entzogen und zieht mit seiner „fliegenden Garde“ auf eigene Faust durch das Kampfgebiet. Die Idee besteht darin, aus den willenlosen Untertanen verantwortungsbewusste Menschen zu machen. Die scheinbar ziellose Wanderungsbewegung ist zugleich als Ausbruch aus der ewigen Kreisbewegung der russischen Geschichte zu verstehen, - ein weiteres Leitmotiv des Romans. Von Ivan Groznyj bis zu Lenin vollzieht sich die russische Geschichte in den gleichbleibenden Formen von Revolution und Restauration, Tauwetter und Frost. Volochov zählt fünf solcher Kreise, der sechste sei gerade angebrochen.
In diesen Zusammenhang gehört auch das beziehungsreiche Titelsymbol, das – den Vorschlägen des Autor folgend – auch „Eisenbahn“ (Zheleznaja doroga) bedeuten kann, - neben weniger ernstzunehmenden Vorschlägen wie „Zhivoj dnevnik“ (Life Journal), „zheltyj dom“ (Irrenhaus) und „zhirnyj Dima“ (der fette Dmitrij). Beim Thema Eisenbahn schöpft Bykov aus dem Arsenal der russischen Literatur von „Anna Karenina“ bis „Doktor Zhivago“. Dabei erweist sich die Bedeutung dieses wirkungsmächtigen Symbols als ambivalent: der Koloss aus Stahl mit seinem Schienennetz von ungeheuren Ausmaßen ist unausweichlich der Inbegriff des Fortschritts, der Weltoffenheit und Modernität. Auf der anderen Seite ist die Eisenbahn aber ein eigentümlich „gefesseltes“ Verkehrssystem, es gibt keine Abweichung vom Schienenweg, der Passagier ist dem Willen des anonymen Systems ausgeliefert, am deutlichsten in einer kreisförmigen Route. In Analogie zu der historischen Kreisbewegung spielt Bykov immer wieder mit der Ringlinie der Moskauer Metro, einmal wird sogar die Idee einer riesigen Eisenbahnrundstrecke entwickelt, die ganz Russland umfasst. Das dichte Geflecht von Motiven der Bewegung im Raum, zu Fuß und per Eisenbahn, durch unwegsame Wald- und Steppengebiete und auf Schienenwegen, verleiht dem Roman ein besonderes Nationalkolorit, es erinnert an „Doktor Zhivago“ (Bykov ist auch Verfasser einer vielbeachteten Pasternak-Biographie) und hat viele Berührungspunkte mit dem 2007 erschienenen Buch des schweizer Slavisten Felix Philipp Ingold „Russische Wege. Geschichte. Kultur.Weltbild“, eine mit reichem Material aus der Literatur illustrierte Studie über die Symbolkraft des russischen Raums.
Am Ende ist vieles möglich
Angesichts solcher vieldeutigen und offenen Strukturen wird man nicht erwarten dürfen, dass Bykov seinen Roman mit einem klaren Fazit beendet. Was sich dort am Schluss findet, ist vielmehr eine Sammlung von verschiedenen mythischen und mystischen Ideen, teils altbekannten, teils überraschend originellen, die aber wenigstens einen gemeinsamen Nenner haben, sie beschreiben weder ein apokalyptisches Ende noch einen ausweglosen Zustand (wie er zuvor in „Der Evakuator“ gezeigt war), sondern doch etwas wie die Hoffnung auf eine bessere Welt. Das Weltende findet nicht statt, das gemeinsame Kind eines abtrünnigen Warägers und einer Frau aus einer alten Familie russischer Magier, das für die Rolle des Antichrist vorgesehen war, erweist sich als ein ganz normales Menschenkind und untauglich für die zerstörerische Rolle. Im Dorf Degunino, wo die nationalen Symbole des Apfelbaums und des Ofens vom Absterben bedroht sind, bahnt sich eine Rettungsaktion durch barmherzige Helfer an. Die christliche Idee, die den Warägern und den Chazaren gleichermaßen fremd ist, wird zuvor schon am Beispiel einer abgeschiedenen Klostergemeinschaft entwickelt. Das Christentum ist hier verstanden als eine Religion nicht des Opfers und der Weltverneinung, sondern als eine des Lebens und der tätigen Nächstenliebe, „die einzige Sprache, in der man sich immer verständigen kann“. Der Abt des Klosters kommt am Schluss noch einmal zu Wort: einen neuen Himmel könne er ihnen nicht versprechen, erklärt er seinen Brüdern, „aber eine neue Erde, die verspreche ich euch“.
Das „fröhliche Phlogiston“ – Geist der Geschichte
Das ist nach allem, was zuvor behandelt worden ist, sicher etwas zu dick aufgetragen. Besser zu Bykov zu passen scheinen mir zwei weitere Leitmotive, die am Schluss wieder aufgenommen werden: eines von ihnen ist das in seiner rätselhaften Traurigkeit eindrucksvolle Volkslied „Ne odna v pole dorozhen’ka“ (Führt kein Weg durch das Feld), das kaum für eine Änderung zum Besseren spricht; das andere – in der Stimmung entgegengesetzt – besteht in einer Betrachtung des Autors über das „fröhliche Phlogiston“. Phlogiston, ein gasförmiger Energieträger, war zuvor im Rahmen der satirischen Anspielungen auf das heutige Russland behandelt worden. Mit der Entdeckung dieses neuen wunderbaren Energieträgers begann der Niedergang des Erdöls, und damit der Niedergang Russlands. Denn Phlogiston war nahezu auf der ganzen Erde vorhanden und förderbar, nur in Russland nicht. Während die Autos nun alle mit dem neuen Gas fuhren, wurde das Öl in Russland notdürftig zu Lebensmitteln verarbeitet, die vielgerühmte „Stabilität“ der Wirtschaft war dahin. Gegen Ende des Romans wird diese verhängnisvolle Substanz zu einem wahren Glücksbringer. Anknüpfend an sein ungeklärtes Entstehen in Hohlräumen unter der Erde, preist der Autor das „fröhliche Phlogiston“ als einen aus dem Nichts, der verschwundenen Materie hervorgegangenen „reinen Geist“ der Geschichte, als die „reine Kraft der Phantasie“. Denn mit dem Ende der Materie, der Basis im Sinne des „langweiligen Buchhalters Marx“, öffnet sich ein weites Feld der Phantasie, „das Versprechen unbegrenzter Möglichkeiten“. Man erkennt hier das Credo des Schriftstellers Bykov: der Autor als unbeschränkter Herrscher über die Geschichte, auch wenn diese Freiheit auf den Raum zwischen zwei Buchdeckeln begrenzt bleibt. Mit solchen schwungvollen Exkursen hält Bykov, wie in allen seinen Romanen, die manchmal erlahmende Aufmerksamkeit des Lesers wach. Man verzeiht ihm die vielen Wiederholungen, die fehlenden Verbindungen, die manchmal seichten Anekdoten und andere Schwächen. Er ist trotzdem ein erstklassiger Erzähler und in vielen seiner auf den ersten Blick abwegigen Einfälle ein kluger Gesprächspartner zu Fragen, die mehr als nur das nationale Schicksal Russlands betreffen. Schade, dass dieser Schriftsteller dem deutschen Leser bisher so gänzlich unbekannt geblieben ist.
Gorki – ein „bereuender Waräger“?
Im Roman wird von der bedeutenden Rolle der abtrünnigen, „bereuenden“ Anhänger in beiden Lagern gesprochen und in diesem Zusammenhang ein Urteil Tolstojs über Dostoevskij zitiert: „Er hatte etwas Chazarisches an sich“. Einer der Gesprächspartner erinnert sich, dass Gorki diese Äußerung Tolstojs übermittelt hat und bemerkt dazu: „Der (Gorki) war auch ein klassischer bereuender Waräger. Der Kult der Kraft, Nietzsche, Sentimentalität – erst gegen Ende hat er angefangen, etwas zu verstehen“. Was das im einzelnen bedeuten soll, bleibt offen, aber richtig ist ohne Zweifel, dass Gorki sich keiner der beiden im Roman konfrontierten Ideologien ganz ergeben hat. Der Kult der Kraft und der „Vertikale“ hat ihn (z.B. an Lenin und Stalin) fasziniert, aber Gorki war ein entschiedener Gegner des Chauvinismus und Militarismus „warägischer“ Prägung. Was die Chasaren, im Klartext die Juden anbetrifft, so war er ein typischer Vertreter des „chazarofil’stvo“ in den Kreisen der Intelligenz, von dem im Roman die Rede ist. Gorki wurde nicht müde, die Juden als Vorbilder für die in „asiatischer“ Trägheit verharrenden Russen zu preisen: europäisch orientiert, aufgeklärt, willenstark und erfindungsreich, erschienen sie ihm zugleich bewunderungswürdig in ihrer Widerstandskraft gegen Diskriminierung und Verfolgung. Im russischen Internet kann man Hetzartikel über Gorki lesen, der wegen seiner Auftritte gegen den Antisemitismus als „Verräter“ und „Ausgeburt der Hölle“ beschimpft wird. Wenn Gorki also in gewisser Weise Bykovs „Chasaren“ zugerechnet werden kann, dann mit nicht weniger Recht auch der „Urbevölkerung“ der Russen im Roman. Die Motive der Wanderschaft und der Obdachlosigkeit passen ebenso in seine Welt wie das Christentum des Abts Nikolaj, das eine Religion der Lebensfreude, nicht des Opfers und des Todes ist. Man sieht, dass Bykovs Waräger und Chasaren ziemlich durchlässige Kategorien darstellen und sich eher für bunte Mischungen als für strenge Abgrenzungen eignen. Das spricht aber zugleich für die Unabhängigkeit und den freien Geist dieses Schriftstellers. Das Bild des „fröhlichen Phlogistons“ für die Macht der Phantasie hätte Gorki sicher gefallen.
Nachbemerkung: Russische Gegenwartsliteratur in deutscher Übersetzung
Das Jahr 2012 war nach dem Urteil des Kritikers Alexander Cammann in der „Zeit“ (17.01.2013) „ein gutes Jahr für die Liebhaber der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts“, er bezog sich dabei auf die Romane „Das Phantom des Alexander Wolf“ von Gaito Gasdanow, „Roman mit Kokain“ von M. Agejew, „Die Fünf“ von Vladimir Jabotinsky, die Neuübersetzung von Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“ sowie die Erstübersetzung der Novelle „Die Manon Lescaut von Turdej“ von Wsewolod Petrow. Das ist in der Tat eine beachtliche Bilanz, auch wenn hier manches eher den Nebenwegen als dem Hauptstrom der Literaturgeschichte gehört. Von der Literatur nach 2000 gibt es – soweit mir bekannt - Übersetzungen von Vladimir Sorokin, Ljudmila Ulitzkaja, Viktor Jerofejew,Viktor Pelewin, Zakhar Prilepin und Michail Schischkin. Auch diese Auswahl bietet gute Einblicke in die russische Gegenwartsliteratur, aber in ihr fehlt eine Reihe von Autoren, die in Russland viel gelesen und diskutiert werden, außer Bykov sollen hier stellvertretend nur drei genannt werden: Ol’ga Slavnikova mit ihrem Roman „2017“, wo die Hundertjahrfeier der Oktoberrevolution in einen Bürgerkrieg ausartet, Vladimir Sharov mit seinem grotesken Revolutionsroman „Seid wie die Kinder!“ und Roman Senchin, der eine andere, auf das Alltagsleben der Gegenwart bezogene Literatur vertritt. Letzterer ist auf diesem Blog mit seinem Roman „Vorwärts und aufwärts“ vorgestellt worden. Fazit: Es gibt vieles, aber im Vergleich mit früheren Zeiten, etwa den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts, hat es der deutsche Leser heute wesentlich schwerer, sich ein Bild vom Zustand der Kultur und der Gesellschaft in Russland zu machen. Die Freiheit des Wortes hat uns Russland offenbar nicht näher gebracht.
Thematisch nahe Einträge auf diesem Blog finden Sie in der Kategorie „Neue russische Literatur“ Bykovs Ansichten über die „erstklassige sowjetische Diktatur“ hier. Über Sonderlinge und „Alternativtschiki“ im heutigen Russland berichtet der deutsche Journalist Jens Mühling.
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