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"Erzählung von der unerwiderten Liebe" - Was wollte uns Gorki damit sagen?

Sonntag, 01. November 2015, 11:21:52

Maxim Gorki. Foto, Marienbad 1924

In russischer Sprache hier.

Auf der Suche nach einem passenden Beitrag zum „Jahr der Literatur 2015“ in Russland habe ich mich für „Die unerwiderte Liebe“ (so in anderen Übersetzungen des Titels „Rasskaz o bezotvetnoj ljubvi“) entschieden, eine Erzählung, die 1923 in der von Gorki, Wladislaw Chodassewitsch und Andrej Belyj redigierten und in Berlin produzierten Zeitschrift „Beseda“ (Das Gespräch) erschienen ist. In Fortsetzung einer sowjetischen Tradition wurden in dem vom Präsidenten angeordneten „Jahr der Literatur“ vorwiegend Kalenderdaten wie Geburts- und Todestage von Schriftstellern berücksichtigt. Ein großes Jubiläum wie Jessenins 120. Geburtstag hat Gorki in 2015 nicht zu bieten, sein 150. steht erst 2018 an (übrigens zusammen mit dem 200. Turgenejws). Aber es sollte wohl bei einer solchen Veranstaltung nicht nur um Jubiläen gehen, sondern um hochklassige Literatur, und da erfüllt die hier präsentierte Erzählung alle Voraussetzungen: ein universales Thema, ungewöhnliche Charaktere und eine mitreißende Geschichte. Und nicht zuletzt ist aus aktuellem Anlass die Unabhängigkeit des Werks von einer staatlich gelenkten Kulturpolitik hervorzuheben, geschrieben 1922 in Deutschland (im Sanatorium St. Blasien im Schwarzwald oder in Berlin). Denn gegenwärtig schickt sich die Führung in Russland an, nach einer Periode weitgehender Freiheit wieder mehr Kontrolle über die Literatur zu gewinnen, u.a. mit Wettbewerben und Preisen sowie Unterhaltungsangeboten wie der Zubereitung von „literarischen Konfitüren“.


„Über die Liebe“

Die „Erzählung von der unerwiderten Liebe“ (oder auch „von einer unerwiderten Liebe“) gehört zu dem Zyklus „Erzählungen 1922-1924“, der neben den „Bemerkungen aus dem Tagebuch“ zu den Zeugnissen einer intensiven Suche Gorkis nach neuen Themen und künstlerischen Ausdrucksformen zählt. Es waren Auseinandersetzungen mit großen Fragen der jüngsten Geschichte Russlands: die Verrohung der Menschen durch Krieg und Revolution, der Verlust moralischer Orientierung, Verrat und Gewalt; aber es ging auch um die Gegenkräfte der Kultur, das Künstlertums in Literatur und Theater.
In diesen Kontext stellte Gorki ein Projekt „Über die Liebe“, bestehend aus drei Erzählungen „über die Liebe zu den Menschen, zur Frau und über die Liebe der Frau zur Welt“, wie er seinem Freund und Kollegen Romain Rolland schrieb (7. Dezember 1922). Gemeint waren die Erzählungen „Der Einsiedler“, eine eindrucksvolle Apologie der Barmherzigkeit, die autobiographische Erzählung „Über die erste Liebe“, die mit einer für Gorki ungewöhnlichen Offenheit erzählte Geschichte seines Zusammenlebens mit Ol’ga Kaminskaja, und die hier vorgestellte „Unerwiderte Liebe“, eine Erzählung, die sich nicht in eine kurze Formel fassen lässt. Es ist die Geschichte der Liebe eines einfachen Mannes zu einer ob ihrer Schönheit gefeierten Schauspielerin, deren Karriere an russischen Provinztheatern dieser Mann unter endlosen Qualen bis zu ihrem Abstieg und Untergang begleitet. Ein deutscher Leser könnte sich an Heinrich Manns „Professor Unrat“ und den „Blauen Engel“ mit Marlene Dietrich erinnert fühlen (vom Professorentitel abgesehen). Diese von starken Emotionen und dramatischen Konflikten bestimmte Geschichte kann zugleich als eine Abhandlung über Spielarten der Liebe gelesen werden. Zuerst als ein Beispiel für die zerstörerische Kraft des Begehrens, der sexuellen Abhängigkeit, von der in der Ezählung Männer aller Klassen betroffen sind. Im Falle des Protagonisten Petr Torsujew führt sie zu einer freiwilligen Aufgabe aller persönlichen Interessen und zum aufopferungsvollen, von ständigen Erniedrigungen begleiteten Dienst an der geliebten Frau. Ob der Protagonist dabei auch seine Würde oder sogar seine Persönlichkeit verliert, ob diese Art der Beziehung überhaupt als Liebe bezeichnet werden kann, das ist eine Frage, die schon in den Bereich der Rezeptionsgeschichte mit widersprüchlichen Interpretationen führt. Sie betreffen die Einstellung de Lesers zu dem Protagonisten. Fordert seine Darstellung durch den Autor vom Leser die Missbilligung seines Verhaltens, Unverständnis oder sogar Verachtung? Namhafte Gorki-Forscher sehen in Torsujews Entwicklung nicht den Verlust, sondern das Wachsen seiner Menschenwürde im Prozess seines hingebungsvollen Dienstes an der geliebten Frau. Seine Beziehung zu ihr, anfangs unmissverständlich als sexuelles Begehren gekennzeichnet, verwandelt sich im Prozess des Abstiegs der Schaupielerin in eine tiefe Verbundenheit mit ihrer Person, ein Mitleid ohne Herablassung und eine in diesem Sinne menschliche Liebe. Dass eine solche Liebe auch von einer Frau ausgehen kann, zeigt die Beziehung der Schauspielerin Swanzewa, einer weniger prominenten Kollegin der gefeierten Dobrynina, zu Torsujew. Sie beobachtet das Drama der unerwiderten Liebe mit tiefem Mitgefühl und spricht offen von ihrer Liebe zu Torsujew. Der aber will von ihr nichts wissen. - Das Thema der Liebe führt damit auf mehreren Linien der Handlung zu den historisch umstrittenen Begriffen der Barmherzigkeit und des Leidens in der russischen Literatur.

Komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint, ist auch Gorkis Konzeption der zweiten Hauptgestalt, der Schauspielerin Larissa Antonowna Dobrynina. In ihrem Salon, umschwärmt von Verehrern, ist sie das Muster der femme fatale, zwei ihrer Anbeter treibt sie in den Selbstmord, darunter den jüngeren Bruder Torsujews, der sie wie ein himmlisches Wesen verehrt. Den übrigen Besuchern ihres Salons sind solche verzweifelten Reaktionen fremd, einer ihrer Wortführer kennzeichnet die herrschende Stimmung mit den Worten: „Am normalsten zur Liebe verhalten sich Kaninchen und Meerschweinchen“. Der Zynismus, mit dem sich auch die Dobrynina dieser Umgebung anpasst, ist aber zugleich Ausdruck der echten Verzweiflung einer modernen Frau, die mit ihrer Tätigkeit am Theater ganz andere Ziele verfolgt als die Herrschaft über eine verkommene Provinzgesellschaft. Sie träumt davon, mit ihren Rollen aus der zeitgenössischen Dramatik (Ibsen, Hauptmann u.a.) „die Banalität von der Bühne zu vertreiben“. Das Publikum will aber an den seichten russischen Komödien festhalten und interessiert sich für die Dobrynina nur wegen ihrer Schönheit und ihrer modischen Kostüme. Auch Torsujew hasst diese Welt, für ihn ist das Theater überhaupt eine „Welt der Lügen“. Die Dobrynina wird immer mehr selbst zum Teil dieser Welt, indem sie ihre Erfolge, die es nicht gab, als wirkliche Ereignisse erfindet und sie von
ihrem treuen Verehrer beglaubigen lässt. Im übrigen bleibt die Frage offen, ob sie als Schauspielerin ein wirkliches Talent der Verwandlung besitzt oder nur ständig sich selbst darstellt.

Die Welt der Erzählung ist im ganzen von einer Stimmung der Düsternis und Hoffnungslosigkeit geprägt, die unerwiderte, unglückliche Liebe weitet sich aus zu einer Metapher der menschlichen Existenz. Wenn die betrunkenen Gäste im Salon der Dobrynina lautstark über „Gott, Tod und Liebe“ streiten (eine wiederholte Formel), ist das nicht nur ein Zeichen für das leere Geschwätz der provinziellen Intelligenzija, sondern auch für die echten fundamentalen Fragen des Lebens, auf die es nur negative Antworten zu geben scheint. Die pessimistische Grundstimmung wird auch durch die Rahmensituation verstärkt, in der Torsujew einem neugierigen Besucher (dem Schriftsteller Gorki ähnlich) sein Leben erzählt. Das alte Haus mit seinen vergilbten Fotographien und zu Staub zerfallenen Blumen symbolisiert Vergänglichkeit. Draußen herrscht nächtliches Dunkel, es regnet unaufhörlich, und das Licht einer Laterne nimmt phantastische Formen an, einmal die Form einer „feuerroten Spinne“, Symbol einer infernalischen Welt. Schwer zu glauben, dass das von einem Autor geschrieben ist, der ein Jahrzehnt später als gefeierter Begründer des sozialistischen Realismus und Verkünder der lichten Zukunft des Sowjetmenschen in Russland leben wird.


Eine „Leserkonferenz“ im Hause Gorkis im Jahr 1934

Um eben diesen späteren Gorki und seine Meinung zu der hier besprochenen Erzählung geht es in einem interessanten Dokument, das der Journalist und Schriftsteller Ilja Schkapa in seinen Erinnerungen „Sieben Jahre mit Gorki“ (1964, zweite Ausgabe 1990) hinterlassen hat. Er war Redakteur in Gorkis Zeitschrift „Nashi dostizhenija“ (Unsere Errungenschaften) und stand dem Schriftsteller und seiner Familie persönlich nahe. Nicht zuletzt deshalb wurde er mit zwanzig Jahren Lagerhaft bestraft. Schkapa berichtet von einer nichtoffiziellen kleinen „Leserkonferenz“ in Gorkis Haus in Moskau. Im Frühjahr 1934 hatten drei Lehrer aus Schulen des Smolensker Bezirks, Mitglieder eines Literaturzirkels und Verehrer des Schriftstellers, um eine persönliche Begegnung gebeten. Gorki gewährte diese Zusammenkunft, weil er selbst an Kontakten mit seinen Lesern interessiert war und die Gelegenheit nutzen wollte, seinen gerade erschienenen Artikel „Über die Frau“ mit den Gästen (zwei davon Frauen) zu diskutieren. Es sollte ein zwangloses Gespräch über Liebe und Freundschaft werden. Beteiligt waren auch die ständigen Bewohner des Hauses, die Krankenschwester Olympiada Tschertkowa, die junge Schriftstellerin Vera Zhakova, die die Gäste an diesem Abend mit ihrem Talent als Rezitatorin von Gedichten bezaubert, und der Maler Iwan Rakitzki, ein enger Freund Gorkis. Dem demokratischen Regime des Hauses entsprechend waren auch der Sicherheitschef des Hauses Koschenkow und der Heizer Lewkin anwesend.
Die von Schkapa mit leichter Hand im Stil der „Skizze“ erzählte Episode vermittelt ein anschauliches Bild von dem freien kulturellen Klima in Gorkis Haus. Die Gäste, anfangs etwas befangen vor dem „großen Schriftsteller des russischen Landes“, wie er in dieser Zeit betitelt wurde, finden schnell den Mut zu eigenen Meinungen. Allerdings bleibt der Charakter des Klassenzimmers, der der sowjetischen Kultur immer eigen war, wie selbstverständlich bestehen. Die Gäste bitten um Aufklärung, um Richtlinien, Lebensregeln, die man von einem Schriftsteller erwarten darf und muss. Gorki bemüht sich nach Kräften, diesem Lehrerbild zu entsprechen, obwohl er sich gleichzeitig als Gegner des „Führerprinzips“ (vozhdizm) von dieser Rolle distanziert. Die inneren Konflikte, die sich dabei zwischen dem Ideologen und dem Künstler Gorki ergeben, kommen in der Diskussion über die Liebe und die hier besprochene Erzählung deutlich zum Vorschein.


„Was ist Liebe?“

Am Anfang geht es um ein heikles aktuelles Thema, den Zerfall der Familie. Als Beispiel wird das Verhalten eines Ingenieurs erörtert, der auf eine Baustelle im Ural abkommandiert worden ist, dort eine Frau kennen und lieben gelernt hat und nicht zu seiner Ehefrau mit zwei Kindern in Moskau zurückgekehrt ist. „Gibt es da noch das, was man Liebe nennt?“, fragt Tschertkowa in die Runde. „Ehe man Menschen verurteilt, sollte man erst einmal wissen, was Liebe ist“, entgegnet eine von den Gästen. Der „komendant“ Koschenkow, Vertreter der Ordnung, macht den Schriftstellern zum Vorwurf, dass sie „das Thema Liebe ausbeuten wie eine Goldader, aber keine Klarheit schaffen“. Gorki bemüht sich, diesen Vorwurf zu entkräften: Die Menschen verbinden sich oft gedankenlos, lassen sich nur vom Gefühl des Herzens leiten, nicht vom Verstand.
Der Begriff der Liebe muss von irrationalen Beimischungen befreit werden, erklärt er seinen Zuhörern. Die Liebe sei „das schönste und kreativste Gefühl“, aber dabei doch ein „irdisches“ Phänomen, sie stehe in einer Reihe mit der elementaren Lebenssicherung durch Ernährung und Arbeit. Die Liebe ist auch nicht ewig und unvergänglich, sondern unterliegt einem Lebenszyklus: „Sie wird geboren, erreicht ihre Blütezeit und stirbt“.(Übrigens ein Konzept, das besonders Turgenjew in vielen seiner Liebesgeschichten ausgearbeitet hat.) Zu diesem Pflichtprogramm in materialistischer Erziehung gehört dann auch, wie Gorki betont, die unerlässliche Mitwirkung der Vernunft in Sachen der Liebe und der Partnerwahl.
Und an dieser Stelle geschieht etwas Überraschendes. Die Mehrzahl der Anwesenden verweigert dem Schriftsteller die Zustimmung. Vernunft in der Liebe? Sie halten es lieber mit Puschkins Aphorismus (in „Ägyptische Nächte“): „das Herz der Jungfrau kennt kein Gesetz“ (…chto serdcu devy net zakona), ebensowenig wie der Wind, der Flug des Adlers und die Phantasie des Dichters den Gesetzen der Vernunft gehorcht. Zum Verteidiger dieser Ansicht macht sich der Maler Rakitzki: „Wenn das Herz liebt – schläft der Verstand“, erklärt er, und führt als Beispiel dafür Gorkis eigene „Erzählung von der unerwiderten Liebe“ ins Feld. Seine Nacherzählung bietet ein perfektes Bild der dort herrschenden Unvernunft:

„Was veranlasst einen im allgemeinen nicht dummen Menschen, den Seifenfabrikanten Petr Torsujew, den Spuren der Schauspielerin Dobrynina zu folgen? Die Schöne macht sich über ihn lustig, hat vor seinen Augen ständig Liebschaften mit anderen. Was ist das? Wahnsinn? Und daneben die Schauspielerin Sonja Swanzewa, die Torsujew liebt und ihm das auch erklärt, worauf der sie zurückweist und Larissa treu bleibt… Larissa wiederum liebt den Doktor, geht ein Verhältnis mit ihm ein. Und der Doktor? Ist gleichgültig ihr gegenüber./…/ Und dieses Durcheinander zieht sich über Jahre hin /…/ Die Menschen verlieren den Kopf, erschießen sich, gehen zugrunde – das ist der Inhalt der ‚Erzählung von einer unerwiderten Liebe’“.

Gorki ist offensichtlich betroffen von diesem Auftritt seines Freundes, er bittet ihn, seinen Gedanken zuende zu führen. Rakitzki zitiert eine Äußerung Torsujews: „Der Mensch lebt nicht von Gedanken, sondern von gedankenlosen Wünschen“. Von dieser These, die einen Angriff auf das Zentrum der Weltanschauung Gorkis darstellt, wird später noch die Rede sein. Gorki schweigt dazu, an seiner Stelle übernimmt einer der Gäste, ein Mathematik-Lehrer, die Rolle des Opponenten: „Ja, in der Erzählung treiben die Herzen ständig Unfug, und die Vernunft ist in die Ecke gedrängt. Aber fühlen Sie nicht, wie stark dort die Notwendigkeit der Vernunft empfunden wird? Während ich das las, wollte ich ständig rufen: ‚Leute! Was macht ihr da, denkt doch wenigstens ein bisschen nach! Haltet ein!’ /…/ Die Erzählung ruft zur Vernunft auf! Die Zügellosigkeit des Herzens, die unkontrollierten Gefühle sind nicht die Grundlage der Liebe, sondern ihr Verderben“. Gorki freut sich über diese Bewertung und dankt dem Lehrer: „Ja, die Erzählung protestiert gegen die Bacchanalien des Herzens… ich wollte die Worte der Dobrynina als Motto voranstellen: ‚Die tödlichste von allen Verhöhnungen, die das Schicksal einem Menschen bereiten kann, ist die unerwiderte Liebe’“.

Alle sind mit dieser Bewertung einverstanden, eine der Lehrerinnen führt als Bestätigung die Erzählung „Das Granatarmband“ (Granatovyj braslet; 1911) von Aleksandr Kuprin an. Dort verfolgt der kleine Beamte Scheltkow in der Art eines Stalkers die verheiratete Fürstin Vera Nikolajewna mit Briefen und dem im Titel genannten Armband aus Familienbesitz. Als er damit keinerlei Reaktionen erreicht, bringt er sich um. Die Fürstin ist erschüttert und bereitet ihrem toten Verehrer einen feierlichen Abschied. Gorki berichtet, dass diese Erzählung früher einmal auch ihm gefallen hat, jetzt findet er sie maniriert und ist der Meinung, Kuprin habe das Gefühl der unerwiderten Liebe schöngefärbt. Rakitzki stimmt zu und spricht von „süßlicher Sentimentalität, die 100 Jahre zu spät kommt“ (Der Schreiber dieser Zeilen schließt sich beiden an. Es gibt auch zwei Erzählungen von Stefan Zweig mit dem Motiv der unerwiderten Liebe, die Gorki kannte - „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“ und „Die Mondscheingasse“ - beide halten m.E. einem Vergleich mit Gorki nicht stand.)
Ganz ohne Widerspruch bleibt aber auch diese Kritik nicht. „Eine uneigennützige, hingebungsvolle Liebe ist immer ein schönes Gefühl“, erklärt eine Lehrerin, und auch die anderen Frauen verteidigen das „Granatarmband“ als eine „schöne Erzählung“.

Im weiteren Verlauf der Diskussion geht es um ungleiche Paare in der russischen Literatur, beginnend mit Tatjana und Onegin in Puschkins Roman, und Gorki wiederholt seine Forderung nach einer vernünftigen Lösung der Partnerwahl: „Wir lieben die, die uns ähnlich sind“. Unvernünftig und abwegig erscheinen ihm alle Beziehungen, in denen Ungleichheit auf Grund des Alters, des Charakters, fehlender „sexueller Übereinstimmung“ und andere Mängel auftreten. In diesem Zusammenhang bewertet Gorki auch die Eifersucht als eine „schlimme und verderbenbringende Leidenschaft“. Rakitzki erlaubt sich auch hier einen Einwand: „Ich denke sogar, dass eine Liebe ohne Eifersucht etwas ist wie eine Speise ohne Salz und Pfeffer“. Gorki reagiert mit einem Scherz: „Umzingelt, aber nicht besiegt! Ich erkläre: Ich ergebe mich nicht!“
Damit endet die kleine Leserkonferenz. Die Gäste, doch noch nicht ganz zufrieden, bitten um eine weitere Zusammenkunft, um weitere „Ratschläge“. Aber Gorki zeigt keine Neigung zu einer Fortsetzung des Gesprächs.


„Ich ergebe mich nicht!“

Die Tatsache, dass sich in diesem Kreis von Sympathisanten mehrfach Protest gegen die von ihm vertretenen „vernünftigen“ Lösungen erhoben hat und stattdessen Ansichten vorgetragen wurden, die er für unsinnig und schädlich erachtet, hat ihn offenbar unangenehm berührt. Das könnte verwundern, wenn es nur um Fragen der Liebe ginge. Verständlich wird diese Reaktion jedoch dann, wenn dieser Konflikt um Herz und Verstand auf alle Bereiche des menschlichen Lebens ausgeweitet wird wie in dem Aphorismus Torsujews: „Der Mensch lebt nicht von Gedanken, sondern von gedankenlosen Wünschen“. Wenn das die Wahrheit ist, was wird dann aus dem Projekt der Revolution, der Schaffung des neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft, gegründet auf die Vorstellung vom Menschen als einem denkenden, vernunftgeleiteten Wesen, fern von allen „Bacchanalien des Herzens“? In dem Artikel „Über die Frau“ (im selben Jahr 1934 erschienen) ruft der Schriftsteller die Frauen Sowjetrusslands, besonders die Bäuerinnnen auf, endlich zu verstehen, dass „die freie menschliche Vernunft in vollem Maße die Möglichkeit eines leichten, reichen, interessanten Lebens sichert“. Zur Welt der „Unerwiderten Liebe“, wo die Menschen sich gegenseitig zugrunde richten, hat dieses utopische Reich im Geist Tschernyschewskijs keinerlei Beziehung. Wenig überzeugend erscheint auch das Argument des Mathematiklehrers, die Erzählung rufe – mittels der Darstellung einer verrückten Welt – „zur Vernunft“. Nach dieser Logik könnte man jede Darstellung des Bösen als Aufruf zum Guten betrachten.

Ein Jahrzehnt zuvor, zur Zeit der Entstehung der Erzählung, war Gorki nicht fähig zu solchen optimistischen Visionen einer künftigen Welt der Vernunft. Unter den noch frischen Eindrücken des Weltkriegs und der Revolution mit ihren physischen und moralischen Zerstörungen erlebte er eine schwere Krise seiner Weltanschauung. Vieles spricht dafür, dass er die Meinung seines Helden teilte, die Menschen würden nicht von vernünftigen Gedanken, sondern von gedankenlosen Wünschen geleitet. Ähnliche Gedanken finden sich auch in anderen Werken dieser Jahre, zum Beispiel in „Meine Universitäten“ (im selben Jahr 1923 erschienen), wo ein Geschichtslehrer dem jungen Gorki seine zutiefst pessimistische Weltsicht vorträgt: „Das Leben ist unvernünftig, es hat keinen Sinn. Ohne Sklaverei gibt es keinen Fortschritt /…/ Die Menschen suchen Vergessen, nicht Wissen“. Der starke Eindruck, den dieser unglückliche Mensch auf den autobiographischen Helden macht, spricht dafür, dass diese Begegnung zu den wichtigsten „Universitäten“ seines Lebens gehört.
In den dreißiger Jahren ist davon in den öffentlichen Auftritten Gorkis nichts mehr zu spüren. Die „Gegenrede“ zum utopischen Optimismus lebt aber weiter in Gorkis letztem Roman, in der Welt- und Menschenverachtung des negativen Helden Klim Samgin, polemisch zugespitzt, aber oft auch gestützt von der scharfen Beobachtungsgabe des Autors.


„Sonderlinge verschönern die Welt“

Zurück zu der Frage nach der Bewertung des Helden der „Unerwiderten Liebe“. Für die Gesprächsrunde in Gorkis Haus und für den Schriftsteller selbst zu dieser Zeit schien es ausgemacht, dass Torsujew im Prozess seiner „Versklavung“ durch die gewissenlose Verführerin Dobrynina seine Menschenwürde verliert und damit Verachtung, allenfalls Mitleid verdient. So lauteten übrigens auch die Urteile in den meisten Interpretationen der Erzählung in sowjetischer Zeit. Dabei wurden die vielen Signale einer mitfühlenden und sogar respektvollen Einstellung des Autors zu seinem Helden ignoriert.
Schon die einführende Charakteristik durch den Besucher, als Stellvertreter des Autors Gorki erkennbar, zeigt uns einen ungewöhnlichen Menschen. Fern von der gebildeten Gesellschaft lebend, die er hasst, hat er doch „etwas Intelligentes“ an sich, bemerkt der Erzähler. Er erweist sich als ein nachdenklicher Mensch mit einer großen Sensibilität und Beobachtungsgabe. Der Erzähler klassifiziert ihn als einen Tschudák, einen Sonderling, und gibt auch gleich zu erkennen, dass das (wie immer in Gorkis Werk) als Auszeichnung gelten darf: „Sonderlinge verschönern die Welt“.
Mitgefühl mit diesem Menschen weckt die Beschreibung seiner Kindheit. Die traurige Existenz der beiden Brüder nach dem Weggehen der Mutter in einem „Haus ohne Frauen“, bindet die Jungen, die von dem verbitterten Vater tyrannisiert werden, eng aneinander. Aus der Notgemeinschaft entsteht eine tiefe Verbundenheit, in den Diskurs über die Liebe fügt sich diese Geschwisterliebe als eine der zutiefst menschlichen Spielarten ein. Kolja respektiert die Autorität des Bruders, während Petr den Jüngeren bewundert, weil er Bücher liest und so Zugang zu den Quellen der Wahrheit über das Leben zu haben scheint. Diese harmonische Beziehung wird durch das Erscheinen der Dobrynina auf eine harte Probe gestellt. Beide verlieben sich leidenschaftlich in die Schauspielerin, Kolja im Modus einer schwärmerischen Verehrung, Petr mit dem sehr irdischen Gefühl des Begehrens, zuerst hervorgerufen durch den Klang ihrer Stimme. Plötzlich sind die Brüder Rivalen, der Geschlechtstrieb entfaltet seine zerstörerische Macht. Die Beziehung Petrs zu seiner Braut zerbricht, dann auch die Bruderliebe. Petr lässt sich dazu hinreißen, dem Bruder – entgegen der Wahrheit – zu erzählen, dass er der Liebhaber der Dobrynina geworden ist. Die Krise wir jedoch überwunden, und das reuevolle Geständnis des Älteren stellt das Vertrauen zwischen den Brüdern wieder her. Der Selbstmord Koljas ist allein die Schuld der Dobrynina, die ihn gedemütigt hat.
Ein aufmerksamer Leser verliert die Achtung vor dem Helden auch dann nicht, wenn der im folgenden wirklich zu einem Sklaven der Launen seiner Angebeteten wird. Nach einem nächtlichen Gespräch, in dem Dobrynina sich bitter beklagt über das Scheitern ihrer Pläne auf der Bühne und ihre Rolle als Lustobjekt für die begehrlichen Blicke der Männer, kniet er vor ihr nieder und gelobt, er werde ihr sein ganzes Leben dienen „wie ein Hund“. Sie belohnt ihn dafür mit den Worten: „Ja, Petruscha, ich weiß, dass Sie eine treue, ehrliche Hundeseele haben“. Torsujew schließt den Bericht von dieser Episode mit einem Bekenntnis ab, das kaum aus einer „Hundeseele“ kommen kann: „In dieser Nacht fing ich an, Larissa Antonowna mit einer [der?] echten, unerwiderten Liebe zu lieben“.
Die „Echtheit“ soll hier wohl so verstanden werden, dass diese Liebe frei geworden ist nicht nur von sexueller Abhängigkeit, sondern auch von bloßem Mitleid mit einem unglücklichen Menschen, eine Liebe also ohne eigene Interessen außer dem Wunsch, sich ganz mit diesem Menschen zu verbinden. Als es später zum ersten Mal eine sexuelle Begegnung zwischen dem ungleichen Paar gibt, die in einem Fiasko endet, ändert das nichts an dieser Liebe. Dobrynina erklärt ihm offen, dass sie ihn nicht lieben kann („aus Mitleid liebt man nicht, das ist beleidigend“), und ist zugleich unglücklich darüber, weil sie erkennt, dass sie sein Leben zerstört hat. Von einer „Hundeseele“ ist nicht mehr die Rede.
Als die Schauspielerin krank wird und ihrem Ende zugeht, bewährt sich die „echte“ Liebe Torsujews. Sie nimmt Gestalt an in dem kleinen Haus am Meer, das er für sie anschafft: „Ich habe es schön eingerichtet“, erzählt er. „Da ist es, Larissa Antonowna, nun komm und stirb!“ Der Schluss ist sehr sentimental und sicher nicht jedermanns Geschmack. Aber die Qualität wird deutlich, wenn man diesen Schluss mit dem in Kuprins „Granatarmband“ vergleicht.


Urteile über die „unerwiderte Liebe“

Die sowjetische Literaturwissenschaft hat Torsujew, wie erwähnt, überwiegend abschätzig behandelt. Weil der Held sehr emotional von seinem eigenen Innenleben berichtet, wurde das als Zeugnis für die „enge Welt des eigenen Ich“, den verpönten Individualismus gewertet. Für eine wirkliche Liebe sei in dieser Welt kein Platz. Es gehört zu den Paradoxien der Wirkungsgeschichte Gorkis, dass der Autor selbst mit seiner Stellungnahme gegen die „Bacchanalien des Herzens“ an dieser Sinnngebung beteiligt war.
Gegen eine solche Deutung wandte sich der namhafte Literaturhistoriker Jewgenij Tager in einem Artikel (1964) über den Zyklus „Erzählungen 1922-1924“. Von einer allmählichen Entleerung und einem Absterben der Seele des Helden könne nur die Rede sein, wenn man die Augen verschließe vor der „tiefen Menschlichkeit der tragischen Liebe Torsujews“. Schon 1924 hatte der bekannte Formalist Viktor Schklowskij festgestellt, dass der Mann in dieser ungleichen Beziehung „ständig wächst, während die Frau immer gewöhnlicher wird“. Auf diese Äußerung bezogen, erklärt Tager: „Eben dieses Wachsen, seine [Torsujews] sich immer mehr vertiefende Menschwerdung, bildet den Hauptinhalt des Werks“. Mit seiner reinen und menschlichen Liebe habe dieser einsame Tschudak „die Welt verschönert“.
An der Rehabilitierung des unglücklichen Torsujew hat sich auch die in der DDR wirkende Gorki-Forscherin Edel Mirowa-Florin im Nachwort zu dem Band mit Erzählungen Gorkis „Das blaue Leben“ (Aufbau-Verlag 1974) beteiligt. Sie stellt fest, dass die Erzählung „absichtlich nüchtern“ geschrieben sei, „ohne Romantisierung der Liebesgefühle der Helden“, und dennoch rufe das Werk „ein lebhaftes Echo im Herzen des Lesers hervor“. Die echte Liebe Torsujews verwandele diesen Menschen, einen zuerst „fast primitiven Fabrikanten“, in einen „feinen, zartfühlenden und selbstlosen Menschen“.

In Bezug auf den historischen Kontext bleibt festzuhalten, dass die „echte Liebe“, von der hier die Rede ist, auch ein Element des Mitleids und der Barmherzigkeit enthält, ohne die oft mit diesen Gefühlen verbundene Verächtlichkeit. Die Geschichte stellt damit eine Verbindung zu dem Thema des Leidens und der Barmherzigkeit in der russischen Literatur her, in der europäischen Rezeption ein Kennzeichen der nationalen Eigenart dieser Literatur. Gorki hat zu diesem Thema viele eindrucksvolle Beiträge geliefert, u.a. in seinen Erzählungen „Sechsundzwnzig und eine“, „Grimmes Leid“, „Aus Langeweile“ und in vielen Episoden seiner Romane. Dabei war er ein erklärter Feind des „Leidenskults“ im Geiste Dostojewskijs und hat diese Kritik in seiner Vorbildfunktion zum festen Bestandteil der Sowjetkultur gemacht. In der Literatur führte dieses Barmherzigkeitsverbot zu einem Konflikt zwischen Staatsideologie und kultureller Tradition, den der Schriftsteller Aleksandr Newerow in die paradoxale Formel gefasst hat: „Nicht Mitleid zu haben, ist unmöglich, aber Mitleid zu haben ist verboten“ (Ne zhalet’ nel’zja – a zhalet’ nel’zja).

Gorkis Freund, der Maler Rakitzki, hatte recht, als er in der Gesprächsrunde im Haus des Schriftstellers erklärte: „Die Erzählung hat einen tiefen Sinn. Wieviele Gedanken gibt es da, direkt und ohne Umschweife ausgesprochen, - reichlich Stoff zum Nachdenken.“ Man könnte hinzufügen, es gibt auch viel Unausgesprochenes darin, was die Beziehung des Schriftstellers zu seinem eigenen Werk betrifft. Der Ideologe streitet mit dem Künstler. Nimmt man die autobiographische Erzählung „Über die erste Liebe“ und Gorkis Briefe an seine Lebenspartnerinnen hinzu, insbesondere die an Marija Budberg, dann lernen wir darüber hinaus den Schriftsteller selbst als einen – überwiegend unglücklichen – Liebenden kennen, der in manchen Zügen Ähnlichkeit mit Torsujew hat. Zuweilen nähert sich der Ton in diesen Liebesdramen der „Kreutzersonate“ Tolstojs. Aber das ist schon Material für eine andere Darstellung.


Eine gute Übersetzung („Die unerwiderte Liebe“) von Irene Müller findet sich in dem Band mit Erzählungen Gorkis aus den 20er Jahren „Das blaue Leben“ (Aufbau-Verlag 1974), S. 33-80.
Originaltext in: M. Gor’kij, Polnoe sobranie socinenij. Chudozestvennye proizvedenija v 25-i tomach. T. 17, M. 1973, S. 261-306.

Die Erinnerung an die „Leserkonferenz“ 1934 im Haus Gorkis in:
Il’ja Shkapa (Schkapa), Sem’ let s Gor’kim, Moskva, 1990, S. 220-246.

Der Artikel E.B. Tagers über die „Erzählungen 1922 -1924“ in:
Ders., Izbrannye raboty, Moskva, 1988, S. 83-236.


Ergänzend zum Thema auf diesem Blog


“Der Romantiker“ (1910) – eine Meistererzählung Maxim Gorkis
Der Tischler Varaksin ist hoffnungslos verliebt in seine Lehrerin, ein liebes Mädchen aus höheren Kreisen, das in einem Parteizirkel Arbeiter in die Kulturgeschichte einführt.

Maxim Gorki: Unbekannte Erzählungen, Berlin 1941 – Zum Thema des Mitleids
Nicht nur wegen der sensationellen Erscheinungsdaten, sondern auch des Themas wegen ein ungewöhnliches Buch.

Kultur gegen Krieg und Politik – Ein Bekenntnis Maxim Gorkis (1923)
Im Jahr des Erscheinens der Erzählung schreibt Gorki einen für die westliche Presse bestimmten Aufruf an die Künstler und Schriftsteller Europas, ihre Phantasie gegen die nachwirkenden Zerstörungen des Krieges zu mobilisieren.

Kategorie: Gorki - Werke

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