Maxim Gorki "Meine Kindheit" – die vier Gesichter des Aleksej Peschkow
Freitag, 25. März 2016, 22:01:34

In russischer Sprache hier.
Abbildung aus dem Film „Gor’kijs Kindheit“ (Detstvo Gor’kogo), 1938, Regie: Mark Donskoj, Aleksej Ljarskij in der Rolle des Aleksej Peschkow
„Meine Kindheit“ (Detstvo), der erste Teil der autobiographischen Trilogie Maxim Gorkis, geschrieben auf Capri, zuerst erschienen 1913-1914 in der Moskauer Tageszeitung „Russkoe slovo“, als Buch in russischer Sprache 1914 im Berliner Verlag I. Ladyschnikow – ist nicht nur das erfolgreichste Buch des Schriftstellers, es gehört hinsichtlich seiner Aufnahme in Russland und in der Welt zu den bedeutendsten Werken der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. „Meine Kindheit“ wurde von der Kritik einhellig als das Werk eines „neuen Gorki“ begrüßt, eines großen Schriftstellers, der die utopischen Konstruktionen des „stolzen Menschen“ und des „Gotterbauertums“ ebenso wie die revolutionäre Propaganda hinter sich gelassen und sich der Aufgabe zugewendet hatte, die seinen künstlerischen Fähigkeiten entsprach: der von ideologischen Wunschvorstellungen befreiten Darstellung des „russischen Lebens“ auf der Basis seiner persönlichen Lebenserfahrung.
Nicht nur der Titel des Werks konnte als eine Aufforderung zum Vergleich mit der berühmten „Kindheit“ Lew Tolstois (1852) verstanden werden, Gorkis Bild der eigenen Kindheit war eine Gegenthese zu Tolstois Apologie der schönsten Periode im Leben eines Menschen. „Die glückliche, unwiederbringliche Zeit der Kindheit!“, ruft Tolstois Erzähler aus. „Was kann man anderes tun als die Erinnerungen an sie zu lieben und sich ihnen mit Freuden hinzugeben? Diese Erinnerungen erfrischen und erheben meine Seele und dienen mir als Quelle höchsten Genusses“. Diesem Lob der Kindheit und der Erinnerungen an sie steht bei Gorki der generelle Zweifel an Sinn und Wert solcher Erinnerungen gegenüber: „Wenn ich mich all dieser bleiern lastenden Scheußlichkeiten des kulturlosen russischen Lebens erinnere, frage ich mich bisweilen: Lohnt es sich denn, davon zu sprechen?“ Dass der Autor die Frage dennoch nachdrücklich bejaht, hat nichts mit einem erhebenden Genuss zu tun, den diese Erinnerungen bereiten, sie sind vielmehr als eine Qual zu verstehen, die der Autor auf sich nehmen muss, um seinen Kampfgeist gegen die „bleiern lastenden Scheußlichkeiten“ des russischen Lebens zu stärken. Der Ausdruck „bleierne Scheußlichkeiten“ (svincovye merzosti) ist zum geflügelten Wort in der russischen Publizistik geworden, er steht für Kulturlosigkeit, Rohheit, Gewalt, Rechtlosigkeit, allgemein für Unmenschlichkeit in der Gesellschaft. Am Ende dieser Überlegungen (in Kapitel XII) steht zwar die „unerschütterliche Hoffnung“, dass der russische Mensch dennoch „in seiner Seele gesund und jung genug“ sei, um diese Zustände zu überwinden, aber das bleibt der Wunschtraum von einer „Wiedergeburt“ in der Zukunft, weit entfernt nicht nur von der Zeit der Handlung, sondern auch von der Gegenwart des Schreibenden.
Die Kindheit Aleksej Peschkows, des künftigen Gorki, im Alter von 3 bis 11 Jahren (1871-1879) zeigt die „bleiernen Scheußlichkeiten“ der russischen Wirklichkeit im Ablauf einer unglücklichen Kindheit, die zudem durch Krankheiten und Unglücksfälle belastet ist, den frühen Tod von Vater und Mutter und den sozialen Abstieg des Großvaters, eines angesehenen Färbermeisters, der zum Bettler wird. Das Haus des Großvaters Kaschirin wird zum Schauplatz gewalttätiger Auseinandersetzungen um das Erbe, eine „Feindschaft aller gegen alle“ bestimmt die Atmosphäre. Zugleich ist das Familiendrama der Kaschirins aber auch ein musterhaftes Abbild des Lebens in einer russischen Provinzstadt und damit auch des Lebens der Mehrheit der Bevölkerung des Zarenreichs. In den ersten Reaktionen auf das Erscheinen der „Kindheit“ wurde deshalb die Frage erörtert, welche von den beiden erklärten Aufgaben das Buch vorrangig erfülle: die Autobiograpie des Schriftstellers oder die Darstellung des gesellschaftlichen Lebens, die soziale Dokumentation. Gorki selbst sah seine Aufgabe, wenn man den direkten Äußerungen des Erzählers folgt, zuerst in der sozialen Dokumentation. Im Zusammenhang mit der im Haus der Kaschirins herrschenden Grausamkeit, darunter die brutalen Prügelstrafen, die der Großvater seinem Enkel Aleksej zuteil werden lässt, erörtert der Erzähler eine mögliche Reaktion des Lesers, die er gerade nicht beabsichtigt, nämlich die des Mitleids mit den Opfern, besonders mit dem Protagonisten und erklärt dazu: „Aber die Wahrheit ist höher als das Mitleid, und ich erzähle schließlich nicht von mir, sondern von jenem engen, stickigen Kreis beängstigender Eindrücke, in denen der einfache russische Mensch lebte und bis auf den heutigen Tag lebt“. Zugleich mit der Pflicht des Chronisten kommt hier auch die aus vielen Äußerungen Gorkis bekannte Abneigung des Schriftstellers zum Ausdruck, sein persönliches Leben zum Gegenstand des literarischen Schaffens zu machen.
In der Tat ist die Beziehung des Autors zu seinem Helden, dem früheren Ich, in „Meine Kindheit“ emotional wesentlich zurückhaltender, als in dem gleichnamigen Werk Tolstois, wo der Erzähler seinen Protagonisten mit viel Liebe und Mitgefühl begleitet. Deshalb erscheint es nicht ganz abwegig, dass einige Kritiker sogar von einer zweitrangigen Rolle des Helden in „Meine Kindheit“ sprachen. Der Schriftsteller Michail Prischwin, ein Freund Gorkis und guter Kenner seiner Werke, äußerte in einem Brief an den Autor (4.(17.)06.1915) die Ansicht, die Hauptfigur sei eigentlich gar nicht vorhanden: „’Meine Kindheit’ ist ein sehr gutes Buch, aber es ist nichtsdestoweniger nur die Hälfte von dem, was nötig ist; es fehlt in ihm der kleine Peschkow“. Im gegebenen Kontext erscheint diese Meinung nicht unbegründet. Dennoch bewahrheitet sie sich nicht, wenn man sie als Ausgangspunkt einer Analyse des Werks nimmt. Der autobiographische Held ist ständig präsent, er wird jedoch in verschiedenen Erscheinungen seines Charakters und seiner Rolle vorgestellt. Zusammen bilden diese Komponenten des Helden eine komplexe, wenn auch nicht harmonische Persönlichkeit, den „kleinen Peschkow“, in dem viele Ansätze des reifen Gorki schlummern. Gemeinsam bilden sie einen vielschichtigen Kommentar zu Gorkis Persönlichkeit und seinem Werk. Dies soll im folgenden mit der Aufteilung in vier „Gesichter“ des Helden verdeutlicht werden: das unglückliche Kind, der Gottsucher, der Unruhestifter, der künftige Schriftsteller.
1. Das unglückliche Kind
Zuerst ins Auge fällt uns das Gesicht, das der Autor eigentlich nicht zeigen will, weil es nichts anderes als Mitleid hervorzurufen scheint: das unglückliche Kind, die arme Waise. Mitleid, die christliche Barmherzigkeit, ist im System der Ansichten des Autors allenfalls als Übergangsstadium zu dem aktiven Widerstand gegen das Böse in der Welt vorgesehen. Dennoch fällt es dem Leser schwer, dem Autor in diesem Punkt zu folgen. Zu schwer wiegen die Eindrücke nicht nur von den „bleiernen Scheußlichkeiten“ des russischen Lebens, sondern auch von dem persönlichen Schicksal dieses Kindes. Die ersten Szenen des Buches, der dreijährige Junge in dem halbdunklen Zimmer mit dem auf dem Boden liegenden Leichnam des Vaters, die Mutter halb wahnsinnig vor Schmerz, dann die Geburt des zweiten Kindes in dieser gespenstischen Umgebung, schließlich die Gestalt des kleinen Aleksej auf einem vom Regen aufgeweichten Hügel am Grab des Vaters, wo in der offenen Grube Frösche sich zu retten versuchen – alles das sind Bilder des Todes, der Hoffnungslosigkeit und der Einsamkeit. Am Ende der „Kindheit“ steht der Elfjährige „unermesslich lange“ am Bett der toten Mutter, die ihn im letzten Moment ihres Lebens noch einmal von sich gestoßen hat.
Tod und Einsamkeit, oft im Bild der Verwaisung, sind Leitmotive in „Meine Kindheit“. Aleksej ist umgeben von Todesfällen, die wie ein Fluch über der Familie zu lasten scheinen. Außer Vater und Mutter betrifft das drei Brüder, die im Kindesalter sterben. Ein weiteres Kind hat die Mutter in die Obhut fremder Menschen gegeben. Von den fünf Kindern, die sie geboren hat, ist ihr allein Aleksej geblieben. Dabei ist sie unfähig ihn zu lieben, weil sie dem Kind, das den Vater möglicherweise mit Cholera angesteckt hat, die Schuld an ihrem unglücklichen Schicksal zuschreibt. „Deine Mutter hat dich verlassen“, sagt der Großvater dem Enkel und drückt damit den Grimm auf seine missratenen Kinder, die Tochter und zwei Söhne, aus. Die Verwaisung des Kindes hat schon vor dem Tod der Mutter begonnen. Das Waisentum in Verbindung mit der Verarmung scheint darüber hinaus ein Zeichen des Unglücks der ganzen Sippe der Kaschirins zu sein. Der Großvater bezeichnet sich selbst als eine Waise, den „Sohn einer Bettlerin“, über den Vater der Großmutter ist nichts bekannt, auch sie lebte mit ihrer Mutter „um Christi willen“, von Almosen. Aleksejs Vater Maksim verlor schon mit neun Jahren, also früher als der Sohn, beide Eltern.
Waisentum (sirotstvo) begegnet in „Meine Kindheit“ auch als Metapher für einen Zustand der Einsamkeit und Verlassenheit. Die Mutter antwortet auf die Vorwürfe der Babuschka („du hast kein Mitleid mit der Waise“): „Ich bin selbst mein ganzes Leben eine Waise!“ Ein solches Gefühl der Verlorenheit erleben auch Personen im Umkreis der Familie, unter ihnen der wunderliche Chemiker mit dem Spitznamen „Gute Sache“ (Khoroshee delo), ein einsamer Vertreter der Intelligenzija, der sich fremd fühlt im Milieu des „Volkes“.
Der autobiographische Held selbst spricht nicht von seinem Waisentum, aber das bedeutet nicht, dass ihm die Leiden eines unglücklichen, verlassenen Kindes fremd sind. Gorki beschreibt diese Leiden nicht in Form einer psychologischen Analyse von seiten des Erzählers, sondern in Metaphern und Vergleichen, wie sie in der Vorstellungswelt des Kindes entstanden sein könnten. „Mir war, als wachse in meinem Kopf oder in meinem Herzen eine Art Geschwulst. Alles, was ich in diesem Hause gesehen hatte, zog an meinem Inneren vorbei, schwer wie ein Zug von Lastschlitten im Winter, alles zermalmend, vernichtend“. An anderer Stelle kommt es Aleksej so vor, als ob „flüssiges Blei“ in seine Brust ströme und die Rippen auseinendertriebe. Das Metall hat hier wie in den „bleiernen Scheußlichkeiten“ die Bedeutung des Schweren, Bedrückenden, das auch dem Begriff der „skuka“, der russischen Langeweile, eigen ist. Die skuka erscheint in verschiedenster Gestalt, auch in den Bildern und Gerüchen der Stadt. Besonders zuwider ist dem Jungen die dumpfe, stickige Wärme, die von der Straße zu seinem Fenster emporsteigt, „vermischt mit dem fettigen Duft von Zwiebel- und Mohrrübenkuchen“.
In solchen Bildern ist der autobiographische Held – entgegen dem Eindruck Prischwins – ganz gegenwärtig, er ist der Empfänger der Eindrücke aus der Außenwelt und zugleich das zentrale Bewusstsein, das auf diese Eindrücke reagiert, sie bewertet, auch wenn er sie mehr erleidet als versteht. Obwohl das Verhältnis des Erzählers zu seinem Helden bei weitem nicht so intim und liebevoll gestaltet ist wie in Tolstojs „Kindheit“, bietet der kleine Peschkow dem Leser doch reichlich Gelegenheit, über das Innenleben des Helden nachzudenken und Mitgefühl für ihn zu entwickeln, zuweilen mehr davon, als es dem Ideologen Gorki lieb war.
Der Komplex des Waisentums und der Einsamkeit in „Meine Kindheit“ verweist auf ein grundlegendes Thema in Gorkis Werk. Auch in den folgenden beiden Teilen der Autobiographie „Unter fremden Menschen“ und „Meine Universitäten“ bleibt der Held im Grunde mit sich allein, am deutlichsten in seiner Zeit als Hausangestellter und heimlicher Leser, aber auch in den sozialen und politischen Netzwerken seiner „Universitäten“. Er ist ein Fremder unter den Kameraden in der Backstube Semjonows in Kasan ebenso wie unter den Agitatoren der revolutionären Bewegung im Dorf Krasnowidowo. „Meine Kindheit“ ist in der Abgeschiedenheit des Exils in Italien entstanden, und die bald darauf folgende Rückkehr nach Russland versetzte Gorki wiederum in einen Zustand der Einsamkeit und Fremdheit im eigenen Land, wo der Beginn des Weltkriegs eine Welle des Chauvinismus ausgelöst hatte.
In den 20er Jahren begegnet das Thema der Einsamkeit in Gorkis Briefen und Werken auch als ein Merkmal des Menschen als Gattungswesen, im Bild der Einsamkeit des Menschen im grenzenlosen Kosmos.
2. Aleksej als Gottsucher
Das siebente Kapitel der „Kindheit“ ist der Gegenüberstellung zweier Götter gewidmet, der Gott des Großvaters streitet mit dem Gott der Großmutter. Über diese Zeit (Aleksej ist nicht älter als sieben Jahre, genaue Jahreszahlen fehlen) schreibt der Erzähler: „In jenen Tagen waren die Gedanken an Gott, die Gefühle für ihn die wichtigste Nahrung meiner Seele, das Schönste im Leben, während mich alle anderen Eindrücke durch ihre Grausamkeit und Hässlichkeit nur kränkten und Widerwillen und Zorn in mir hervorriefen“. Gorki, ein entschiedener Bekenner des Atheismus, erinnert sich an den Gottsucher, der er im Kindesalter war. Dabei ist der religiöse, theologische Sinn dieser Suche untrennbar verbunden mit moralischen und ästhetischen Werten: das höchste Wesen zieht den Jungen nicht durch seine Größe und Allmacht an, sondern durch seine Güte und Schönheit, den klaren Gegensatz zu der in seiner Umwelt herrschenden Grausamkeit und Hässlichkeit. Dies ist zugleich eine Entscheidung für den Gott der Babuschka Akulina. „Die kindliche Entscheidung zwischen den Göttern spaltete meine Seele“, erinnert sich der Erzähler, aber eigentlich gibt es keine Alternative . Der Gott des Großvaters ruft in dem Kind Angst und Abneigung hervor: „Er liebte niemanden, verfolgte alles mit strengem Blick, suchte und sah im Menschen vor allem das Schlechte, Böse, Sündige. Es war klar, dass er jedem misstraute, immerfort Buße von ihm erwartete und auch gern strafte“. Als Herr im Haus der Kaschirins verkörpert der Großvater diesen Gott in Vollendung. In seiner Eigenschaft als Erzieher führt er den Enkel zuerst in die Zeremonie der Prügelstrafe ein, wobei er besonderen Wert auf die Qualität der Ruten legt. Ein Leitmotiv in „Meine Kindheit“ ist sein Ausruf „Ach, i-ihr!“, in dem seine ganze Verachtung für seine Frau und die missratenen Kinder zum Ausdruck kommt. In der Eigenschaft des Gläubigen bewahrt er den genauen Wortlaut der heiligen Texte, das Morgengebet vor den Ikonen verrichtet er, die „Hände an der Hosennaht, wie ein Soldat“. Später, bei Besuchen in Synagogen, hat Gorki erkannt, dass der Großvater wie ein Jude betete.
Der Gott der Babuschka, der wichtigsten Bezugsperson Aleksejs, stellt das vollkommene Gegenteil des strafenden Gottes dar, den der Großvater verehrt. Er war „das Beste, Lichteste von allem, was mich umgab – Großmutters Gott, der allem Lebendigen ein so lieber Freund war“. Er ist nicht allmächtig, obgleich auch die Großmuter ihm allein das Recht, die Menschen zu richten und zu bestrafen zuerkennt. Aber näher ist er ihr als liebevoller, sogar schwacher Gott. Er schaut vom Himmel herab auf seine Geschöpfe und bricht manchmal in Tränen aus: „Ach Menschen, ihr meine Menschen, meine lieben Menschen! Wie leid ihr mir tut!“ Vor den Ikonen steht die Großmutter nicht wie ein Soldat, sondern eher wie eine gute Freundin Gottes, redet mit ihm auf Augenhöhe und erlaubt sich, ihm Ratschläge zu geben. Im Gebet hält sie sich nicht an den kanonischen Wortlaut, jeden Tag denkt sie sich neue Lobgesänge für die Gottesmutter aus und erzürnt damit ihren Mann: „Wie oft hab’ ich’s deinem dicken Schädel eingetrichtert, wie man beten soll, und du bleibst doch immer wieder bei deinem Gebrummel, du Ketzerin!“
Im System der Konfessionen ist es in der Tat schwer, einen Platz für die Babuschka zu finden. Ihr Glaube erscheint als ein eigentümlicher Pantheismus, sogar mit den Tieren spricht sie über Gott. Aleksej fühlt, dass sich dem Gott der Babuschka „alles gehorsam und willig fügte: die Menschen, die Hunde, die Fliegen, die Gräser; zu allem auf Erden war er gleich gütig, allem gleich nahe“. Die Religion der Großmutter enthält außerdem auch heidnische Elemente, als Tänzerin bezaubert sie die Zuschauer durch ein fast magisches Talent.
Dennoch entspricht die geliebte Babuschka, „der Freund für mein ganzes Leben“, nicht dem bekannten Ideal des reifen Gorki, es fehlt ihr die „Energie“, das Willensprinzip, das unerlässlich ist nicht nur für den „stolzen“ Menschen, sondern für jedes Wesen, das des Namens „Mensch“ würdig ist. Der kleine Aleksej bemerkt dieses Defizit, er ist nicht bereit ihr zuzustimmen, wenn sie geduldig die brutalen Züchtigungen aushält, die ihr Mann ihr zufügt. Er missbilligt auch ihre passive Haltung, wenn es um die Konflikte in der Familie geht, und ihre talentiert ausgeschmückten Rechtfertigungen dieser Haltung: „Das, Ljonja, sind schwierige Sachen wie Spitzen, geklöppelt von einem blinden Weib – wie soll sich unsereins in dem Muster zurechtfinden?“ Wie eine Metapher dieser trägen, willenlosen Einstellung zum Leben wirkt ihre körperliche Erscheinung, in den Augen des Kindes eine mächtige, aber weiche und formlose Masse. Mehr als eine kleine Schwäche ist ihre zunehmende Abhängigkeit von den Tröstungen des Alkohols. Die Großmutter ist eine Trinkerin, und bewegt sich dabei oft an der Grenze, wo der Verlust der persönlichen Würde droht. Aleksejs Mutter schämt sich deswegen.
Im Vergleich mit dieser Seite seiner Frau erscheint der Großvater in einer günstigeren Beleuchtung als in seinem gewöhnlichen Verhalten. Er trinkt nicht, und das ist in dieser Umgebung und der fortschreitenden Verarmung ein Beweis für eine erstaunliche Willenskraft. Er betrügt sich auch nicht selbst, wenn es um die moralische Verkommenheit seiner beiden Söhne geht, die ihre Ehefrauen nicht nur misshandelt, sondern zu Tode gequält haben. Er bemüht sich, sie zur Vernunft zu bringen, ist dafür aber einfach zu schwach. In seinem früheren Leben hat es ihm nicht an an Energie und Charakterstärke gefehlt. Sein Gehorsam fordernder und strafender Gott hat ihm, dem ehemaligen Leibeigenen und Wolgaschlepper, den Aufstieg zu einem geachteten Handwerksmeister ermöglicht. Der wirtschaftliche Misserfolg war nicht seine Schuld, er hing mit der Industrialisierung der Textilproduktion zusammen, die das Färbergewerbe überflüssig gemacht hatte. Aleksej erkennt die Tugenden seines grausamen Erziehers und lernt mit der Zeit, dass der Großvater eigentlich nicht böse, sondern nur unglücklich ist. Die Beziehung zu seinem Großvater ist möglicherweise eine Quelle für den Hang Gorkis zu autoritären Vater- und Führerfiguren, deren Platz zeitweise Tolstoj, Lenin und Stalin einnahmen. Sein Ideal der Liebe und der Menschlichkeit blieb dennoch sein ganzes Leben die Babuschka. „Wenn sie getrunken hatte, war sie noch anziehender“, erinnert sich der Erzähler, „ihre dunklen Augen lächelten und verströmten jedem gegenüber ein herzerwärmendes Licht…“
3. Der Unruhestifter (ozorník) und künftige Revolutionär
Nachdem der Großvater seinen Enkel zum ersten Mal systematisch verprügelt hat („bis ich bewusstlos wurde“!), muss Aleksej einige Zeit im Bett zubringen. „Diese Tage waren für mich große Tage meines Lebens“, erinnert sich der Erzähler. „Seit jenen Tagen begann ich, die Menschen mit unruhiger Aufmerksamkeit zu beobachten, und mein Herz wurde, als hätte man die Haut von ihm abgezogen, ungemein empfindlich für jede Kränkung und jeden Schmerz, den eigenen wie den fremden“. Es könnte so scheinen, als ob das Waisenkind aus dieser Erfahrung den Schluss zieht, den Gefahren, die ihn in diesem fremden Haus drohen, künftig mit mehr Vorsicht und Rückzug aus dem Weg zu gehen. Aber Aleksej hat keineswegs die Absicht, Zusammenstöße mit den Autoritäten seiner Umgebung zu vermeiden, er ist bereit sich zu widersetzen, Übeltäter mit seinen schwachen Kräften zu bestrafen. Die ritterliche Natur des Jungen kommt darin zum Ausdruck, das seine Vergeltungsaktionen sich nicht auf die Kränkungen beziehen, die er selbst erlitten hat, sondern auf Gemeinheiten gegen andere, besonders gegen Frauen. Den Heiligenkalender des Großvaters zerstört er nicht deshalb, weil der ihn weiter aus nichtigen Anlässen verprügelt, sondern wegen einer brutalen Misshandlung der Großmutter. Der dramatischste Auftritt dieser Art, eine Messerattacke Aleksejs auf den Stiefvater gegen Ende der „Kindheit“, ist durch das viehische Verhalten dieses „Studenten“ gegenüber Aleksejs Mutter veranlasst. Er tritt der am Boden liegenden schwangeren Frau mit der Spitze des Stiefels in die Brust.
Aleksej gilt im Hause als „ozorník“, und dieses im Russischen vieldeutige Wort entspricht hier genau der Bedeutung, in der es Gorki vorzugsweise verwendet: es bezeichnet den Rächer der Erniedrigten und Beleidigten, einen Unruhestifter, der mit gezielten Verstößen gegen die Ordnung und meist mit Witz Ungerechtigkeiten ahndet. In Gorkis Erzählung „Ozornik“ (1897) ist es ein Setzer in der Druckerei einer Zeitung, der dem Chefredakteur despektierliche Bemerkungen in seinen Artikel einfügt. Den Übersetzern ins Deutsche hat dieses Wort Schwierigkeiten bereitet. In der Bibliographie „Maxim Gorki in Deutschland“ (1968) sind drei deutsche Titel dieser Erzählung angeführt, von denen keiner das Wesen des Typs trifft: „Der Tunichtgut“, „Der Halunke“, „Der Flegel“. In Wörterbüchern findet man weitere deutsche Äquivalente wie Frechdachs, Wildfang, Raufbold und Skandalmacher. In Gorkis bekannten Erinnerungen an Tolstoj kennzeichnet der Autor den Literaturklassiker als einen „ozornik“, der seine Besucher mit sehr persönlichen Fragen in Verlegenheit bringt. Ihn deshalb als „Frechdachs“ zu bezeichnen, wäre gänzlich unpassend. (Näheres zu den „ozorniki“ bei Gorki im Eintrag „Unruhestifter“ auf diesem Blog, Links am Ende).
Im Hause der Kaschirins und in der Stadt gibt es auch eine andere Sorte von ozorniki, die sich einfach durch rüpelhaftes Verhalten auszeichnen: sie rächen sich bei ihren Nachbarn für vermeintliche Beleidigungen, indem sie Katzen die Schwänze abhacken oder Kerosin in die Fässer mit Sauerkohl schütten. Sie verfolgen Bettler, Behinderte und andere Schwache, die sich nicht wehren können. Bei Aleksej rufen solche Verhaltensweisen Abscheu hervor, auch hier greift er mit Strafaktionen ein. Die Wirtin der Kneipe im Untergeschoss, die in unflätiger Weise die Großmutter beschimpft hat, sperrt er im Keller ein und wirft den Schlüssel aufs Dach. In der Gestalt der Kneipenwirtin, einer dicken Frau „mit Doppelkinn und ohne Augen“ ist die ganze Klasse der Kleinbürger und ihres kulturfernen Lebens verkörpert. In diesem Sinne erhält das „ozorstvo“, die Störung der Ordnung, eine politische Färbung, es zeugt von der Mentalität des künftigen Revolutionärs. Das bezieht sich in noch stärkerem Maße auf das Verhalten des Jungen in der Schule, wo er sich bald die Reputation des ozornik erwirbt. Seine Streiche richten sich hier gegen den Lehrer und den Priester, Vertreter des Staates und der Kirche. Dabei bekommt die Kirche, die den jungen Peschkow später wegen seines Selbstmordversuchs und ungebührlichen Verhaltens vor der Untersuchungskommission exkommuniziert hat, eine überraschend positive Bewertung in Gestalt eines Bischofs, der die Schule inspiziert. Der Bischof Khrisanf, ein liebenswürdiger Herr, plaudert mit Aleksej über die Ursachen seines respektlosen Verhaltens und solidarisiert sich am Ende sogar mit ihm: „Ich verstehe doch, warum du Unfug treibst!“ Warum genau, lässt der Bischof offen, aber der Leser der „Kindheit“ braucht diese Erklärung nicht.
Das Thema der ozorniki zieht sich durch das ganze Werk Gorkis und erscheint in dem letzten Roman „Das Leben des klim Samgin“ als ein Leitmotiv: der Held Klim Samgin, ein halbherziger Verbündeter der Revolutionäre, findet seine Abneigung gegen sie treffend formuliert in dem Ruf einer Frau, die ihre Kinder zurechtweist: „Warum treibt ihr Unfug?“ (Zachem vy ozornichaete?)
4. Der künftige Schriftsteller
„Alles war schrecklich interessant“, erinnert sich der Erzähler, „alles hielt mich in steter Spannung und durchdrang mein Herz mit einer leisen, unaufhörlichen Trauer“. Aleksej ist als Bewohner des Hauses und Betroffener von den Familiendramen der Kaschirins mit allen Fasern seines Herzens ein Teil dieser Welt. Aber gleichzeitig befindet er sich als Chronist und Zeuge der Vorgänge gleichsam außerhalb des Geschehens. Davon zeugt das Schlüsselwort „interessant“. Das, was im Hause geschieht, kann Freude oder Entsetzen auslösen, in hellen oder finsteren Farben erscheinen - in jedem Falle ist es „interessant“. Als Aleksej mit Angst die dramatischen Vorgänge beim Brand eines Lagerhauses und gleichzeitig mit Bewunderung den mutigen Einsatz der Großmutter beobachtet, behält er doch die Haltung des Beobachters: „Sie (die Babuschka) war für mich genauso interessant wie der Brand…“ In den beiden Übersetzungen, die ich für diesen Eintrag hinzugezogen habe (Titel am Schluss), ist das Wort „interessant“ ersetzt: „Sie war genau so fesselnd wie der Brand…“, „Ihr Anblick war für mich ebenso anziehend wie der des Brandes…“. Die Übersetzer fanden wahrscheinlich „interessant“ zu journalistisch, irgendwie oberflächlich. Das ist aber bei Gorki nicht der Fall. Seine Gestalten können zuweilen sogar „interessant“ (interesno) sterben. Die Neugier des Künstlers, tiefer gehend als die Sensationslust des Journalisten und des Zeitungslesers, erscheint schon in der Kindheit bestimmend für das Lebensgefühl des Schriftstellers. Während die Babuschka „Wie schön ist das alles!“ sagt, wenn sie von Gottes Welt spricht, hat der Enkel die Formel „Wie interessant ist das alles!“ zur Devise gemacht.
Gleichzeitig mit dem Interesse am Leben entwickelt sich bei dem Jungen das Interesse am literarischen Handwerk, am Wort und den Büchern. In der Rolle der Vorbilder und Erzieher erscheinen auch hier die Großeltern, wieder im Gegensatz zueinander.
Ein wesentlicher Zug der Gestalt der Babuschka ist die Musik ihrer Rede, nahe der rhythmisierten Sprache in den Liedern und Märchen der Volksdichtung, die in vielen, teils umfangreichen Zitaten in den Text eingefügt sind: „Sie brachte die Worte in einem eigentümlichen, singenden Tonfall heraus, und sie blieben leicht im Gedächtnis haften. Wie Blumen waren sie, so freundlich, farbig und voller Saft“. Das Lernen des kirchenslavischen Alphabets, das der Großvater mit der gewöhnlichen Strenge überwacht, weckt bei dem Jungen wegen der Schwierigkeiten der Laute und Zeichen eher Abneigung, aber dafür entwickelt er eine Lust zum Auswendiglernen kirchlicher Texte, wobei er auf Wortgenauigkeit achtet. Es bereitet ihm eine diebische Freude, den Großvater zu korrigieren, wenn der einmal ein Wort im Gebet vergisst, was selten vorkommt.
Als voller Misserfolg erweist sich der Versuch der Mutter, die eine gute Schulbildung genossen hat, den Sohn für moderne russische Poesie zu begeistern. Auch hier muss zuerst einmal ein Alphabet gelernt werden, die „bürgerliche Schrift“, die Buchstaben bleiben Aleksej genauso fremd wie die Worte im Gedicht und er fängt an – auch hier ein ozornik – ihren Klang und ihren Sinn bewusst zu verfälschen und lächerlich zu machen. Die Mutter reagiert wütend auf diese Frechheit und bricht den Unterricht ab. Die Episode bringt nicht nur wieder einmal die gestörte Beziehung zwischen Mutter und Sohn zu Vorschein, sondern auch die sonderbaren Bedingungen der „Literaturschule“ Gorkis. Die moderne Literatur war für ein drittes literarisches System, dem die mündliche Volksdichtung und die Kirchenliteratur vorausgingen. Das erschwerte ihm lange die Ausbildung eines homogenen eigenen Stils, wobei die Zeitungssprache und viele Fremdwörter weitere Anlässe zu „unpassenden“ Kombinationen lieferten. Zudem fehlte dem Autodiakten die regulierende Wirkung einer höheren Schule.
Der Held der „Kindheit“ durchläuft auch eine eigentümliche Schule des Erzählens, lernt verschiedene Erzählhaltungen gegenüber der Wirklichkeit kennen. Auch der strenge Großvater fängt an zu erzählen, aber im Unterschied zu der märchenhaften Phantastik der Babuschka vermittelt er dem Enkel Erinnerungen an Begegnungen mit französischen Offizieren im Krieg gegen Napoleon 1812 und an sein schweres Leben unter den Wolgaschleppern, beides mit einem erstaunlichen Sinn für realistische Details und Stimmungen. In die Richtung der Wirklichkeitstreue weisen auch die Bemerkungen von „Gute Sache“, dem (neben der Mutter) einzigen literarisch Gebildeten im Haus. Er hört Aleksej, der gern von seinen Erlebnissen erzählt, aufmerksam zu, aber oft unterbricht er den allzu weitschweifigen Redestrom des Jungen: „Genug, mehr ist nicht nötig! Du hast schon alles gesagt, was nötig ist, mein Freund…“. Manchmal fällt das Urteil des Zuhörers noch strenger aus: „Du lügst, mein Bester!“ Die Rede ist von der Neigung des Jungen, seiner Phantasie die Zügel schießen zu lassen, etwas „Ausgedachtes“ als wirklich Geschehenes zu präsentieren. Hier beginnt das widerspruchsvolle Thema der wunschgeleiteten „Verschönerung“ der Wirklichkeit, des „erhebenden Betrugs“ in Gorkis Werk, das im sozialistischen Realismus zu dem primitiven Dogma der „lakirovka“ wird. Letzterem ist Gorki im künstlerischen Werk aber nie gefolgt, selbst in der „Mutter“ nicht.
In „Meine Kindheit“ erfährt der Held zum ersten Mal den Reiz der künstlerischen Prosa. Bezeichnenderweise geschieht das im Rahmen der Skandalgeschichte um einen gestohlenen Rubel, für den Aleksej einige Bücher kauft (gleichsam verbotene Früchte!), darunter die Märchen Hans-Christian Andersens. Ihn beeindruckt der Anfang des Märchens „Die Nachtigall“: „In China sind alle Bewohner Chinesen, sogar der Kaiser selbst ist ein Chinese“. „Ich erinnere mich, welch angenehmes Staunen dieser Satz durch seine einfache, heiter lächelnde Musik und noch durch etwas anderes, erstaunlich Schönes in mir hervorrief“. Ihre Fortsetzung fand die Literaturschule im zweiten Teil der Autobiographie „Unter fremden Menschen“, wo die „heiligen Bücher“ der weltlichen Literatur einen zentralen Platz im Leben des Heranwachsenden einnehmen.
„Eins der ewigen russischen Bücher“
Die Ansicht von der seltsamen Abwesenheit des Haupthelden in „Meine Kindheit“, die Michail Prischwin und andere geäußert haben, hat bei einer eingehenden Analyse also keinen Bestand. Aleksej ist die zentrale Figur der Erzählung, die verschiedene Seiten ihres Wesens zur Geltung bringt. Sie sind Komponenten einer ganzheitlichen, wenn auch keineswegs harmonischen Persönlichkeit. Aleksej Peschkow – das ist gleichzeitig ein unglückliches Kind und ein Unruhestifter (ozornik), ein Gottsucher und ein Revolutionär, und in jedem von ihnen ein werdender Schriftsteller. Die letzte Komponente seines Wesens, die sich in seiner Position gleichsam außerhalb der erzählten Welt ausdrückt, kann in der Tat den Eindruck hervorrufen, dass der historische kleine Peschkow „selbst“ gar nicht vorkommt, dass er eine Schöpfung aus der Erinnerung des reifen Gorki ist. Aber diese Annahme ist zum einen ein Genremerkmal, das mehr oder weniger jedes autobiographische Schreiben betrifft, zum anderen ändert eine solche Sicht der Dinge, bezogen auf „Meine Kindheit“, nichts an der Lebendigkeit und Unmittelbakeit des vom Autor „erfundenen“ eigenen Ich. In seiner Komplexität stellt diese Gestalt einen vielschichtigen Kommentar zu dem gesamten Schaffen und dem Lebenswegs des Schriftstellers dar.
Als Kunstwerk gehört „Meine Kindheit“ zum Besten, was Gorki geschrieben hat. Die autobiographische Trilogie hätte ihm 1928 auch beinahe den Nobelpreis gebracht, wenn er nicht gleichzeitig zum Verbündeten Stalins geworden wäre. Der zuständige Experte des Komitees vertrat die Ansicht, dass sich Gorki mit seiner autobiographischen Trilogie „einen erstrangigen Platz in der russischen Literatur“ gesichert habe. Diese Ansicht spiegelte sich mit erstaunlicher Einmütigkeit schon in den ersten Reaktionen auf das Erscheinen des Buchs, eingeschlossen die Urteile namhafter Schriftsteller, die sich zuvor kritisch bis radikal ablehnend zu Gorkis künstlerischer Tätigkeit verhalten hatten. Eine beeindruckende Besonderheit des Werkes sahen viele Kritiker in dem Kontrast zwischen der dargestellten Welt, den „Scheußlichkeiten des russischen Lebens“ einerseits,und dem im ganzen vorherrschenden Ton der Lebensfreude andererseits.
Fjodor Sologub (in „Tagebücher von Schriftstellern“, 1914, Nr. 1) sprach von dem „ununterbrochenen Sadismus“, der in dieser Welt herrscht, und fügt hinzu: „Aber das Gewebe der Erzählung ist von solcher Qualität, dass man ihm willig folgt. Ständig wartet man darauf, dass sich das Licht der schöpferischen Kunst in die dunklen, engen Seelen dieser Menschen ergießt, und wir werden verstehen, warum das geschehen muss“. – Kornej Tschukowskij, ein lebenslanger, immer kritischer Begleiter Gorkis, sprach in seiner Rezension („Rech’“, 1915, Nr. 182) von einer „schmutzigen Pädagogik“ Gorkis in „Meine Kindheit“, beschrieb die Methode dann jedoch wie eine Hymne an die Lebensfreude: „Aber darin besteht das Wunder“, dass von dieser Erzählung über nichts anderes als schreckliche Dinge „gleichsam ein helles Licht ausgeht, sie ist eine Verkörperung des ‚Freuet euch’, und obwohl es darin so viele Flüche und Verletzungen gibt, ist das doch das freudigste, heiterste, glücklichste Buch von allen in den letzten Jahrzehnten./…/ Dies ist das Beste von allem, was er geschaffen hat“.
Die am meisten überraschenden Urteile über „Detstvo“ kamen von namhaften Schriftstellern, die zuvor als geschworene Feinde Gorkis aufgetreten waren. Die Dichterin Zinaida Gippius, die ihn gewöhnlich als einen groben Klotz ohne literarische Bildung beschrieben hatte, nannte „Meine Kindheit“ in einem Artikel (1916) „das erstaunlichste Buch“ von allen, die sie in letzter Zeit gelesen habe, und charakterisierte den Autor als einen „großen Schriftsteller und großen Menschen“ (zitiert nach N.N. Primochkina, Gorki und die Schriftsteller der russischen Emigration, 2003, russ.). Ihr Mann, der auch in Deutschland bekannte Symbolist, Dichter und Verfasser historischer Romane Dmitri Mereschkowski stellte in seinem umfangreichen Artikel „Das nicht heilige Russland (Die Religion Gorkis)“ („Russkoe slovo“, 11.09.1916) „Meine Kindheit“ als das Dokument eines historischen Ereignisses vor, der Begegnung des Gottsuchertums in der zeitgenössischen Intelligenz mit dem Verlangen des einfachen Volkes nach einer Erneuerung des Glaubens. Gorki hat nach Mereschkowskijs Ansicht den Begriff des „heiligen Russland“, den besonders Dostojewskij und Tolstoj den Russen ins Bewußtsein geflanzt hatten, außer Kraft gesetzt und ihnen stattdessen das „sündige Russland“ präsentiert, dem er jedoch eine Wiedergeburt in einem lichten und menschlichen Leben voraussagte. „Und mit diesem Glauben fördert er, der ‚Gottlose’, Gottes Sache“, stellt der Verfasser am Schluss seiner Lobrede auf den Autor der „Kindheit“ fest. Darin sei er „uns nahe – näher als Tolstoj und Dostojewski“.
Es steht außer Frage, dass diese Konzeption weit mehr die Lieblingsideen dieses Vertreters des religiös gestimmten russischen Symbolismus widerspiegelte als die Ansichten des Schriftstellers und Revolutionärs Gorki. Nichtsdestoweniger bezeugt diese Reaktion die gewaltige ästhetische Wirkung, die das Werk auf die Geister der Zeitgenossen ausübte. „Meine Kindheit“ ist nach den Worten Mereschkowskijs sowohl im künstlerischen wie im religiösen Sinne „eines des besten, eines des ewigen russischen Bücher“.
Originaltext „Detstvo“ nach der akademischen Ausgabe: M. Gor’kij, Polnoe sobranie socinenij. Chudozestvennye proizvedenija v 25 tomach. T. 15, M., 1972, S. 7-210.
Eigene Übersetzung der Zitate unter Heranziehung zweier Ausgaben in deutscher Übersetzung:
Maxim Gorki, Meine Kindheit, Verlag der sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland (SWA), Berlin 1946. (Der Übersetzer ist nicht genannt, es dürfte sich um eine ältere Ausgabe handeln. Interessant ist das Werk vor allem deshalb, weil es in dieser Gestalt zu den ersten Werken gehörte, die von der sowjetischen Besatzungsmacht im Rahmen der politischen Umerziehung der Deutschen eingesetzt wurden.)
Maxim Gorki, Autobiographische Romane, Aus dem Russischen übersetzt von Georg Schwarz, Winkler Verlag München 1972. Lizenz des Aufbau-Verlags, Berlin und Weimar.
Weitere Ausgaben in deutschen Antiquariaten erhältlich, z.B. ZVAB.
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