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Die Revolution als Projekt eines Wahnsinnigen – Gorkis Erzählung „Ein Irrtum“ (1895)

Dienstag, 23. Mai 2017, 13:06:40

Die Revolution als Projekt eines Wahnsinnigen – Gorkis Erzählung „Ein Irrtum“ (1895)

"A powerful prophet" von Genzoman alias Gonzalo Ordonez

Nach dem Eintrag „Maxim Gorki – der ‚ewige Revolutionär’“ hier ein weiterer im Rahmen des 100. Jahrestags der Februar- und Oktoberrevolution.

Was kann uns Gorkis Erzählung „Ein Irrtum“, eines der ersten Werke des Schriftstellers, 22 Jahre vor der zweifachen russischen Revolution des Jahres 1917 veröffentlicht, über diese historischen Ereignisse sagen, deren 100. Jahrestag wir 2017 begehen? Es gibt dort weder die Begriffe der Revolution oder des Revolutionärs noch eine politische Bewegung mit einem Programm, das man als revolutionär im Sinne eines radikalen sozialen Umsturzes bezeichnen könnte. Auf die Ereignisse des Jahres 1917 traf das zweifellos zu, sowohl auf das Ende der Monarchie im Februar als auch auf die Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober.
Statt solcher Umbrüche von Weltbedeutung geschieht in Gorkis Erzählung folgendes: Mark Danilowitsch Krawzow, Bürger einer ungenannten Stadt in Russland, ein gebildeter Mensch, aber seit einiger Zeit wegen seiner seltsamen Ideen von vielen als „nicht normal“ angesehen, ist nun endgültig „verrückt geworden“, er zeigt ein aggressives Verhalten und wird am Ende zwangsweise in eine psychiatrische Heilanstalt eingeliefert. Bis es soweit ist, wird er von Bekannten abwechselnd in seiner Wohnung betreut. Auf diese Weise kommt die zweite Hauptfigur ins Spiel: Kirill Iwanowitsch Jaroslawzew, ein stellungsloser Lehrer, der sich mit Statistik beschäftigt. Er verbringt als Krankenwärter eine Nacht in Krawzows Haus, die sein Leben verändert. Unter dem suggestiven Einfluss des „Verrückten“ verliert er selbst den Verstand, wird der „Jünger“ des Propheten und verbringt sein weiteres Leben, dem „Lehrer“ bedingungslos ergeben, gemeinsam mit ihm im Irrenhaus.

Aus diesem Handlungsgerüst ergeben sich zwei Hauptthemen der Erzählung: das erste bezieht sich auf den pathologischen Fall und dreht sich um die Frage: Wer ist hier „verrückt“ und wer „normal“, und was ist überhaupt „Wahnsinn“? Das zweite Thema bezieht sich auf die Idee, die Botschaft Krawzows, die nicht weniger beinhaltet als das Projekt einer Rettung der Menschheit. Es ist die „verrückte“ Idee, die gewöhnlichen, in einem falschen Leben gefangenen Menschen in die Wüste zu führen und sie einen kollektiven Tod sterben zu lassen, um sie dann in einem Akt der Auferstehung ins Leben zurückzuführen, das nun ein Reich des Glücks und der Erfüllung aller Wünsche geworden ist. Beides, der Auszug aus dem alten und der Einzug in das neue Leben sind das Werk einer Elite von „starken“ und „schönen“ Menschen, die ein durch Leiden und Verfolgungen geprägtes Leben aus eigener Kraft überwunden haben. Dieser heilsgeschichtliche Prozess verkörpert sich in einem symbolischen Bauwerk mit dem rätselhaften Namen „Wächterhaus der Rettung“ (budka spasenija), das Krawzow zusammen mit seinen Gesinnungsgenossen errichten will, eine Art Fabrik des neuen Menschen. Schon aus diesen groben Umrissen der Botschaft des Protagonisten wird die Ähnlichkeit mit dem Sozialismus erkennbar, einem Sozialismus allerdings, der in religiösen Termini als ein „gelobtes Land“ und als „lichte Zukunft“ beschrieben wird und kaum spezifische ideologische und politische Merkmale aufweist.
Das Titelmotiv des „Irrtums“ führt die beiden Themen, den pathologischen Fall und das Projekt des Wahnsinnigen in einer überraschenden Wende zusammen: Jaroslawzew, der „Jünger“ Krawzows, stellt sich den Vertretern des Gesetzes, die den Wahnsinnigen in einer Zwangssjacke abtransportieren wollen, in den Weg: „ Meine Herren, was tun Sie da, Sie halten ihn für verrückt? Das ist ein Irrtum…, ein höchst kränkender Irrtum… Lassen Sie ihn sein Werk vollenden… Es ist ein großes, ein notwendiges Werk“. Und er erklärt noch einmal den, wie er betont, aus tiefster Liebe zu den Menschen entsprungenen Plan seines Meisters.

Ein zweiter „Verrückter“ verteidigt die Idee des ersten, zu viel der Verrücktheiten, könnte man meinen, und so sahen es auch manche Kritiker der Erzählung. Auch könnte man eine allzu didaktische Botschaft des Autors monieren, der hier zwei Geistesgestörte zu seinem Sprachrohr macht. Dennoch wäre es falsch, das Werk auf Grund dieser und mancher anderer Schwächen einfach als „schlechte Literatur“ zu etikettieren. Namhafte Zeitgenossen, Kritiker und Schriftstellerkollegen, haben der Erzählung Gorkis, eines dem Publikum um diese Zeit kaum bekannten Schriftstellers, ein beachtliches Talent und künstlerische Kraft bescheinigt. Ein Experte des Stockholmer Nobelpreiskomitees, Alfred Jensen, hielt die Erzählung „Ein Irrtum“ sogar für Gorkis bestes Werk, als der Schriftsteller 1918 erstmals für den Nobelpreis vorgeschlagen war.

In der Tat handelt es sich um eine spannende Geschichte, die den Leser in eine düstere Welt hineinzieht. Gorki beweist in dieser Erzählung, dass er das für ein solches Sujet bereitstehende Instrumentarium beherrscht, vor allem den effektvollen Kontrast zwischen der Alltagswelt und den Phantasien der „Verrückten“. Die Vertreter des gesunden Menschenverstandes sind durchweg langweilig und lächerlich in ihrem Umgang mit den „Gestörten“, letztere dagegen ungleich interessanter in ihrem Zustand permanenter Erregung und Unruhe, in den überraschenden Umbrüchen ihrer Beziehungen untereinander und in ihren Denkprozessen. Auch die Beschreibungen der Schauplätze und die gespenstische Szenerie in der Nacht der Entscheidung mit rätselhaften Schattenbildern im Mondlicht und dem Gespräch der Protagonisten in einem „feierlichen Flüsterton“ schaffen zusammen eine phantastische Welt, in der Emotionen wie Angst und Hoffnung, Aggression und hingebungsvolle Verehrung einander abwechseln. Vieles erinnert an die überreizte Atmospäre der Romane Dostojewskis, und es gibt auch deutliche Hinweise auf diesen Zusammenhang.
Im folgenden sollen zunächst die Grundzüge der genannten Hauptthemen erläutert werden.


Was ist Wahnsinn, was Vernunft?

Jaroslawzew, der das Wahrnehmungszentrum der Erzählung bildet und als einzige Figur in der Innenperspektive seiner Gedanken und Gefühle gezeigt wird, befindet sich schon vor der entscheidenden Begegnung mit dem „verrückten“ Krawzow in einem krisenhaften Zustand, er hat mit „schweren Gedanken“ zu kämpfen, einer ihm selbst unerklärlichen Depression, die seine Wahrnehmung der Wirklichkeit beeinträchtigt. Papiere mit statistischen Daten, bislang eine vertraute und zuverlässige Quelle seiner Weltkenntnis, sagen ihm auf einmal nichts mehr. Stattdessen überwältigt ihn immer wieder ein Gefühl der Angst und des Entsetzens, die Erwartung eines schrecklichen Ereignisses. Es ist die Angst, im wörtlichen Sinne den Verstand zu verlieren, wobei der Verstand, die Weltanschauung des Materialismus, die Gewissheit eines „richtigen“ Weltverständnisses repräsentiert. Er erinnert sich an eine Äußerung Krawzows bei ihrer letzten Begegnung, die ihm damals nicht aufgefallen war, jetzt aber in höchstem Maße interessant für ihn erscheint. Dämonismus, Symbolismus und ähnliche „krankhafte“ Denkrichtungen seien nichts anderes als notwendige Reaktionen auf die Herrschaft des Materialismus, der in den Augen denkender Menschen bald seinen Kredit verlieren werde, hatte Krawzow erklärt: „Die Ursache der gegenwärtigen Unsicherheit des Denkens liegt in der Armut an Idealen“. Die „Romantik“ sei „aus dem Leben verjagt“ worden und das habe die Basis der Beziehungen der Menschen untereinander zerstört. „Ideale“ und „Romantik“ gehören zum ständigen Repertoire der Bekenntnisse Gorkis und bezeichnen die Sehnsucht nach einer besseren Welt und die Antizipation von Bildern aus diesem künftigen gelobten Land. Eine übersteigerte und in diesem Sinne krankhafte Variante dieser Sehnsucht kommt in den Gesichtszügen Krawzows zum Ausdruck, wie Jaroslawzew sie wahrnimmt: ein hageres, scharfgeschnittenes Gesicht, dunkle Augen mit einem unsteten, „glühenden“ Blick, von dem Drang beseelt, in eine den anderen unbekannte Tiefe einzudringen, - das Gesicht eines von seiner Idee besessenen Fanatikers.


Abkehr vom Rationalismus

Der Begriff des Symbolismus hat um diese Zeit noch nicht die Bedeutung einer literarischen Schule, sondern bezeichnet eine für die Epoche typische Geistesrichtung, deren wesentliches Merkmal eben die Abkehr von den Modellen der rationalen Welterklärung, Materialismus und Positivismus, darstellt. Stattdessen treten die Leidenschaften, der Glaube, der Traum, das Unerklärliche wieder in ihre Rechte ein. Vereinigt erscheinen diese Komponenten im Begriff des Künstlers, des „schöpferischen Menschen“, eines furchtlosen Neuerers, ein Begriff, der in den 90er Jahren, nicht zuletzt unter dem beginnenden Einfluss Nietzsches, einen zentralen Platz in der russischen Kultur einnimmt. In der Erzählung „Ein Irrtum“ erscheint die schöpferische Tätigkeit als die Hauptforderung des Propheten und Meisters an seine Jünger: „Schaffe! Denn du bist ein Mensch!“

Diesen geistesgeschichtlichen Umbruch um die Jahrhundertwende hat der „verrückte“ Krawzow bereits vollzogen, dagegen erlebt der „Statistiker“ Jaroslawzew erst noch den Prozess des Übergangs in der eigenen Seele. Er versucht, die ihm geläufige und gesellschaftlich geforderte rationale Analyse beizubehalten und zu rechtfertigen, indem er den Geisteszustand des Kranken als „Größenwahn“ oder als „Paranoia“ diagnostiziert. Die Plausibilität solcher Urteile registriert er mit Befriedigung und Erleichterung darüber, dass „alles so einfach“ ist. Aber diese Beruhigung hält nicht lange an. Die Suggestivkraft des Propheten und Lehrers zerstört alle Bollwerke des Verstandes. Mit Hohn und Spott attackiert er die „Statistik“, Slawoslawzews einstige geistige Heimat: er, Krawzow, kenne eine andere Dokumentation des Lebens, die „Statistik des Gewissens“, die unbestechlich und gnadenlos die moralische Qualität einer jeden Handlung registriert.

Am Ende, so könnte man meinen, gesellt sich der Autor Gorki zu seinen beiden Helden im Irrenhaus. Erfüllt von der Idee des gelobten Landes, sind sie die „Normalen“, echte, ihrer Bestimmung folgende schöpferische Menschen, stark in ihrer Leidenschaft, phantasievoll in ihrer Sprache. Die Betreiber des Irrenhauses sind dagegen die eigentlichen Verrückten, moralisch schon Gestorbene, deren Tage gezählt sind. Diese Hierarchie gilt aber nur auf der allegorischen, heilsgeschichtlichen Ebene. In der konkreten dargestellten Wirklichkeit treten zwei Menschen auf, die keineswegs ein ideales Menschentum verkörpern, eher zwei Sklavennaturen: der eine ist von seiner Idee versklavt, der andere durch die Suggestivkraft seines Meisters. Die Idee selbst löst sich in der Predigt Krawzows am Ende auf in eine sinnlose Aneinanderreihung von Worten. Der Autor ist also nicht bei seinen geisteskranken Helden, er behält seinen Verstand. Es bleibt nicht einmal die Ahnung von der Möglichkeit des gelobten Landes.


„Das Wächterhaus der Rettung“

Wie sollen wir Krawzows Projekt verstehen, das sein Jünger Jaroslawzew als „ein großes, ein notwendiges Werk“ verteidigt? Der Begriff Sozialismus wird an einer Stelle beiläufig erwähnt: Krawzow trägt sich mit dem Gedanken, in einer Fabrik zu arbeiten und unter den Arbeitern die „Theorie des Sozialismus“ zu verbreiten. Aber das ist nur einer seiner sprunghaften Pläne neben der Tätigkeit eines Rinderzüchters in Amerika und der eines Lehrers der Musik und der Mathematik. Zudem spielt sich dieser Rettungsakt nicht in historischen und geographischen Dimensionen ab, sondern in den Zeiten und Räumen der biblischen Mythen. Krawzow sieht sich selbst als einen neuen Mose, der sein Volk (hier sind es die zu moralischen Krüppeln heruntergekommenen einfachen Menschen) zuerst in die Wüste und dann, nach ihrem rituellen Sterben, geläutert in das Leben zurückführt. Das „Wächterhaus der allgemeinen Rettung“ (in einer anderen Übersetzung „des allgemeinen Menschenglücks“) wird in der Wüste errichtet. Seltsamerweise ist diese „budka“, gewöhnlich im Russischen ein kleines Wächterhaus, ein Unterstand, eine Telefonzelle u.ä., von einer „gläsernen Kuppel“ gekrönt. Damit erinnert der Bau an ein spektakuläres Bauwerk, den Kristallpalast, der 1851 aus Anlass der ersten Weltausstellung in London errichtet wurde, und der von Dostojewkij polemisch als Symbol einer materialistisch-atheistischen Kultur des Westens vorgeführt worden ist. In den „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ vergleicht der Held den Bau mit einem „Hühnerstall“. Beide seien gleichwertig, wenn es um nichts anderes ginge als darum, die Bewohner vor Regen zu schützen. Möglich, dass Gorki auf diesen „Hühnerstall“ anspielt, denn als „budka“ wird im Russischen auch eine Hundehütte bezeichnet. Zugleich dient dieser Ausdruck auch für ein Spiel mit der Zensur: „Du siehst, es ist eine budka“, erklärt Krawzow seinem Zuhörer, „keine Kommune, kein Phalanstère, ganz legal, nicht wahr?“ Auch hier wird eine Verbindung zum Sozialismus hergestellt, diesmal zu den Kommunen des utopischen Sozialisten Charles Fourier.
Über die Lebensbedingungen und die Werte der neuen Welt erfahren wir nur in allgemeinen Formulierungen, außer der schöpferischen Arbeit und dem vollkommenen Glück, das die Menschen dort erwartet, gehören auch die christlich geprägten Begriffe des Mitleids und der Vergebung der Sünden zu den Verheißungen des Propheten Krawzow, der allerdings selbst nichts von einem barmherzigen Samariter hat.

Für einen Leser im heutigen Westeuropa, der solche Bilder nur noch (oder wieder) in den fundamentalistischen Bewegungen einiger Weltreligionen kennt, ist kaum nachvollziehbar, dass dieses Gemisch aus religiösen und politischen Ideologien eine so gewaltige mobilisierende Wirkung auf die Massen in der ganzen Welt des 19. und 20. Jahrhunderts, besonders aber in Russland, ausüben konnte. Anders verhält es sich, wenn man sich diesen Text in den Händen der ehemaligen Sowjetbürger im heutigen Russland vorstellt.


Ein Ausblick auf den totalitären Staat

Die über mehrere Seiten ausgedehnte Predigt Krawzows enthält einen ganzen Katalog von Handlungsanweisungen und Verboten an seine Jünger, aber auch die Verheißungen des Glücks, wenn sie ihnen folgen. In vielem davon scheint der Sowjetstaat, insbesondere in seiner stalinistischen Periode, vorweggenommen.

„Du kennst die Menschen, die in der Gefangenschaft des Lebens gehalten werden?“, fragt Krawzow seinen Jünger. „Das sind die, die Helden werden wollten und Statistiker und Volksschullehrer geworden sind? … Von ihnen rede ich und sie will ich retten.“
Der Begriff des Helden und eines heldenhaften Lebens war eines der zugkräftigsten Heilsversprechen der revolutionären Ideologie. Viele ehemalige Sowjetbürger sind bis heute davon überzeugt, dass der Staat dieses Versprechen eingehalten und ein Volk von Helden geschaffen hat: in der revolutionären Bewegung, im Bürgerkrieg, beim Aufbau der Wirtschaft und im Großen Vaterländischen Krieg. Um die Jahrhundertwende war die Sehnsucht nach dem Heldentum, und sei es nur nach einem anderen, „aufregenden“ Leben, eine in der Intelligenzija weit verbreitete Geisteshaltung, die besonders in Tschechows Werk, in den Figuren des Typs „Onkel Wanja“ Ausdruck gefunden hat. Im Jahr 1900 schrieb Gorki an Tschechow, hingerissen von der mobilisierenden Wirkung, die er, heute schwer zu begreifen, bei der Lektüre der „Dame mit dem Hündchen“ empfunden hatte: „Wahrhaftig, es ist eine Zeit gekommen, die das Heroische braucht: alle wollen das Aufrüttelnde, Leuchtende, das, wissen Sie, was nicht dem Leben ähnelt, sondern höher, besser, schöner als das Leben ist“.

„Wenn du mit mir bist, heißt das, du bist mit der Wahrheit“, erklärt der Meister. Auch diese Glaubensgewissheit war ein starker Magnet und konnte die Betroffenen über viele Unannehmlichkeiten und Defizite ihres Lebens, einschließlich der Freiheit, hinwegtrösten. Wer ist nicht gern auf der richtigen Seite, bei der „Wahrheit“? Die Lücke, die durch den Zusammenbruch des Marxismus-Leninismus entstanden ist, kann durch die neue Ideologie des starken Russlands nur unvollkommen gefüllt werden. Ihr fehlt die universale Dimension.

„Das Leben liegt in der Zukunft, und dort gehört es uns“ – ein Satz, der ebenso aus der Rhetorik der Sowjetpropaganda mit ihrem Versprechen der „lichten Zukunft“ stammen könnte. Gegenwart und Vergangenheit sind demgegenüber ein Reich der Finsternis und der Leiden, erträglich nur in der Sehnsucht nach der Apokalypse.

Zu seinem Jünger spricht Krawzow in der Rolle des Priesters und Beichtvaters: „Du glaubst mir nicht? Glaube mir!... Auch wenn es dir unerfüllbar erscheint, glaube es trotzdem. - Glaube mir, wir werden uns satt trinken aus der vollen Schale des Lebens und alle unsere Sinne werden befriedigt werden“. Die Dramen des Unglaubens und die daraus resultierenden Verfolgungen haben besonders die Künstler und Schriftsteller im Russland des 20. Jahrhunderts erfahren müssen. Die Gesten der bedingungslosen Unterwerfung und der verzückten Anbetung im Verhalten Jaroslawzews illustrieren das Wunschbild der Staatsmacht von ihren Untertanen.

„Menschen, zieht weiße Festkleider an, denn die Nacht ist zuende und kehrt nicht wieder!“ Es ist bemerkenswert, dass gerade diese angesichts des verheißenen Glücks so naheliegende Aufforderung in Gorkis Erzählung am wenigsten glaubwürdig erscheint, ganz im Gegensatz zu der hoch entwickelten Feier- und Demonstrationskultur der sowjetischen Periode. Niemand feiert in dieser Welt der „Verrücktheiten“. Die Grundstimmung bleibt düster und unheilschwanger, selbst in dem „feierlichen Geflüster“ der beiden Gesinnungsgenossen. Vor allem das unheimliche, zu Aggression und Gewalttätigkeit neigende Erscheinungsbild des Verkünders der Heilsbotschaft muss Zweifel an dem humanen Charakter des ganzen Projekts wecken. So bleibt der Eindruck, dass es - entgegen der Verteidigungsrede Jaroslawzews – eben doch kein „Irrtum“ war, diesen blinden Fanatiker an der weiteren Verbreitung seiner Botschaft zu hindern.


Der Prototyp – ein realer Märtyrer der Revolution

Abschließend ein Blick auf die biographischen Hintergründe der Erzählung „Ein Irrtum“. Gorkis gesamtes Werk hat – nach eigenen Aussagen des Schriftstellers – autobiographische Wurzeln, im Falle dieser Erzählung ist das Material sogar ausführlich dokumentiert. Bezüge solcher Art haben zwar keine Beweiskraft für den Sinn eines fiktionalen Werks, aber sie können doch aufschlussreich sein für das Verständnis der Autorpersönlichkeit und des Schaffensprozesses. Gorki hat um die Jahreswende 1891/1892, also nicht lange vor der 1894 entstandenen Erzählung, mehrere Tage am Bett eines psychisch Kranken zugebracht, der starke Ähnlichkeit mit dem Helden Krawzow hat. Gola Tschitadze war ein Bekannter Gorkis während seines Aufenthalts in Tiflis, wo der Schriftsteller in Zirkeln für die Arbeiter der dortigen Eisenbahnbetriebe als Agitator tätig war. Tschitadze war wegen revolutionärer Umtriebe aus dem Priesterseminar ausgeschlossen worden und hatte eine Gruppe von Studenten um sich versammelt, die der radikalen Organisation „Narodnaja volja“ (Volksfreiheit) nahe standen. Er träumte davon, „das Böse in der Welt auszurotten“. 1891 wurde er psychisch krank, Freunde organisierten eine abwechselnde Betreuung in seiner Wohnung. Gorki hat über seine Eindrücke bei diesen Begegnungen Aufzeichnungen gemacht, die sein Biograph Ilja Gruzdew ausgewertet hat. Interessanterweise erscheint der Kranke dort noch finsterer und aggressiver als Krawzow, mehrfach drohte er seinem Betreuer ihn umzubringen und versuchte es sogar, außerdem betrug er sich unzweifelhaft als „Verrückter“, beschmierte sich die Brust mit Schuhcreme u.ä. Gleichwohl gab es immer wieder Auftritte, in denen er Gorki und auch anderen als ein „begeisterter Dichter“ erschien. Nach seinem Tod (möglicherweise durch Gewalteinwirkung von seiten der Pfleger bei seinem Abtransport) veranstalteten seine Freunde ein feierliches Begräbnis. Damit erhielt Tschitadze die Weihen eines Märtyrers der Revolution.
Verwandte mythische Gestalten sind in Gorkis Frühwerk mehrfach vertreten, zu ihnen gehört Danko, der Held eines Mythos, den die alte Isergil in der gleichnamigen Erzählung vorträgt: er rettet sein Volk vor dem Untergang, indem er sein Herz als eine Fackel entzündet und die Menschen aus der Finsternis des Waldes ans Licht führt. Auf ihn bezieht sich die vielzitierte Formel „Die Schönen sind immer stark“ (auch umgekehrt zu verstehen: die Starken sind immer schön!). In diesen Kontext gehört auch das geflügelte Wort vom „Wahnsinn der Tapferen“, bezogen auf den kühnen Helden im „Lied des Falken“ (wie die Erzählung 1895 erschienen), der sich todesmutig vom Felsen in die Meeresbrandung stürzt, um noch einmal das Glück der Freiheit zu erleben.

Im sowjetischen Gorki-Mythos war dieses Heldenbild zum alleinigen Merkmal des Klassikers erhoben worden. Etwas davon ist zweifellos auch in der frühen Erzählung „Ein Irrtum“ enthalten. Krawzow erscheint hier in der Rolle eines Zarathustra des Kommunismus. Aber zugleich sind in diesem Werk die Gegenstimmen zu diesem Ideal des Heroischen unüberhörbar. Beide Hauptgestalten und mit ihnen die ganze dargestellte Welt scheinen von einem Wahnsinn im pathologischen, nicht im metaphorischen Sinn befallen zu sein. Die von Angst und Unruhe erfüllten „schweren Gedanken“ Jaroslawzews am Anfang kennzeichnen eine Gemütsverfassung, die der Autor um diese Zeit selbst erlebte. Davon zeugen Äußerungen aus seinem Umfeld. 1887 hatte der Neunzehnjährige einen Selbstmordversuch unternommen, der seine Ursache unter anderem in der Enttäuschung über die Fruchtlosigkeit seiner politischen Aktivitäten hatte. Seine Arbeitskollegen in der Bäckerei in Kasan gingen lieber auf die Straße, um die rebellischen Studenten zu verprügeln, als mit ihnen für die Revolution zu demonstrieren.

Die lebenslange unauflösliche Verbindung Gorkis mit der revolutionären Bewegung war immer von Zweifeln, Enttäuschungen und zeitweise offener Rebellion begleitet.
Zugleich war die Idee der Revolution aber auch eine Hauptquelle seines künstlerischen Schaffens.
Die Erzählung "Ein Irrtum" illustriert zudem mit der Abkehr vom Rationalismus und der Wiederentdeckung der "Romantik" und des mythisch-religiösen Denkens in musterhafter Form den Geist des "Silbernen Zeitalters".
Pawel Basinskij hat zum 149. Geburtstag des Schriftstellers mit guten Gründen die These vertreten, dass Gorki eine Schlüsselfigur dieser Periode war.

Originaltext der Erzählung „Oshibka“ in der Ausgabe: M. Gor’kij, Polnoe sobranie socinenij. Chudozestvennye proizvedenija v 25 tomach, T. 1, Moskva „Nauka“ 1968, S. 97-122; Kommentar S. 529-537.
Die Zitate aus „Ein Irrtum“ sind einer frühen Übersetzung in der Ausgabe Maxim Gorki, Gesammelte Werke, Globus Verlag Berlin (o.J., vermutlich 1905) entnommen. Der Übersetzer ist nicht genannt.

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Kategorie: Gorki - Werke

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