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Blog > Eintrag: Das beleidigte Russland: eine junge Frau erklärt der akademischen Welt des Westens den Krieg
Das beleidigte Russland: eine junge Frau erklärt der akademischen Welt des Westens den Krieg Mittwoch, 20. September 2017, 11:20:46  Olga Breininger (Brejninger), V Sovetskom Sojuze ne bylo adderola (In der Sowjetunion gab es kein Adderol). Serie: Roman pokolenija (Roman einer Generation), AST, Moskva 2017. Der Text zuerst 2016 in der Zeitschrift „Druzhba narodov“.
Mit dem Thema des Jahres auf diesem Blog, dem 100. Jahrestag der Revolutionen von 1917, hat dieser Roman anscheinend nichts zu tun. Oder doch? Es geht um Globalisierung und die Bedeutung der intellektuellen Arbeit, Umwälzungen, die die Weltordnung und die Natur des Menschen betreffen und damit vergleichbar sind mit den Umwälzungen der Februar- und Oktoberrevolution. Das Buch von Olga Breininger, bestehend aus dem Romantext und fünf angefügten thematisch verbundenen Erzählungen, ist als Manifest einer Generation konzipiert, die, in den letzten Jahren der Sowjetunion geboren, durch zwei entgegengesetzte Erfahrungen geprägt wurde: die Freude über die Befreiung von den Fesseln der Diktatur und den Schmerz über die damit verbundenen Verluste und enttäuschten Hoffnungen. Zu den letzteren gehört auch der eigentümliche Phantomschmerz, der sich auf ein untergegangenes Land bezieht, das die Menschen dieser Generation nur aus Erzählungen kennen. Während die Mehrzahl von ihnen im Land blieb, ging die Heldin des Romans – zunächst unfreiwillig – den Weg der Emigration. Geboren in Kasachstan als Kind einer deutschstämmigen Familie, die von Stalin nach Karaganda deportiert worden war, kommt sie als Jugendliche mit ihren Eltern nach Deutschland. Dort fühlt sich das mit einem wachen Verstand ausgerüstete Mädchen im „Grenzdurchgangslager“ Friedland eingesperrt wie in einem „Konzentrationslager“ (!) und für immer als ein „Mensch fünfter Klasse“ ohne Perspektive abgestempelt. Aus dieser Kränkung ergibt sich ihr weiterer Lebensweg. Obwohl sie es in Deutschland bis zum Abitur bringt, bleiben ihr das Land und seine Menschen fremd. Sie macht sich auf, um in den Zentren der geistigen Eliten des Westens, zuerst in Oxford, dann an der Columbia University Karriere zu machen und den verweichlichten Jungen und Mädchen aus wohlhabenden Häusern zu zeigen, dass ihr Verstand besser, schärfer, effizienter arbeitet als der ihre. Neben der wissenschaftlichen Arbeit studiert die junge Russin das gesellschaftliche Leben in den akademischen Kreisen, das sie bald perfekt beherrscht, aber als ein seelenloses Regelwerk durchschaut. Familienbande, ein snobistischer Clubgeist und Cocktailparties bestimmen das Fortkommen der Studenten. Ohne solche Unterstützung erwirbt sich die Emigrantin die Reputation einer Hochbegabten und eines geachteten Mitglieds der Gesellschaft, beginnt aber ihr neues Leben und sich selbst zu hassen. Sie wird, wie ein Kritiker es formuliert, immer mehr zu einer „wandelnden Bombe“. Ihr Rachefeldzug durch die angelsächsische akademische Welt wird gekrönt durch die Teilnahme an einem wissenschaftlichen Projekt, das eine Linie phantastischer Hyperbolik in das ansonsten realistische Sujet bringt. Eine Gruppe von größenwahnsinnigen Wissenschaftlern arbeitet an der Züchtung eines „Übermenschen“, einer perfekt arbeitenden Denkmaschine, die, ungestört von Emotionen und menschlichen Bindungen, politische und kulturelle Analysen für die Zwecke der kapitalistischen Wirtschaft liefert. Als Prototyp wird unter vielen Bewerbern die höchst erfolgreiche Studentin aus Russland ausgewählt, die sich zunächst willig in die Rolle des Versuchskaninchens mit Elektroden am Kopf fügt, am Schluss aber das ganze Projekt zu Fall bringt, indem sie der geplanten öffentlichen Vorführung ihrer Person fernbleibt. (Schauplatz des internationalen Kongresses ist übrigens der Trump Tower in Chicago, Trump selbst war beim Abschluss des Romans noch nicht im Amt).
Man könnte meinen, es handle sich hier um die offenkundig illusorischen Wunschträume der Kinder der Perestrojka, die sich, aus den Fesseln der sowjetischen Kultur in eine grenzenlose Freiheit entlassen, eine glänzende Zukunft in der großen weiten Welt ausmalen. Die Begeisterung, mit der viele Leser (vor allem Leserinnen) das Buch begrüßt haben (es ist in die long list des Buchpreises „Nationaler Bestseller“ aufgenommen), erklärt sich aber besonders aus der Tatsache, dass die Autorin in wesentlichen Teilen des Buches ihr eigenes Leben verarbeitet hat. Dadurch erhält das Leben der Romanheldin, in der Ich-Form erzählt, gleichsam eine historische Beglaubigung, die allerdings sehr fragwürdig ist.
Olga Breininger-Umetayeva, 1987 in Kasachstan geboren, hat in der Tat als Spätaussiedlerin mit ihrer Familie in Deutschland gelebt, Abitur gemacht und ein Stipendium der Universität Oxford erlangt. Sie hat dort ein Master-Diplom in modernen Sprachen (Russisch und Deutsch) erworben und verfügt außerdem über einen B.A. in Literatur und Creative Writing des Gorkij-Literaturinstituts in Moskau. Gegenwärtig arbeitet sie an der Harvard University (im Roman ist es Columbia) an einer Dissertation über kulturelle Veränderungsprozesse im Nordkaukasus, insbesondere in Tschetschenien. Weitere Forschungsgebiete sind postsowjetische Literatur und Kultur, Revolutionen und Protestbewegungen, Nationalismus, Emigration, Exil und Diaspora. Sie alle sind in verschiedenen Episoden des Romans thematisiert, wenn auch alles andere als in wissenschaftlicher Perspektive.
Ein literarisches Experiment
Trotz dieses Gerüsts biographischer Fakten handelt es sich keineswegs um eine dokumentarische Autobiographie, und die Autorin hatte eine solche auch nicht im Sinn. Der Sammelband ist ein literarisches Experiment, das die Gedankenwelt der Autorin ebenso widerspiegelt wie die verschiedenen Schreibschulen, die sie absolviert hat. Ihr Stil ist lebendig und wechselt vom Ton trockener Debatten zu tagebuchartiger Intimität und politischer Publizistik. Neben einem bodenständigen Russisch in den Familienszenen erscheinen immer wieder Begriffe und ganze Sätze in englischer Sprache (in Anmerkungen übersetzt), für die Leser in Russland ungewohnte Signale der Weltoffenheit und natürlich auch Merkmale einer koketten Selbstdarstellung. Dazu gehören auch Erwähnungen zeitgenössischer amerikanischer Schriftsteller wie Bret Easton Ellis oder Chuck Palahniuk, die durch exzessive Behandlung von Gewalt, Sex und Drogen zu Kultautoren geworden sind. Wie sehr der literarische den dokumentarischen Charakter des Buchs überwiegt, zeigt z.B. der Umstand, dass die Autorin in der letzten Ertzählung („An der Reihe“) ihren eigenen Tod, genauer den Tod ihres alter ego inszeniert.
Bei Lesern in Westeuropa und Amerika dürfte das Buch, soweit es ihnen zugänglich wird, an vielen Stellen Kopfschütteln oder sogar blankes Entsetzen hervorrufen. Es ist in Teilen ein von pubertärem Zorn geleitetes Pamphlet gegen eine als feindlich empfundene Außenwelt. In anderen Teilen, die den psychischen Zusammenbruch der Heldin zum Thema haben (das betrifft vor allem die angefügten Erzählungen), kann es aber auch ein von echtem Schmerz durchzogenes Patiententagebuch sein. Unter diesem Gesichtspunkt muss auch das Bild des Westens in diesem Roman differenziert betrachtet werden. Einerseits ähnelt es in bedenklicher Weise dem der sowjetischen Propaganda und ebenso der des heutigen russischen Staatsfernsehens. Die westliche Kultur und insbesondere ihre akademische Welt erscheint hier von allen menschlichen Werten wie Familie, Freundschaft und Liebe gereinigt, reduziert auf eine kaltherzige Zweckgemeinschaft von egoistischen und nur auf Bequemlicheit ausgerichteten Individuen. Menschlichkeit findet nur im Osten statt, in der eigenen Familie mit sowjetischem Hintergrund und überraschenderweise in einer vom Islam geprägten Familie in Tschetschenien, in die sich die Protagonistin zeitweilig einzufügen versucht (darüber weiter unten). Andererseits deutet nichts darauf hin, dass die Autorin sich zum Instrument der antiamerikanischen Politik der gegenwärtigen Regierung machen lassen will. In ihrem Bekenntnis zu einem Leben in einer Kette von Emigrationen findet sich der Satz: „Und jetzt danke ich Amerika dafür, dass in diesem Land niemand mich als einen Fremden betrachtet, weil hier der Fremde und der Einheimische ein und dassselbe sind“. Es gehört zu den Kuriositäten des Buchs, dass eine Russin Amerika besser zu kennen scheint als ihre Heimat. Im Roman figuriert das Russland der Gegenwart zwar als ein Erinnerungsort der Familie, den die Heldin bei einem Besuch in Moskau im Kreise von zahlreichen Verwandten als eine glückliche Zeit erlebt (darüber die Erzählung „Aeroflot“), aber von den politischen Verhältnissen scheint sie kaum etwas zu wissen. Davon gibt es nur an einer Wand ihres Zimmers aus Hochglanzjournalen ausgeschnittene schöne Ansichten von Moskau und Petersburg, dazu viele Bilder von Blondinen und auch von Putin, dem „Rekordhalter der Titelseiten“. Ironie ist gewiss nicht ein Merkmal von Putin-Verehrern, und überhaupt scheint die Autorin für die Welt der russischen Patrioten durch ihre Ausbildung verloren.
Der Weg zum Glück: zurück zum "Nichtwissen"
Wenn die Autorin zu der Erkenntnis gelangt, dass sie im Ausland in ein falsches Leben geraten ist, so betrifft das jedoch keineswegs nur die Probleme einer russischen Emigrantin. Es geht um die Verluste, die die globale Modernisierung und Digitalisierung den Menschen gebracht hat. Die Heldin klagt darüber, dass ihr Freiheitsdrang, von der Mutter als ihr „schlechter Charakter“ gerügt, sie auf einen einsamen und steinigen Weg geführt hat, auf dem sie ihr „Glück“ nach und nach in „Wissen und Freiheit“ umgetauscht habe. Auf eine einfache Formel gebracht: Nichtwissen ist Glück, Wissen bringt Unglück. „Ich fühlte, dass in meiner neuen Welt der Fortschritt alles Menschliche und Lebendige verschlungen hatte“, sagt die Erzählerin. Ein solcher vormoderner, antiaufklärerischer Konservatismus mag altmodisch, töricht oder auch verantwortungslos angesichts der Weltprobleme erscheinen, er ist aber jedenfalls keine Erfindung der russischen Propaganda, vielmehr ein universales Problem, das in den westlichen Kulturen und ebenso im postsowjetischen Russland zu beobachten ist und mit einer Krise der Werteordnung zu tun hat. Die Protagonistin beobachtet diese Krise vor allem in den Beziehungen der Menschen untereinander, z.B. in den sozialen Medien: „Networking – das ist die Pest in unserem gemeinsamen Haus; eine Geißel, die schneller als alle anderen in Gang gesetzten Mechanismen jede Aufrichtigkeit zerstört“. Solche aphoristisch formulierten Befunde finden sich nicht wenige in diesem Buch. Breininger bewegt sich hier auf der Linie der Gesellschaftskritik Tolstojs, die im Buch auch herangezogen wird. Zu den weltweit wirklich vorhandenen Übeln gehören auch der Alkoholmissbrauch, den die Heldin – zweifellos übertrieben – in Oxford beobachtet und allgemein das Drogenproblem, symbolisiert in dem Aufputschmittel Adderol, das zusammen mit anderen Faktoren ursächlich für eine lebensbedrohliche Krankheit der Protagonistin wird. Eine ernstzunehmende Debatte über Beziehungsprobleme und Kulturkollisionen bietet außerdem die Liebesgeschichte der Studentin mit ihrem Kommilitonen Amadi aus Tschetschenien, die zum Schluss etwas ausführlicher behandelt werden soll.
Die Liebe trifft die junge Frau in dem Moment, als sie Oxford, seine mittelalterlichen Fassaden, den Snobismus, den Elitekult und die Coctailparties gründlich satt hat und nach neuen Wegen sucht. Sie stellt sich auf ein Leben in Einsamkeit, ausschließlich im Modus intellektueller Tätigkeit ein. Der Körper hat nur als „Träger von Ideen“ zu funktionieren. Die Folgen sind Anorexie , Schlaflosigkeit und ein asketisches Schönheitsideal mit tiefliegenden Augen und Falten im Gesicht. Dazu ein exzessiver Gebrauch von Whisky und Adderol als Treibstoff für intellektuelle Höchstleistungen. Der junge Mann namens Amadi, einer wohlhabenden Familie in Tschetschenien entstammend, begegnet ihr zufällig, sie nennt es „Liebe auf den ersten Blick“, lässt alles hinter sich und fällt in den Zustand einer backfischhaften Verliebtheit mit romantischen Träumen von Hochzeit und Glück (die beiden Begriffe tauchen öfter in dieser Verbindung auf). So gestimmt lässt sie sich auf ein riskantes Abenteuer ein. Amadi verschwindet und fordert sie auf, ihn in Sarajewo wiederzutreffen, dort ist er aber nicht. Es folgen die Stationen Skopje, Belgrad und schließlich seine Heimatstadt Groznyj. Erst später stellt sich heraus, dass das eine Prüfung war, um die Ernsthaftigkeit der Beziehung von seiten der „Braut“ zu prüfen, die Amadi – trotz oder gerade wegen ihrer Freiheitsliebe – unbedingt heiraten will. In Groznyj setzt er sie den aufdringlichen Begrüßungsritualen der Frauen seiner Familie aus, ohne ihr beizustehen. Die eine Hälfte der Frauen ist begeistert von der Braut und hofft selbst auf ein Leben mit mehr Freiheiten (aber ohne Rebellion), die andere betrachtet sie mit Skepsis oder sogar mit offener Feindseligkeit. Die junge Frau aus Oxford begegnet beiden Seiten offen und diskussionsbereit und kommt zu dem Schluss, dass ihre eigenen Ansichten über diese islamisch-patriarchalisch geprägte Welt Vorurteile waren. Sie konstatiert mit Überraschung, dass die Frauen in dieser Welt „glücklich“ sind. Sie ist fasziniert von dem Selbstbewusstsein und der „Grazie“ ihres Auftretens, am Tragen des Kopftuchs findet sie sogar selbst Gefallen. Die Erklärung für dieses paradox erscheinende Phänomen, das Glück in der Unfreiheit, findet die Protagonistin in dem Verzicht dieser Menschen auf eine Fundamentalkritik, das Rütteln an der bestehenden Ordnung, letztlich am kritischen Denken, dem „Wissen“ überhaupt: „der direkteste Weg zum Glück ist das Nichtwissen“ – eine These, die nicht nur bei Feministinnen Entsetzen auslösen muss. Bei ihrer eigenen Entscheidung als die Braut Amadis folgt die Protagonistin dieser Erkenntnis jedoch nicht: sie verweigert das Ja-Wort, vordergündig mit der Erklärung, dass der Bräutigam beim Überreichen des Verlobungsrings in der Aufregung vergessen hat, sie nach ihrer Zustimmmung zu fragen. Im Kern geht es um zwei verschiedene Begründungen: die Frau sieht sich selbst als ein Instrument der „Zerstörung“, das dem geliebten Menschen das Leben verderben würde, und sie konstatiert gleichzeitig, dass das rücksichtslose Verhalten Amadis ihr gegenüber eine vertrauensvolle Beziehung unmöglich gemacht hat. Das Nein der Braut im „glücklichsten Moment“ dieser Beziehung kommt nicht nur für den Bräutigam, sondern auch für den Leser völlig überraschend, eine geschickt gesetzte Pointe. Sie lässt dem Leser Spielraum für eigene Entscheidungen. Es bleibt offen, welche der genannten Begründungen, die emanzipatorische (Kränkung durch Misstrauen) oder die altruistische (Rücksicht auf die Interessen des geliebten Menschen) letztlich maßgeblich für die Entscheidung der Frau war. Im ganzen erlebt die Protagonistin diese Episode als eine Prüfung ihrer eigenen Werteordnung, sodass die Liebesgeschichte zu einem Diskurs über die Problematik von Kulturkollisionen wird. (Wie erwähnt, gehören die kulturellen Veränderungen im Nordkaukasus zu den Forschungsgebieten Breiningers.)
Die Verfasserin weiß sehr wohl, dass solche Offenheit, Ambiguität zu den Vorzügen moderner Literatur gehört. Selbst in der abschließenden rein publizistischen Rede, einer Bußpredigt und Kampfansage an die Staatschefs auf einem bevorstehenden G-20-Treffen (Hamburg 2017?), die die Ich-Erzählerin möglicherweise halten wird, fehlt dieses Element nicht. Sie stellt sich den Führern der westlichen Welt (ein russischer ist nicht erwähnt) als ein neuer Feind vor, „ein Exportprodukt aus einem nicht mehr existierenden großen Staat“, der Sowjetunion. Sie sieht sich als eine aus der Schar der „Kinder der Globalisierung mit spitzen Zähnen“, eine „Kalaschnikow“, die mit den Mitteln des reinen Intellekts und der Kultur („unseren großen suizidalen Schriftstellern“) der westlichen Werteordnung den Krieg erklärt und versuchen wird, die Menschen loszureissen „von der Illusion der Demokratie, der Redefreiheit und dem übrigen Unsinn“. Man könnte meinen, wir befänden uns hier im Wahlkampf und unter „Wutbürgern“ in Deutschland oder anderswo, und es ist schwer zu begreifen, wie diese Gedanken dem Kopf einer zweifellos begabten Frau entsprungen sind, die an der Harvard University an ihrer Dissertation arbeitet. Dennoch lässt die Verfasserin offen, wie dieser erklärte Krieg enden wird und welches Ende sie selbst sich wünscht. Sie hält es für möglich, dass der übermächtige Feind diese heimatlosen Stiefkinder der Globalisierung vernichten wird, und sie ist sich nicht sicher, ob sie diese Niederlage nicht sogar herbeiwünscht, „weil wir dann alle ein Haus und Ruhe finden würden". Vieles in diesem Buch fordert die Frage heraus, ob es überhaupt angebracht sei, sich mit diesem in jeder Hinsicht unfertigen Produkt zu befassen. Die Beschäftigung mit diesem Text auf dem Blog scheint mir trotzdem gerechtfertigt, zum einen deshalb, weil mich das Buch und die Geschichte der Verfasserin stark an die Gedankenwelt des frühen Gorki und seine lebenslange (wenn auch immer zwiespältige) Verehrung der Verstandestätigkeit und der Welt der „Ideen“ erinnert, zum anderen wegen der lebhaften und durchaus nicht eindeutigen Reaktionen von Kritikern und Leserinnen in Russland (die zehn herangezogenen Texte (s.u.) repräsentieren mit Sicherheit eine große Zahl von Lesern). Dabei vertrat nur ein Kritiker (Denis Gorelov) eine Verschwörungstheorie, die er in Breiningers Buch bestätigt sieht. Sie habe in verdienstvoller Weise die „alte amerikanische Doktrin“ der Destabilisierung Russlands entlarvt, derzufolge „mafiöse Gesellschaften“ versuchten, die Kinder sowjetischer Emigranten, die „von ihren wohlhabenden Eltern zum Studium in die angelsächsischen Länder geschickt werden“, zu russlandfeindlichen Agenten zu erziehen. Nichts davon steht in Breiningers Buch. Die übrigen Kritiker und Leser finden es trotz kritischer Einwände zuerst einmal „interessant“, „frisch“ und „ungewöhnlich“. Mehrere bekennen sich zu der von Breininger vertretenen Generation und erkennen ihre eigenen Erfahrungen vor allem in den beiden entgegengesetzte Stimmungen der Protagonistin: in der Freude an der Befreiung von den Fesseln der Sowjetkultur (sogar von „Begeisterung“ und dem „Rausch der Freiheit“ ist die Rede) und in dem Schmerz über die materiellen und geistigen Verluste, die mit diesem Prozess einhergegangen sind. Es kümmert sie dabei wenig, dass diese Eindrücke nicht unbedingt kompatibel sind mit der ideologischen Konzeption der Autorin. Die einflussreiche Kritikern Galina Jusefowitsch („Meduza“, 1.07.2017) nennt Breininger „eine Hoffnung der russischen Literatur“, wobei das Buch nur als „ein Versprechen für etwas sehr viel Größeres“ zu betrachten sei. Die Stärke des Romans bestehe darin, dass sie „das Gefühl einer großen, grenzenlosen, im guten Sinne globalen Welt“ vermittele, zu der das Dörfchen Berlin in Kasachstan, Breiningers Geburtsort, ebenso gehöre, wie Oxford, Groznyj und New York. Auch der kühne Anspruch der Verfasserin - „Wir sind besser als die reinlichen und untereinander alle gleichen Jungen und Mädchen Europas“ - scheint der Kritikerin durch die größere Erfahrung historischer Veränderungen gerechtfertigt. Wenn sie der Verfasserin darüber hinaus ein „ruhiges Selbstvertrauen ohne Komplexe“ zuerkennt, wird man ihr allerdings kaum zustimmen können. Gerade das Ruhelose, Nervöse, Unfertige und Widersprüchliche mag ein Merkmal der ganzen Generation der Altersgenossen Breiningers sein. Vieles in diesem Buch setzt die Tradition des „beleidigten Russlands“ in seinem Verhältnis zu Europa fort, im Roman ist diese Tradition in der Gestalt eines Literaturprofessors vertreten, der, wie der Klassiker Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch heißt. Er ärgert sich u.a. darüber, dass Gorki „Die Brüder Karamasow“ nicht verstanden hat.
Quellen der kritischen Beiträge
Fünf Rezensionen von Kritikern auf dem Portal des Literaturpreises “Nationaler Bestseller” http://www.natsbest.ru/award/2017/review/olga-brejninger-v-sovetskom-sojuze-ne-bylo-adderola Fünf Leserstimmen auf dem Literaturportal livelib.ru https://www.livelib.ru/work/1002112901/reviews-v-sovetskom-soyuze-ne-bylo -adderola-olga-brejninger
Zur Ergänzung auf diesem Blog: Vorläufer eines neuen Russlands? – Ein deutscher Journalist über die „Generation Putin“
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