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„Vereinfachung“ als Prinzip des Bolschewismus – Gorkis „Geschichte vom Ungewöhnlichen“ (1925)

Sonntag, 10. Dezember 2017, 13:32:41

30 Jahre nach der Veröffentlichung der Erzählung „Ein Irrtum“, die auf diesem Blog eine Reihe von Beiträgen zum 100. Jahrestag der Ereignisse in Russland eröffnet, erschien in Gorkis Zeitschrift „Beseda“ (1925) die „Geschichte vom Ungewöhnlichen“, die gleichfalls der Revolution in einem universalen Maßstab gewidmet ist. In beiden Erzählungen überwiegt das düstere Element, die Nachtseite der Revolution. In „Ein Irrtum“ ist es der Wahnsinn eines fanatischen Propheten, der die Menschheit in einem heilsgeschichtlichen Akt von Tod und Auferstehung aus dem irdischen Jammertal erlösen will, in der „Geschichte vom Ungewöhnlichen“ geht es um die Weltanschaung eines einfachen Menschen aus dem Volk, dessen Weltanschauung die bereits stattgefundene Revolution widerspiegelt. Während der Prophet jedoch neben grausamen Phantasien noch Elemente des Humanismus, vor allem die Idee des schöpferischen Menschen und der Kultur verkündet, predigt der Bauernsohn und Bolschewik in der neuen Erzählung eine primitive, anarchistische „Vereinfachung des Lebens“, die alles „Ungewöhnliche“ vernichten soll, die „unnützen Dinge“ der Zivilisation ebenso wie alle Errungenschaften der Kultur, die „Besonderheit“ einer jeden Persönlichkeit, Bücher und jegliche Formen von Bildung, Wissenschaft und Kunst. Zu den Methoden dieser „Vereinfachung des Lebens" gehört die Liquidierung Andersdenkender. Was Gorki in dieser Erzählung vorführt, ist das hässliche Gesicht des Bolschewismus, ein Symbol, das seine persönliche Enttäuschung über das Scheitern eines großen utopischen Projekts, einer Kulturrevolution, zum Ausdruck bringt.


Ein Mensch mit einem Pferdefuß

Im ersten Abschnitt der Erzählung wird der Held gleichsam auf einer Bühne in seiner körperlichen Erscheinung und Gegenständen seiner Umgebung vorgeführt, wobei viele Details auf das Wesen dieser Person hinweisen. Sprecher ist ein alter ego des Autors, ein Schriftsteller, der diesen Menschen aufgesucht hat hat, um sich seine Lebensgeschichte erzählen zu lassen.
„In einem der Fürstenschlösser am Ufer der Newa sitzt in einem bunten kleinen Zimmer ‚maurischen’ Stils, das schmutzig, ungemütlich und kalt ist, ein Mann in einem enganliegenden grauen Rock aus Soldatentuch.“ Der Kontrast ist deutlich: der Mann gehört nicht in diese Umgebung, ein Schloss in Petersburg. Oder doch? Die Leser der Zeitschrift „Beseda“ hatten sicher keine Mühe, die historischen Umstände zu erkennen. Es handelt sich um ein konfisziertes Bauwerk, und sein heruntergekommener Zustand, Schmutz und Kälte, verweisen auf die ersten Jahre nach der Revolution 1917. Der Mann hat dort sein Büro, man darf annehmen, dass er ein Vertreter der Sowjetmacht ist. Aber weder sein Name noch seine Funktion werden genannt. Der Rock kennzeichnet ihn als einen Soldaten, was allerdings eine „Vereindeutigung“ des Übersetzers ist (Quelle der Übersetzung s. am Schluss), im Originaltext trägt er einen „Kaftan“, der auch ein Bauernrock sein könnte. Auch die weiteren Merkmale des Mannes passen besser zu einem Bauern als zu einem Militär. Haar und Bart sind struppig, er trägt „schwere fuchsbraune Stiefel“ und der rechte Absatz, mit dem er während seiner Rede auf den Boden stampft, ist „breit wie ein Pferdehuf“. Gleichzeitig erfahren wir, dass der Mann auf diesem Bein hinkt, ein möglicher Hinweis nicht nur auf einen körperlichen Defekt, sondern auf die „teuflische“ Natur des Protagonisten, der später unter verschiedenen Namen, Jakow Sykow, Jasykow und dem Spitznamen „Jazjów“ (etwa ‚Fischmaul’) vorgestellt wird. Im weiteren Teil der Einführung folgen Details, die den Helden gleichfalls in einem zweifelhaften Licht erscheinen lassen. Der Schriftsteller, der Sykow betrachtet, betont den gewöhnlichen, in Russland massenhaft anzutreffenden Typ der Physiognomie , „eckige graue Hechtgesichter mit Augen von unbestimmter Farbe“, in ihrem Blick spüre man Misstrauen gegen die Menschen, „eine Art seelischen Schielens“, aber nicht selten auch ein „scharfes Blitzen“, in dem sich die „geschickt verborgene Kraft des Verstandes“ verrät. Auch „starke Zähne“ gehören zu diesem Gesicht. Sykows Bewegungen sind unruhig, er betastet die auf dem Tisch liegenden Gegenstände, Aktendeckel, Tintenfass, Aschenbecher, und stößt sie dann ärgerlich von sich, bohrt mit dem Finger in dem verschnörkelten Stuck der Wand. „Dies ungewöhnliche Zimmer scheint ihm zu eng zu sein“, bemerkt der Schriftsteller, und bringt damit zum ersten Mal den Titelbegriff des „Ungewöhnlichen“ ins Spiel.


„Das Leben muss einfach gemacht werden!“

Mit diesem einführenden Porträt des Helden liefert der Erzähler einen nahezu vollständigen Schlüssel für das Thema der Erzählung auf einer allegorischen, sozialhistorischen Ebene. Sykow repräsentiert das russische Bauerntum im Prozess der Revolution. Gorki zeigt einen Jungen aus einer Bauernfamilie, der früh beide Eltern verliert und bei fremden Menschen sein Brot verdienen muss, dazu mit einem Handikap geschlagen. Sein Hass auf alle „Herren“ und die Obrigkeit führt ihn zu den Bolschewiki, macht ihn aber keineswegs zu einem politischen Menschen. Er fühlt vielmehr weiter eine tiefe Abneigung gegen jegliche „Politik“ und gegen die gesamte Kultur der Gebildeten, gegen Bücher und anderes „nutzloses Zeug“. Sein Ziel ist nicht eine neue Herrschaftsform, sondern eine vollständige Zerstörung der Herrschaft von Menschen über andere Menschen, ein Paradies der Anarchie. Die Details der Eingangsszene kennzeichnen diese Mentalität nicht eines Revolutionärs, sondern eines rebellischen Einzelgängers, der gleichwohl ein Heer von Gleichgesinnten vertritt, die russischen Bauern, wie Gorki sie in seiner Publizistik verstand. Kennzeichen dafür hier der herrisch aufstampfende „Pferdefuß“ des Protagonisten, seine struppige ungepflegte Erscheinung, die scharfen Zähne, das „seelische Schielen“ in seinem Blick, das „scharfe Blitzen“ in seinen Augen, alles Züge seiner misstrauischen und aggressiven Lebenseinstellung. Die Aktendeckel und Schreibutensilien symbolisieren die Herrschaft der Gebildeten, der Stuck mit seinen verschnörkelten Mustern und das ganze „ungewöhnliche Zimmer“ die Kunst und die Schönheit, - alles das stößt Sykow „mit deutlichem Verdruß“ von sich.

Die Idee, die diese Bauernphilosophie zusammenfasst, wird erst im Verlauf der Erzählung mitgeteilt. Es ist die Forderung: Das Leben muss einfach gemacht werden! Sykow hört sie von einem Mithäftling im Gefängnis, wo er wegen eines falschen Mordverdachts sitzt. Bezeichnenderweise ist der Zellengenosse ein Mensch von abstoßender Erscheinung, mit langen Haaren und „strengen bösen Augen“, nach Sykows eigenen Worten „ein Sektierer, aber ein kluger“. Seine Botschaft lautet: „Einfachheit ist nötig. Alle Menschen haben sich in Kleinigkeiten verfangen, daher erdrücken sie einander. Das Leben muss vereinfacht werden“. Die anschließende Auseinandersetzung des Alten mit einem anderen Häftling, der sich als sein Gesinnungsgenosse versteht, bringt weitere Erklärungen. Der Alte weist den Mann zurück: „Solche wie dich habe ich schon mehr gesehen. Alle seid ihr Betrüger. Du trachtest nach etwas Eigenartigem, Ungewöhnlichen, du willst dich von den Menschen absondern. Das ist ja das Unglück, das Schlimme im Leben, dass jeder etwas Besonderes sein will, die Auszeichnung sucht. Das ist das Unglück! Daher kommt alles Herrentum und Vorgesetztenwesen, Kommandieren und Gewalttätigkeit“. Das „Ungewöhnliche“ – es fängt schon mit den Unterschieden in Nahrung und Kleidung an, erklärt der Alte, mit den Unterschieden beginnt Feindschaft und Gewalt. „Alles auf der Welt muss gleichgemacht und das Besondere, Ungewöhnliche vernichtet werden“. In dieser Ideologie bildet das Ungewöhnliche den Gegensatz zu dem Ideal der Einfachheit und ist ein Grundübel des Lebens, in der Sprache der Gebildeten steht es für Hochwertbegriffe wie Kultur, Bildung, Kunst und Persönlichkeit.


Revolution und Kultur

In diesem Sinne zielt die Erzählung auf das Kernproblem, das Gorki in den ersten Jahren der Sowjetmacht nicht nur als eine nationale Katastrophe, sondern als eine persönliche Krise erlebt: das Verhältnis von Revolution und Kultur. Ist die ersehnte und von ihm mehr als ein Jahrzehnt lang aktiv vorbereitete Revolution wirklich die „Vermählung Russlands mit der Freiheit“, wie er im Februar 1917 hofft, und damit wesentlich eine Kulturrevolution? Bringt sie Demokratie, Gerechtigkeit, Freiheit des Wortes, die Überwindung von Lüge und Gewalt? Oder erweist sie sich als ein „Ausbruch dunkler Instinkte“, ein „russischer Aufstand“, der in allem das Gegenteil von Kultur bedeutet, sinnlose Zerstörung der Tradition, den Rückfall der Massen in gleichsam vormenschliche „tierische“ Verhaltensweisen. In den „Unzeitgemäßen Gedanken“ Gorkis (1917/18) sind beide Antworten, die demokratische Revolution und der „russische Aufstand“, vertreten, oft in krassem Gegensatz zueinander. Ein solcher zwiespältiger Beobachter ist auch der Autor der „Geschichte vom Ungewöhnlichen“. In Gestalt des Schriftstellers in der Eingangsszene zeigt er zunächst einmal nichts anderes als die bei Gorki bekannte Neugier auf „interessante Menschen“: „Ich bat den Mann mit den starken Zähnen, mir sein Leben zu erzählen“.
Sykow kommt dieser Bitte nach, nicht ohne Stolz auf seine Geschichte und erfreut über die Gelegenheit, seine Sätze über die Vereinfachung des Lebens an den Mann zu bringen. Ein direkt ausgesprochenes Urteil des Schriftstellers über Sykows Person und seine Lebensgeschichte gibt es nicht. Nach der Eingangsszene spricht nur noch der Protagonist selbst. Seine Sprache ist die eines Menschen ohne Schulbildung, der sich gleichwohl den „Büchermenschen“ überlegen fühlt, darin ein typischer Gorki-Held.

Gorki bedient sich hier eines Kunstgriffs, den er in seinem Spätwerk vielfach angewandt hat, er macht einen ihm „fremden“ Helden zum alleinigen Zentrum der Wahrnehmung und Bewusstseinstätigkeit, hier als Ich-Erzähler, anderswo in einer ausschließlich auf die Personenperspektive beschränkten Erzählweise wie in dem Romanfragment „Das Leben des Klim Samgin“. Wie die Einführungsszene der „Geschichte vom Ungewöhnlichen“ zeigt, hat der Autor trotz seines Verzichts auf direkte Urteile genügend Mittel, um dem Helden eine deutliche Charakteristik zu verleihen. Klar ist, dass die struppige Figur mit dem „Pferdefuß“ nicht die wahren Revolutionäre im Sinne Gorkis repäsentiert, sondern eher die Bauern mit ihrer feindlichen Einstellung zu der „ungewöhnlichen“ Kultur der Stadt und des Fortschritts.
Aber der Mann in dem Schloss an der Newa ist ohne Zweifel ein „Bolschewik“, er hat sich von Agitatoren überzeugen lassen, dass nur die Bolschewiki wirklich gegen die „Herren“ kämpfen und er glaubt nun, dass auch sie für die „Vereinfachung des Lebens“ stehen. In diesem Geist hat er im Bürgerkrieg gegen die Weißen, die „Koltschak-Leute“ gekämpft. Zwar zeigt er immer wieder ideologische Schwankungen, aber die letzte Episode seiner Lebensgeschichte erbringt den unwiderlegbaren Beweis für seine Zugehörigkeit zu den Bolschewiki, es ist die eigenhändige Ermordung eines Feindes der Sowjetmacht. Ein alter Mann, der als Einsiedler im Wald lebt und im Dorf als „gerechter und kluger Mann“ gilt, geht herum und agitiert gegen die Bolschewiki. Sykow redet mit ihm und kommt zu dem Schluss, dass er „ein schädliches Tier“ ist. Daraufhin plant er kaltblütig eine Aktion, die einer Hinrichtung gleichkommt und führt sie auch aus. Er selbst betrachtet das Verbrechen als eine revolutionäre Tat. „Alle haben begriffen, dass Einfachheit die Lebensweisheit ist“, erklärt er, und man könne nun erwarten, dass „die Menschen bald bessere Zustände schaffen“. Die Liquidation von Feinden erhält so die makabre Bedeutung einer „Vereinfachung des Lebens“.


„Vereinfachung“ als Prinzip des Bolschewismus

Die entscheidende Frage, die Gorki am Beispiel dieses Menschen stellt, lautet: ist dieser Sykow nur aus Dummheit und Blindheit unter die Bolschewiki geraten, mit denen er eigentlich nichts gemeinsam hat? Oder stellt dieser Mann mit dem Pferdefuss nur das zum Extrem getriebene Wesen des Bolschewismus dar? Direkte Äußerungen Gorkis zu dieser Frage haben wir nicht. Aber der gesamte Komplex der Ansichten des Schriftstellers über „Revolution und Kultur“ spricht dafür, dass er mit dieser Erzählung vor der Gefahr warnen wollte, die nach seiner Ansicht von den kulturfeindlichen Bauernmassen ausging, einem Aufstand nicht nur gegen die Ausbeuter und die Obrigkeit, sondern gegen die gesamte Kultur der Gebildeten, ihre politischen Einrichtungen, ihre Gesetze, ihre Bücher und Bilder. Hier war im Gefolge von Krieg und Revolution in der Tat eine „Vereinfachung“ im Gange, eine endlose Kette von Schreien „Nieder mit …!“ Die Rhetorik der Bolschewiki und die Mentalität der Massen auf der Straße, wiewohl aus ganz verschiedenen Quellen stammend, trafen hier zusammen bzw. wurden von den Parteistrategen bewusst auf diese Mentalität abgestimmt. Als dann die Unruhen in eine staatliche Ordnung, die sogenannte Diktatur des Proletariats überging, wurde diese „Einfachheit“ zur Basis einer neuen Kultur, einer Glaubenslehre von Freund und Feind, Gut und Böse. Es gibt also in Gorkis Augen eine unheilvolle Allianz zwischen den Bauernmassen und den Bolschewiki, die in der finsteren Figur Sykows symbolisiert ist.

Zu der Idee „Vereinfachung“ im Sinne einer Absenkung des kulturellen Niveaus hat sich Gorki in den 20-er Jahren vielfach geäußert. In einem Brief an K. Miklaschewskij (Mai 1924), den Autor einer Broschüre mit dem Titel „Hypertrophie der Kunst“, empört sich Gorki über die These des Verfassers, die Kulturpolitik des Proletariats sei viel zu stark von der Tradition des Bürgertums und ihrem Bestreben beeinflusst, „sich von allen Seiten mit Kunst zu umgeben“. Bis es vielleicht einmal eine neue Kunst geben werde, gehöre die alte „in die Katakomben“. An gleicher Stelle führt Gorki einen Artikel in der Zeitschrift „Krasnaja nov’“ (Rotes Neuland) an, der dem Programm „Organisierte Absenkung der Kultur“ gewidmet ist.
Der Begründer der Sowjetmacht war in Gorkis Augen ebenfalls ein „Vereinfacher“. In einem Brief an Romain Rolland (15. Jan. 1924) stellt er fest: „Der Hauptfehler Lenins ist sein russischer, im Bauerntum wurzelnder Glaube an die Notwendigkeit das Leben zu ‚vereinfachen’. Er dachte, man könne das erreichen durch die Mechanisierung der Arbeit und eine ebensolche Mechanisierung der Beziehungen zwischen den Menschen“.
Als sein eigenes Ideal propagiert der Schriftsteller unermüdlich das eben nicht Einfache, das Ungewöhnliche, Komplizierte, Widersprüchliche. Seinem Biographen Ilja Gruzdjew erklärt er (10. März 1926) seine Vorstellung von einem Menschen, den man als „Helden“ bezeichnen könne. In jedem Falle könne dieser Mensch nicht ein „unteilbares psychisches Ganzes“ sein. Als Beispiele für einen solchen „vereinfachten“, mechanisierten Heldentyp führt Gorki Mussolini an und dazu einen zeitgenössischen amerikanischen Politiker, der die Evolutionstheorie leugnet. Ihre „psychische Ganzheit“ bestehe vor allem in ihrer Dummheit. Als der wirkliche Held erscheint dem Schriftsteller der Erforscher und Bezwinger der Natur, ein Gefäß für unendlich viele und widersprüchliche Erfahrungen und Charakterzüge. „Deshalb ist für mich persönlich der forschende, suchende Held unvergleichlich wertvoller als ein Held, der sich schon in seinem Glauben gefestigt und auf diese Weise ‚vereinfacht’ hat“.

Die Polemik gegen die „Vereinfachung“ und die Apologie des Komplizierten, Ungewöhnlichen ist ein Leitmotiv des Zyklus „Erzählungen 1922-1924“, deren Abschluss die „Geschichte vom Ungewöhnlichen“ bildet. In der „Geschichte von einem Helden“ ist ebenfalls ein „vereinfachter“ Menschentyp, diesmal ein fanatischer Monarchist vorgeführt, in „Karamora“ erscheint der komplizierteste und widersprüchlichste unter den Figuren des Zyklus, ein Revolutionär, der seine Kameraden an den Galgen gebracht hat und keine Reue empfinden kann. Von ihm stammt die Unterscheidung zwischen „ganzheitlichen“ und „zerstückelten“ Menschen: „der ganzheitliche ist immer ein Ochse – mit ihm ist es langweilig“. In der Erzählung „Das blaue Leben“ träumt ein künstlerisch begabter Tischler vom blauen Glück in einem blauen Häuschen, andere Erzählungen spielen in der ebenso „ungewöhnlichen“ Welt der Literatur und des Theaters sowie in der Welt der Liebe, nicht zufällig der „unerwiderten“.

In der „Geschichte vom Ungewöhnlichen“ ist das Thema nicht nur direkt in den Predigten des Protagonisten ausgesprochen, es betrifft auch die gesamte Struktur der Erzählung. Da es eine direkte Antwort des Autors auf die Theorie der Vereinfachung nicht gibt, findet die Widerlegung der Lehre indirekt statt, nämlich als klar erkennbarer Gegensatz zwischen Theorie und Praxis, Wort und Tat im Denken und Verhalten des Protagonosten. Sykow will die Macht des Menschen über andere Menschen abschaffen, hält sich selbst aber für berechtigt, den „schädlichen Alten“ umzubringen, weil der eine andere Meinung hat. Mord ist eine Form der „Vereinfachung“. Alles Übel kommt von der Bildung, behauptet Sykow. Aber er muss anerkennen, dass der zu seinem Trupp übergelaufene weiße Offizier ein ausgezeichneter Soldat ist, der durch seine umsichtige Führung viele Menschenleben rettet. Zudem kommen die wenigen Beschützer und Freunde, die er hat, überwiegend aus den Kreisen der Gebildeten, die nach seinem Programm gleichgemacht und vernichtet werden sollen. Ein Mädchen aus der Bauernfamilie, wo er als Waisenkind schlecht behandelt wird, hilft ihm und bringt ihm das Lesen bei. Eine ehemalige Prostituierte mit einem starken Charakter wird seine Lebensgefährtin und entwickelt sich zu einer leidenschaftlichen Revolutionärin, wobei sie die Predigten Sykows von der „Vereinfachung“ als dummes Gerede von sich weist. Der „Doktor“, ein Arzt, der Sykow als Helfer in einem Sanitätszug beschäftigt, versucht ihm in freundschaftlichen Gesprächen, wenn auch ohne Erfolg, eine ordentliche politische Bildung zu verschaffen. Der Doktor kümmert sich außerdem in selbstloser Weise um ausländische Kriegsgefangene, Sykow bezeichnet ihn als einen „hervorragenden Menschen“. Keiner von diesen Gebildeten predigt Hass oder bringt Gefangene um, damit beschäftigen sich nur seine Standesgenossen aus dem „Volk“, „einfache Menschen“. Die wilden Schießereien auf Bahnhöfen, Plünderungen und Grausamkeiten aller Art sind gleichsam schon das Ergebnis der „Vereinfachung des Lebens“.


Ein Held mit Widersprüchen

Der Leser könnte sich darüber wundern, warum dieser Mensch trotz seiner barbarischen Natur so viel Mitgefühl und Unterstützung von „anständigen“ Menschen findet und auch von seiten des Autors eher mit kummervoller Empathie als mit kalter Verachtung gezeichnet ist. In einem Brief an M.F. Andrejewa (Dezember 1923) berichtet Gorki, er sei mit der Arbeit an dieser „komplizierten“ Erzählung „voll beschäftigt“, er könne an nichts anderes denken als an diesen Jakow Sykow. Der Grund für diese persönliche Betroffenheit dürfte darin zu suchen sein, dass hier Dinge verhandelt wurden, die ihm heilig waren oder jedenfalls lange gewesen waren: die „russischen Menschen“ aus dem Volk und die Bolschewiki, zu denen er selbst gehörte. Von diesen beiden zentralen Sphären seines Lebens vollzieht sich in diesen Jahren eine schmerzhafte Trennung, die erst mit seiner Rückkehr in die Sowjetunion zumindest nach außen überwunden wird.
So erklärt es sich, dass der Mann mit dem Pferdefuß eben doch nicht ganz in die Reihe der „ganzheitlichen“, stumpfsinnigen Menschen, sondern eher zu den „zerstückelten“, widersprüchlichen gehört. Vieles an diesem jungen Mann erinnert an die Helden der frühen Werke Gorkis, etwa an den „Gottsucher“ aus dem Roman „Die Beichte“ oder den unglücklichen Spion aus „Das Leben eines unnützen Menschen“. Als Waisenkind mit einem Handikap muss Sykow viele Kränkungen erdulden, er gilt als „Dummkopf“, kommt wegen falschen Verdachts ins Gefängnis und fühlt sich von seiner Lebensgefährtin verachtet. Dabei ist er ein aufmerksamer Bobachter des Lebens, zeigt keine Neigung zu Kriminalität und Grausamkeit, seine erste Freundin findet, er habe „Augen wie ein Fräulein“. Er selbst berichtet, dass er in der Jugend ein gläubiger Mensch war und sich im Gebet bei Gott über die Ungerechtigkeit der Welt beklagt habe. Später, im Februar 1917, ist er fähig, echte Freude zu empfinden über die neue Freiheit. Sein volkstümlicher, mit vielen Aphorismen geschmückter Stil (der allerdings in der deutschen Übersetzung nur unvollkommen zur Geltung kommt) verleiht seinen Urteilen eine gewisse Authentizität, selbst da, wo er offenkundigen Unsinn redet. In seinem eigentlichen Wesen ist er ein einsamer Mensch, der sich nach Ruhe und einem bescheidenen Glück sehnt: „Jeder lebt in seiner Haut… Und die Haut will es warm und weich haben.“
Die bestialische Tat am Schluss passt eigentlich nicht in dieses Bild. Sykow selbst leitet den Bericht davon mit den Worten ein: „Sehen Sie mal, ich bin ein sanfter Mensch und habe doch eigenhändig einen wehrlosen Greis umgebracht“. Aber es war Gorkis ausdrücklicher Wunsch, in dem Zyklus „Erzählungen 1922-1924“ diesen grausamen Schlusspunkt, die Ermordung eines unschuldigen Menschen zu setzen. Der Schluss kontrastiert zu dem Anfang des Zyklus, wo in der Erzählung „Der Einsiedler“ ein alter Mann das Gegenbild zu Sykows barbarischer Weltanschauung verkörpert: die Fähigkeit, unglücklichen Menschen Trost zu spenden, die „Zauberkraft der Liebe“.


Schwierigkeiten der Literaturkritik

Eine „ungewöhnliche“ Geschichte bilden auch die Interpretationen der Erzählung in der sowjetischen Literaturkritik. Beginnend mit groben Missverständnissen und Manipulationen, gelangten die Autoren erst mit dem Ende der Sowjetunion zu Urteilen, die ein heutiger Leser nachvollziehen kann. Noch in den sechziger Jahren konnten sich die Kritiker nicht entschließen, die ablehnende Haltung des Klassikers gegenüber der „Vereinfachung des Lebens“ zu erkennen und flüchteten sich in paradoxe Formeln wie „das Ungewöhnliche des Gewöhnlichen“ (V. Pankov, 1968), wobei das Gewöhnliche (Einfache!) für das wahre Leben und den gesetzmäßigen revolutionären Prozess steht, der seiner historischen Bedeutung nach grandios, „ungewöhnlich“ erscheinen muss. Der im Text unübersehbare Gegensatz von Kultur und kulturfeindlicher Vereinfachung ist scheinbar beseitigt. Andere, wie der einflussreiche Gorki-Forscher A. Owtscharenko (1982), verurteilten zwar die Vereinfachungsidee als „Kasernen-Kommunismus“, betonten aber ebenso die erzieherische Rolle der Partei, die „die Sykows auf die Schulbank gesetzt und mit der wahren Weisheit des Lebens ausgestattet“ habe.
Auf den Umstand, dass Sykow den Sieg der Revolution als Bestätigung seiner „Vereinfachungsidee“ und so als den wahren Bolschewismus betrachtet, verwies zum ersten Mal E. Tager (1964), der darin eine „falsche historische Verallgemeinerung“ des Autors Gorki sah, die Bedrohung der Kultur durch die „dunklen Instinkte“ der Bauernmassen. Erst unter den Bedingungen der neuen Freiheit von Glasnost und Perestrojka kam es in Natalja Primotschkinas Gorki-Monographie „Der Schriftsteller und die Macht“ (1996) erstmals zu einer freien Erörterung dieser Frage. Von einem „Irrtum“ Gorkis ist hier nicht mehr die Rede, vielmehr sieht die Verfasserin in der Gestalt des Sykow eine „große Verallgemeinerung und Prophezeiung des Künstlers, der eine gefährliche Tendenz in der Entwicklung der Revolution erfasst hat, die Tendenz zur Herabstufung der Kultur“. Die Erzählung beeindrucke durch die „Reife des Denkens“, die „allgemeinmenschliche“, nicht parteiliche Herangehensweise an die nationale Tragödie des Bürgerkriegs. Damit erinnere die Erzählung an Boris Pasternaks gerade (1988) erstmals in Russland erschienenen Roman „Doktor Schiwago“.
Als ein „Bacchanal der Vereinfachung und Verflachung“ charakterisiert der bekannte Schriftsteller und Publizist des liberalen Lagers Dmitrij Bykow in seiner Monographie „Gab es Gorki?“ (2008) die Darstellung von Revolution und Bürgerkrieg in Gorkis Erzählung. Anstelle des Ungewöhnlichen, nie Dagewesenen der Revolution habe Gorki in ihr nur das Allergewöhnlichste zum Vorschein gebracht: die „Bestialität“.

Gorkis „Geschichte vom Ungewöhnlichen“ ist ein beziehungsreiches Beispiel für die Universalität der Fragestellungen in der letzten Periode seines Schaffens. Sie lässt sich mühelos einfügen in die weltweite Debatte aus Anlass des 100. Jahrestags der Ereignisse in Russland über Probleme wie das Wesen von Revolutionen, das Verhältnis von Fortschritt und Gewalt, Moral in der Politik, gewissenhafte Berichterstattung und populistische „Vereinfachung“. In Russland könnte das Thema statt einer regierungskonformen Verurteilung jeglicher Umstürze und Unruhen die Aufmerksamkeit auf ein dringenderes Problem der Gegenwart lenken: das Fortbestehen der dort geschilderten kulturfeindlichen Tendenzen der sowjetischen Periode. „Vereinfachung“ ist ein Strukturprinzip der herrschenden Staatsideologie sowohl in ihrer nationalistischen Weltpolitik als auch in ihren monarchistischen Herrschaftsformen.


Die Auszüge in deutscher Übersetzung entstammen der Ausgabe:
Maxim Gorki, Das blaue Leben. Erzählungen 1922-1924, übersetzt von Irene Müller und Irene Wiedemann, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1974.

Zu der eingangs erwähnten Erzählung s. auf diesem Blog:
Die Revolution als Projekt eines Wahnsinnigen – Gorkis Erzählung „Ein Irrtum“ (1895)

Kategorie: Russland und die Russen

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