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Der 100. Jahrestag der Revolutionen von 1917 – Gorki bietet mehr Erkenntnis als die politische Verwirrung im heutigen Russland

Montag, 01. Januar 2018, 11:45:10

Der 100. Jahrestag der Revolutionen von 1917 – Gorki bietet mehr Erkenntnis als die politische Verwirrung im heutigen Russland

Pardon, aber hier musste einfach etwas Lustiges erscheinen

Das abgelaufene Jahr begann auf diesem Blog mit dem Eintrag „Die große Gereiztheit – Eine globale Krankheit in Zeiten des Antiglobalismus“ (1.1.2017; auf Links im Text wird verzichtet, die Einträge sind über „BLOG“ und auf der Datenleiste „Archiv“ nach Monat und Jahr leicht zu finden). Der „Spiegel“-Titel mit dem rasenden Kometen Trump ist vielleicht nicht mehr ganz so aktuell, aber das Motto aus Gorkis Roman „Klim Samgin“ trifft nach wie vor den Geist unserer Zeit: „Die Macht der Ideen war offensichtlich zuende, an der Reihe waren jetzt die empörten Gefühle…“
In Russland bezieht sich der öffentlich geäußerte „gerechte Zorn“ weiter auf „den Westen“, die Nato, die EU und neuerdings auch auf die Politik des neuen Präsidenten der USA, der in den Staatsmedien Russlands zuerst so freundliche Begrüßungsworte gefunden hatte, und im nahen Ausland richtet sich die Wut natürlich auf das „faschistische Regime“ in Kiev.


Revolutionen – in Russland nicht angesagt

Deutlich zurückhaltender waren die öffentlichen Äußerungen zum 100. Jahrestag der Revolution, genauer der beiden Revolutionen im Februar und Oktober 1917. In der Weltöffentlichkeit war dieses Jubiläum ein herausragendes Thema der Erinnerungskultur, in Verbindung mit der bedeutenden Rolle Maxim Gorkis bei diesen Ereignissen war es auch Hauptthema des Jahres auf diesem Blog. In Russland dagegen war die Regierung schon im Vorfeld deutlich bemüht, jegliches Aufkommen „revolutionärer“ Ideen und Stimmungen zu unterbinden. Der Präsident rief im Dezember 2016 zu einer „objektiven Analyse“ der historischen Ereignisse auf. Zugleich zeigte er sich in bemerkenswerter Weise offen für eine Politik der Vergangenheitsbewältigung, er sprach von der schweren Erschütterung, die nahezu jede Familie in Russland infolge der Repressionen der Stalinzeit erlitten habe und warb für eine Stimmung der „Versöhnung“ in der Gesellschaft. Von der immer noch ausstehenden juristischen Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels sprach Putin nicht. Ebenso vermied er die Bezeichnung „Große Sozialistische Oktoberrevolution“, in den Staatsmedien heißt das Ereignis jetzt, in den patriotischen Kontext versetzt, „Große Russische Revolution“ und ist damit sowohl vom Bolschewismus als auch vom Geist der Freiheit gereinigt, der den vorhergehenden Revolutionen 1905 und Februar 1917 eigen war. Zu feiern gibt es hier eigentlich nichts, der 7. November ist nach einer Umbenennung in „Tag der Aussöhnung und des Einvernehmens“ 1996 durch Putins Vorgänger Boris Jelzin 2004 per Gesetz abgeschafft. Den Platz des früher erstrangigen Staatsfeiertags besetzt seitdem der „Tag der nationalen Einheit“. Er wird am 4. November gefeiert und bezieht sich auf einen „Sieg Russlands“, die Befreiung von der polnischen Fremdherrschaft durch einen Volksaufstand im Jahr 1612. Näheres zu diesem Thema bietet der Eintrag „Der 100. Jahrestag der Oktoberrevolution – ein verschwundener Feiertag“ (25. März), dort auch zu der verbreiteten Auffassung, die bolschewistische Revolution sei eine Verschwörung ausländischer Mächte gewesen, darunter ein jüdischer (!) Finanzmakler aus dem Umfeld Lenins und die deutsche Heeresleitung (mit dem berühmten „plombierten Waggon“, in dem Lenin Russland erreichte). Von der Kirche wird der Oktoberumsturz auch als eine schwere Sünde des gesamten russischen Volkes verurteilt, und allgemein gelten Revolutionen im heutigen Russland als sinnloses Blutvergießen, insbesondere die „bunten“ Revolutionen der jüngsten Vergangenheit in den arabischen Ländern und in der Ukraine.


Zwei große Protestaktionen 2017

Das heißt nicht, dass es in Russland eine nahezu vollständige Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Politik der Regierung gebe (die ständig angeführten Zahlen schwanken, übersteigen aber immer 80%). Zwei große Protestaktionen im vergangenen Jahr in ganz Russland, beide überraschend hinsichtlich der Größe und der Zusammensetzung der Teilnehmer – überwiegend junge und jüngste Menschen – zeigten eine heftige Empörung über die Politik der Regierung, besonders über die Korruption in der Führung des Landes. Näheres dazu in den Einträgen „Protestaktionen in Russland am 26. März – überraschend und unvorhersehbar?“ (10. April) und „Wir lieben Russland – Zu den Protestaktionen am 12. Juni“ (31. Juli). Im letzteren Eintrag geht es wiederum um die symbolische Bedeutung von Feiertagen. Diesmal handelt es sich um den „Tag Russlands“ am 12. Juni, den der Organisator der Demonstrationen Aleksej Nawalny bewusst gewählt hatte, um eine politische Botschaft gegen das offizielle Konzept eines harmlosen patriotischen Volksfestes zu setzen. Der „Tag Russlands“ bezieht sich auf die Erklärung der Souveränität der „Russischen Föderativen Sozialistischen Sowjetrepublik“ (RSFSR) am 12. Juni 1990, d.h. auf den Austritt der russischen Teilrepublik aus der Sowjetunion, der den Anfang vom Ende dieses ruhmreichen Staates bedeutete, eigentlich ein eher peinliches Thema im heutigen Russland. In der Opposition gilt dieser Tag entsprechend als ein Feiertag der Freiheit, und in diesem Sinne wurde auch das Zusammentreffen mit den Protesten 2017 kommentiert, ein Kolumnist nannte das Ereignis von 1990 „die Befreiung vom Sowjetmenschen“.
Dem Organisator der Proteste Aleksej Nawalny hat diese Aktion eine weitere Verhaftung und Bestrafung eingebracht. Inzwischen ist seine Zulassung als Präsidentschaftskandidat, um die er mit großer Energie gekämpft hat, endgültig abgelehnt worden. Die Begründung bezieht sich, offenbar bewusst gesetzt gegen seine landesweit bekannte Rolle als Kämpfer gegen die Korruption, auf ein rechtskräftiges Urteil wegen Unterschlagung.

Es sind solche offenkundigen Lügen der Regierung, die besonders bei den jungen Leuten, die das Staatsfernsehen verachten und sich nur im Internet informieren, Empörung hervorrufen. Die persönliche Kränkung über eine solche verächtliche Behandlung denkender Menschen war auch das wichtigste Motiv der Teilnehmer an den Protesten im Winter 2011-12, der „Schneerevolution“. Damals ging es um die Fälschung der Duma-Wahlen und das als würdelos empfundene Machtspiel des „Tandems“ Putin/Medwedjew, das dem Präsidenten eine gesetzlich nicht vorgesehene weitere Amtszeit auf dem Posten des Ministerpräsidenten verschaffte. Diesen Ereignissen, die heute vielfach in Erinnerung gebracht werden, ist der damals aktuelle Eintrag „Zum Neuen Jahr 2012: das neue Russland auf dem Bolotnaja-Platz“ (3.01.2012) gewidmet.


Alles so wie 1917 - ein satirischer Kommentar

Unehrlichkeit in der Politik ist zweifellos keine spezifisch russische Erscheinung, aber in Russland hat dieses Phänomen spätestens mit der Entstehung des ersten sozialistischen Staates vor hundert Jahren extreme Formen angenommen. Im Lager der Opposition ist die Ansicht verbreitet, eigentlich habe sich seither im gesamten politischen Leben Russlands nichts Wesentliches verändert. Als Beispiel sei hier ein satirisch gefärbter Beitrag auf der website des Radiosenders „Echo Moskwy“ angeführt, der einer der letzten freien Kanäle in Russland ist. Der Autor D. Dudkov beginnt seinen am 7.November (dem ehemaligen „Tag der Großen Sozialistischen Oktoberevolution“) veröffentlichten Artikel mit der folgenden Nachricht: „Die Parade auf dem Roten Platz am 7. November wird der Kandidat für das Politbüro des ZK der KPdSU Wladimir Dolgich abnehmen. Er ist auch Mitglied des Moskauer Senats.“ Und er fügt hinzu: „Das ist so etwa alles, was man von diesem jetzigen Revolutionsjubiläum wissen muss“. Es ist natürlich von einem „ehemaligen“ Kandidaten des Politbüros (1982-1988) die Rede, aber das spielt hier keine Rolle. Der Kandidat ist genauso gegenwärtig wie der Senator. Und dazu führt der Verfasser noch eine Reihe anderer wohlbekannter Einrichtungen und Ereignisse an: „Wie vor hundert Jahren ist die Duma zu einem nutzlosen Appendix des Zaren degeneriert, es gibt keine wie auch immer geartete Volksvertretung und ein Krieg ist im Gange (wenn auch kein Weltkrieg, aber uns reicht er schon so)“. Im weiteren wird eine Regierung angeführt, die sich Sorgen um den „Raub von Biomaterial“ macht. (Tatsächlich hatte der Präsident durch eine Bemerkung über die illegale Ausfuhr von menschlichen Organen, Blut und Gewebeproben eine Diskussion ausgelöst, in der der Verdacht geäußert wurde, das Pentagon könnte biologische Waffen gegen „russische Menschen“ entwickeln). Am Ende dieses Horrorszenarios steht eine „wunderschöne revolutionäre Situation“, die gleichfalls an 1917 erinnere.

Zum Thema der Unehrlichkeit sei hier eine typische Äußerung des Präsidenten angeführt, die sich auf den Umgang der Regierung mit der Opposition bezieht. In einem seiner feierlich zelebrierten Auftritte, hier vor dem Rat des Präsidenten zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte, kam das Verhältnis des Staates zu dem oben zitierten oppositionellen Radiosender „Echo Moskwy“ zur Sprache. Xenija Sobtschak, eine glamouröse TV-Moderatorin, die sich zur Opposition bekennt und neuerdings, offenbar mit Duldung der Regierung, als Bewerberin um die Kandidatur für das Präsidentenamt auftritt, erlaubte sich eine in dieser Umgebung sehr ungehörige Frage an Wladimir Putin: warum die Regierung, wenn sie wirklich an Meinungsvielfalt interessiert sei, ein Organ wie den Sender „Echo Moskwy“ mit einer „Atmosphäre des Hasses“ verfolge und unter Druck setze. Offensichtlich verstimmt über diese Respektlosigkeit, verzichtete Putin dennoch auf einen Gegenangriff und stellte die Behauptung Sobtschaks kurzerhand als einen Irrtum dar. Von Verfolgung könne keine Rede sein. „Echo Moskwy“ sei im Gegenteil „einfach ein vom Staat freundlich behandelter Sender“ (prosto oblaskannaja gosudarstvom radiostancija - was auch mit der „liebevollen“, „zärtlichen“ Behandlung eines Kindes vergleichbar wäre). Insofern sei „Echo Moskwy“ eine „unikale Erscheinung auf dem Planeten“. Man könne sich schwerlich eine analoge Einrichtung in Amerika vorstellen, etwa “Das Echo Washingtons“ – eine Feststellung, der man nicht widersprechen kann.

Über eine ähnliche Episode, die von einer im Geheimdienst geschulten Rhetorik zeugt, wird in dem erwähnten Eintrag „Wir lieben Russland“ (zu den Protesten am 12. Juni) berichtet. In Dezember 2016 reagierte der Präsident bei einer Zusammenkunft von Kinoregisseuren auf die in einem respektvollen Ton vorgetragene Bitte eines Teilnehmers, der Präsident möge sich doch für die Begnadigung des ukrainischen Regisseurs Oleg Senzow einsetzen, der wegen angeblich von ihm vorbereiteter Terrorakte auf der Krim zu 20 Jahren Straflager verurteilt worden ist. Er würde gern Barmherzigkeit walten lassen, erklärte Putin, aber schließlich gebe es ein Gerichtsurteil, und der Regisseur sei nicht seiner Kunst wegen verurteilt worden, sondern deshalb, weil er „sein ganzes Leben dem Terror geweiht“ habe. Abschließend erklärte der Präsident: „Und wir können doch nicht nach christlichen Grundsätzen regieren.“

Um Missverständnissen vorzubeugen, es soll hier nicht behauptet werden, dass die heutige Regierung ein Terrorregime darstelle, vergleichbar mit der Stalinzeit und dem roten Terror der Revolution und des Bürgerkriegs. Es gibt, wie oben festgestellt, auch Ansätze zu einer offiziellen Erinnerungskultur für die Opfer der Repressionen, dazu gehört auch das in diesem Jahr eingeweihte Denkmal „Mauer der Trauer“ in der Innenstadt von Moskau. Auch die allgemeine Ansicht, man solle dem Revolutionsführer Lenin endlich ein würdiges Begräbnis zuteil werden lassen, gehört zu den symbolischen Akten einer Abkehr vom totalitären Kommunismus. Aber es fehlt auch hier an Glaubwürdigkeit einer Politik, die eher von taktischen Erwägungen als von einem echten Bemühen um die Schaffung einer demokratischen Ordnung geleitet ist. Lenin soll hauptsächlich deshalb verschwinden, weil die Ausstellung eines toten Körpers im Herzen einer modernen Großstadt wie ein mittelalterlicher Anachronismus erscheinen könnte.


Kontrast zum heutigen Russland: Maxim Gorki 1917

Wenn es also um das Jubiläumsjahr und in diesem Zusammenhang um die Regierung im heutigen Russland geht, fällt die Bilanz eher enttäuschend als ermutigend aus. Sie offenbart den Zustand eines autoritären Staates und einer Mehrheitsgesellschaft, denen ein festes Fundament humanitärer Werte fehlt, ein Defizit, das durch den patriotischen Stolz auf die neue „geopolitische“ Bedeutung Russlands nicht kompensiert werden kann. Einen deutlichen Kontrast zu diesem Befund bilden die dem Schriftsteller Maxim Gorki gewidmeten Einträge auf diesem Blog. Seine Rolle in den Ereignissen des Jahres 1917 lässt trotz mancher Widersprüche in seinen Ansichten und seinem Verhalten keinen Zweifel daran aufkommen, das sein Denken und Handeln immer von bestimmten Grundwerten geleitet wurde. Im Bereich der im engeren Sinne politischen Überzeugungen gehörten dazu der Wert des Lebens eines jeden Menschen und die prinzipielle Verurteilung von Gewalt, die Freiheitsrechte des einzelnen, insbesondere die von dem Mann des Wortes leidenschaftlich verteidigte Meinungs- und Pressefreiheit. Im Bereich der Institutionen waren es die Parteien und die repräsentative Demokratie in Gestalt freier Wahlen und des Parlaments, der Duma. Allerdings waren diese Überzeugungen bei Gorki immer mit einem tiefen Misstrauen gegen jede „Politik“ im Sinne von Machtspielen einzelner Gruppen mit dem Mitteln von Gewalt und Demagogie verbunden. Sie wurden überwölbt von dem Begriff der Kultur, der in Gorkis Denken einen hohen, fast religiösen Status erhielt. Im politischen Raum ohne feste Konturen, bezeichnete die Kultur für Gorki die Moral und die Menschlichkeit schlechthin, eng verbunden mit dem schöpferischen Geist der Kunst, oft auch einfach umschrieben mit dem Ausdruck eines „anständigen“ Verhaltens. Nach seiner Überzeugung waren diese Werte vor allem Errungenschaften der europäischen Kultur, Russlands Weg in der Geschichte sah er allein in der nationalspezifischen Aneignung eben dieser Leitlinien, die er insbesondere in dem Aufsatz „Zwei Seelen“ (1915) ausgeführt hat. Dort erscheinen die Russen als Menschen mit einem gebrochenen Nationalcharakter, von ihrer „östlichen“ historischen Herkunft zu Passivität, Anarchie und Mystik neigend, während das Vorbild des „westlichen“ europäischen Menschen mit seiner unermüdlichen Schaffenskraft und Selbstbestimmung die Russen aufrufe und auch befähige, diesem Weg zu folgen. Vieles an diesem Konzept hat aus heutiger Sicht einen rassistischen Beigeschmack, ist aber mit Hasspredigten unserer Zeit nicht vergleichbar.
Gorki machte nie einen Hehl daraus, dass dieser Wertekanon nicht marxistisch genannt werden konnte. Lenin hat über Gorki gesagt, er sei „in der Politik erzcharakterlos“. Der Schriftsteller selbst bekannte, anspielend auf seine unklare Position zwischen Bolschewiki und Menschewiki: „Ich bin nicht Be, nicht Me, sondern Kikeriki“.
Ernsthaft sprach er vom Leitbegriff eines „sozialen Idealismus“ und entwarf in seinen „Unzeitgemäßen Gedanken“ das Bild eines unermüdlichen Kämpfers für eine bessere Welt. Dazu der Eintrag „Maxim Gorki – der „ewige Revolutionär“ (25. März).


Zwei Revolutionen in krassem Gegensatz

Von diesem Wertekanon ausgehend, machte Gorki einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution, der in den Überschriften der beiden zusammenhängenden Einträge auf diesem Blog hervorgehoben ist: „Das russische Volk hat sich mit der Freiheit vermählt“ – Gorki und die Februarrevolution (18. Oktober) und „Wahnwitzige, von Blut und Schmutz besudelte Tage“ – Gorki und die Oktoberrevolution (3. November). Beide Themen – sowohl das Freiheitspathos nach dem Sturz der Monarchie als auch der Protest gegen den Oktoberaufstand, waren in sowjetischer Zeit für die Öffentlichkeit verboten, und sie waren auch jetzt kein Thema der Debatte zum Jubiläumsjahr. Ungeheuerlich in den Augen der sowjetischen Führung waren vor allem die Äußerungen Gorkis über die Oktoberereignisse. Sie waren nach Gorkis Auffassung keine sozialistische Revolution, sondern ein „russischer Aufstand“ der Massen mit ihren „animalischen Instinkten“, angestachelt von Lenin und seinen Genossen, gewissenlosen Abenteurern, die im Stil der Revolutionäre in Dostojewskijs Roman „Die Dämonen“ ein grausames Experiment mit dem russischen Volk veranstalteten – „mit Volldampf durch den Sumpf!“


Die Nachtseite der Revolution in zwei Erzählungen Gorki

Diese dunkle Seite der Revolution hat Gorki auch in einem künstlerischen Werk gestaltet, zwei Erzählungen zu diesem Thema, im Abstand von drei Jahrzehnten veröffentlicht, sind auf dem Blog vorgestellt: Die Revolution als Projekt eines Wahnsinnigen – Gorkis Erzählung „Ein Irrtum“ (1895) (23. Mai) und „Vereinfachung“ als Prinzip des Bolschewismus – Gorkis „Geschichte vom Ungewöhnlichen“ (1925) (10. Dezember).
In der Erzählung „Ein Irrtum“ hat Gorki einen realen Stoff, den pathologischen Fall eines Revolutionärs, mit biblischen Metaphernh zu der Figur eines fanatischen Propheten umgestaltet, der in vielem an die Führer des sowjetischen Imperiums erinnert, lange bevor diese Utopie Wirklichkeit wurde. Die „Geschichte vom Ungewöhnlichen“ ist ein Werk, das mehr als viele andere aus dem Erbe Gorkis das Verdammungsurteil „antisowjetisch“ verdient hatte, obwohl seine Botschaft erst in der Perestrojka von Kritikern erkannt wurde. Ein Bauernjunge, der als Waisenkind eine schwere Kindheit erlebt und aus seinen Erfahrungen eine aus grobem Holz geschnitzte Theorie der Welterlösung entwickelt, findet seinen Weg zu den Bolschewiki und entdeckt dort die Verwirklichung seines Ideals: alles Übel der Welt kommt von der Ungleichkeit, die von den unnützen Dingen der Zivilisation, dem Reichtum, erzeugt wird, und ebenso von dem „Ungewöhnlichen“ geistiger Art, Ideen, Büchern, Kultur. Dagegen hilft nur die radikale „Vereinfachung“ des Lebens, die Vernichtung dieser ganzen nutzlosen Kultur und in letzter Konsequenz die physische Vernichtung Andersdenkender. Gorki hat hier wenn nicht das Wesen, so doch eine dem Bolschewismus innewohnende Gefahr erkannt – seinen kultur- und menschenfeindlichen Charakter. Dass er wenige Jahre später selbst in dieses Reich der „Vereinfacher“ zurückkehrte und glaubte, in dieser Umgebung die Kultur, das Ungewöhnliche, verteidigen zu können, war der tragische Irrtum seines Lebens.


Zwei Empfehlungen zu Schluss

Für diejenigen Besucher des Blogs, die sich mehr für die Gegenwart als für die Revolutionen vor hundert Jahren interessieren, sei die Rezension eines in diesem Jahr erschienenen Romans in russischer Sprache empfohlen: Das beleidigte Russland: eine junge Frau erklärt der akademischen Welt des Westens den Krieg (20. September). Die zweifellos begabte Debütantin Olga Breininger, eine deutschstämmige Russin aus Kasachstan, als „Spätaussiedlerin“ nach Deutschland gekommen und von dort aufgebrochen zu einem erfolgreichen Studium in Oxford und an der Harvard University, schreibt sich den Frust von der Seele, den diese Ochsentour in ihr erzeugt hat. Neben haarsträubenden Thesen über den „verfaulten Westen“ enthält das Buch auch bemerkenswerte Beiträge zu den weltweiten Debatten über Gender- und Generationsprobleme. Der Roman heißt „In der Sowjetunion gab es kein Adderol“.

Empfehlen möchte ich zudem ein Internetportal zu Russlandthemen in Politik und Kultur: www.dekoder.org , das nicht wie andere dem Motto „an Russland muss man einfach glauben“ folgt, sondern das Land durch solide und zugleich unterhaltsame Information „entschlüsseln“ will. Ich bin in den Förderklub eingetreten, vielleicht etwas voreilig, denn das von Robert-Bosch-Stiftung, Zeit-Stiftung u.a. unterstützte Projekt scheint mir fast zu „reich“ und zu offiziell zu sein, und damit als unabhängige Antwort auf die vielen Russlandversteher schon wieder in Frage gestellt. Aber reingucken ist unbedingt empfehlenwert.

Ich bitte um Nachsicht, wenn dieser Eintrag entgegen meiner Absicht doch zu einem der vielen Jahresrückblicke ausgeufert ist, von denen es um diese Jahreszeit genügend gibt, und wünsche den Besuchern des „unbekannten Gorki“ ein erfolgreiches und glückliches Neues Jahr 2018.

Kategorie: Russland und die Russen

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