Gorki über „russische Menschen“ – „Erlebnisse und Begegnungen“ (1924)
Samstag, 24. März 2018, 20:03:48

Gorki-Denkmal am Fedorovskij-Ufer in Nishni Nowgorod
Die Präsidentenwahl am 18. März fällt in diesem Jahr nahezu genau zusammen mit dem 150. Geburtstag Maxim Gorkis am 28. März. Und es gibt hier mehr an möglichen Zusammenhängen zu entdecken als nur den kalendarischen Zufall. Das voraussehbare Ergebnis von ca. 77 % für Wladimir Putin und die volksfestartige Inszenierung der Wahl löste bei uns wieder einmal die Welle der ewigen Fragen an Russland und die Russen aus: was sind das für Menschen, warum denken und fühlen sie ein Jahrhundert nach dem Fall der Monarchie immer noch so monarchistisch und patriarchalisch? Warum sind „Freiheit“ und „Demokratie“ heute in Russland eher Schimpfwörter als Ideale und warum glauben die Russen immer noch, dass „der Westen“ nichts anderes im Sinn hat als Russland zu vernichten?
Da bietet es sich an, den Jubilar Maxim Gorki zu fragen, einen wahren Kenner Russlands, der sein ganzes künstlerisches Werk und seine ganze politische Tätigkeit der Sorge um das nationale Schicksal und der aufmerksamen Beobachtung seiner Landsleute gewidmet hat. Seine besondere Eignung als Russlandexperte hat Gorki dadurch bewiesen, dass er sowohl einer der radikalsten Kritiker der russischen Verhältnisse als auch einer der größten Bewunderer des russischen Volkes und seiner „sonderbaren“, „interessanten“, „talentierten“ Menschen war, denen er – wie Dostojewskij – eine große Zukunft vorhersagte, wenn auch nicht als Retter der Christenheit, sondern als Vorbild für die kulturstiftende Bedeutung der Arbeit und der Selbstbestimmung.
Das Material für diese Befragung entnehme ich einem Buch Gorkis, das der Autor selbst als eine anthropologische Studie verstehen wollte, es sollte ursprünglich heißen „das Buch von den russischen Menschen, wie sie einmal waren“. Weniger ambitioniert und einfacher erschien ihm dann der Titel „Bemerkungen aus dem Tagebuch. Erinnerungen“ (Zametki iz dnevnika. Vospominanija). In der Originalsprache ist es 1924 in dem russischen I. Ladyschnikow Verlag in Berlin erschienen, dort im selben Jahr auch als deutsche Übersetzung von Erich Boehme unter dem Titel „Erlebnisse und Begegnungen“, aus der im folgenden zitiert wird.
Zu den traditionellen Fragen an Russland gehört auch die nach der Bedeutung der russischen Provinz in ihrem Verhältnis zu den europäisierten Metropolen. Russland, erfahren wir bei Gorki, das ist nicht Moskau und Petersburg. „Russland ist ein Staat der Kreisstädte“, erklärt Tiunov, der Bewohner und „Philosoph“ einer solchen Kreisstadt, für die Gorki den Namen Okurow erfunden hat. Das Buch „Erlebnisse und Begegnungen“ setzt einen Themenkomplex fort, der schon 1910 mit dem Buch „Das Städtchen Okurow“ begonnen hatte. Den gleichen Schauplatz hat auch der um dieselbe Zeit entstandene Roman „Des Leben des Matwej Koschemjakin“, die Geschichte eines sensiblen Menschen aus dem Kaufmannsstand, der als junger Mann an dem grausamen, menschenfeinlichen Milieu der Stadt zu zerbrechen droht und seinen Platz erst in der Rolle des Beobachters und Chronisten findet.
„Ein Städtchen“
Der erste von den 31 Texten der „Erlebnisse und Begegnungen“ ist „Ein Städtchen“ überschrieben, und auf diesen ersten Seiten bleibt kein Zweifel daran, dass es sich bei diesem namenlosen Städtchen um einen extrem hässlichen Ort handelt, an dem kein vernünftiger Mensch wohnen möchte. Der Ich-Erzähler sitzt auf den Hügeln vor der Stadt auf einem ehemaligen Friedhof, um ihn herum verwilderte Gräber, man sagt, es sollen dort Aufständische aus den Bauernheeren von Stenka Rasin und Jemeljan Pugatschow liegen. In der Nähe ein primitiver Ziegelbau, wo hinter eisenbeschlagenen Türen Folterwerkzeuge aus vergangegen Zeiten wie Ketten, Peitschen und Knuten aufbewahrt werden, der Stadt zum warnenden Andenken aufbewahrt: „du sollst nicht meutern!“
Die unwirtliche Atmosphäre dieses Ortes wird verstärkt durch drückende Mittagshitze: „Aus graublauem Himmel strömt unsichtbar flüssiges Blei hernieder“. (In „Meine Kindheit“ spricht Gorki von den „bleiernen Abscheulichkeiten“ des russischen Lebens.)
Es geht hier nicht um ethnografische Beschreibungen, sondern um einen mythischen, symbolischen Ort: das hässliche Russland, genauer, die hässliche Seite dieses Landes.
Das gilt auch für die „sonderbaren Menschen“, die diesen Ort bewohnen, und die nun in sieben exemplarischen Porträts vorgestellt werden. Ihr gemeinsames Merkmal ist die körperliche Missgestalt in Verbindung mit einer ebenso missgestalteten Gedankenwelt.
Der Barbier Baliasin ist lang und dünn, er verdreht beim Gehen die Schultern und hat einen Kopf wie eine Natter, klein, mit gelben Augen. Er macht sich Gedanken darüber, dass möglicherweise morgen die Sonne nicht aufgehen könnte. Die Angst in ewiger Finsternis, das wäre gut für die Menschen als eine Art Strafe Gottes, meint Baliasin. Der Uhrmacher Korzow, genannt der Beißfloh, ein kleiner haariger Kerl mit langen Armen ist ein Patriot und Verehrer des Schönen, schwärmt vom Geschmack der russischen Kartoffel und den Harmonikas und Sicherheitsschlössern, die „wir dem dummen Amerika unter die Nase reiben können“. Der einäugige Pächter der städtischen Badeanstalt sieht aus wie eine Spinne und ist gefürchtet, weil er Menschen denunziert und mit falschen Beschuldigungen vor Gericht zerrt, „weil ich mir mein Recht nicht nehmen lassen will“, sagt er. Der Nichtstuer Lesnikow erklärt: „Ich langweile mich ekelhaft. Ob ich vielleicht anfangen sollte an Gott zu glauben?“ Und der Kirchenälteste Simin belehrt den Ich-Erzähler: „Am Verstand leiden die Leute… Wir haben die Einfalt verloren. Unser Herz ist ja brav, aber der Verstand – ein Halunke“. Es gibt sogar einen Freigeist and Atheisten in Gestalt des Schlossers Puschkariow. „Was heißt – Gott? Das ist doch nur Schwindel!“, erkärt er. „Über uns gibt es nichts als die blaue Luft. Und unsere Gedanken kommen aus der blauen Luft. Blau leben wir, blau denken wir – das ist die ganze Geschichte“.
Sie leben „dumm“ und „schmutzig“
Der Besucher der Stadt, unverkennbar der Schriftsteller Gorki, zeigt sich ratlos angesichts dieser gleichsam vormenschlichen Wesen: „Wozu ist diese Stadt gut, wozu die Menschen, die in ihr hausen?“ Es gebe kein anderes Land, meint er, „in dem die Menschen so viel schwatzen, so ohne Zusammenhang und ohne Richtlinien denken, wie sie in Russland schwatzen und denken, namentlich in der Provinz“. Ganz ausreichend erscheint dem Erzähler diese einfache Erklärung allerdings nicht und er fügt ein Urteil im Stil des Didaktikers Gorki hinzu: „Ich beobachte diese Menschen, und es will mir so scheinen, dass sie zuallererst dumm leben und in zweiter Linie deshalb auch schmutzig, langweilig, verbittert und verbrecherisch. Sie haben ja auch ihre Talente, aber sie sind doch eigentlich so recht die Helden für Anekdoten.“ In die Sprache der Publizistik Gorkis übertragen, heißt das: hier fehlt Bildung und Kultur, die Überwindung von Angst und Aberglaube durch die Kraft des Verstandes und der Arbeit. Unerwartet nach all dieser harschen Kritik erscheint dann aber doch eine Einschränkung, der Hinweis auf die „Talente“ dieser Menschen. Worin sollen sie bestehen angesichts der vorgeführten monströsen Gestalten?
Die Antwort folgt im Nachwort des Buches, wo sich Gorki auf ein wesentlich vielfältiger gestaltetes Personal von russischen Menschen in diesem Buch beziehen kann. Sie bieten ein reiches Material für den Künstler und Menschengestalter Gorki. So folgt unmittelbar nach dem Einführungsteil die skizzenartige Abhandlung „Feuer“ (Пожары, eigentlich im Plural, Brände), wo es um eine „unheimliche Neugier“ auf die „Zauberkraft des Feuers“ geht, ausgelöst durch Aberglauben, mystisches Denken oder eine rein ästhetische Faszination. Diese Erzählungen vom Feuer beeindrucken nicht zuletzt durch die bilderreiche Sprache, mit der das geheimnisvolle Element in Szene gesetzt wird. Jenseits von jeder Moral und nur durch künsterische Neugier geprägt sind auch die Szenen „Menschen mit sich allein“, wo es um die seltsamen Verhaltensweisen von Menschen geht, die sich unbeobachtet fühlen.
Die Bewohner von Okurow ändern sich nicht
Dennoch nimmt die eingangs vorgestellte Gruppe von eher abstoßenden „russischen Menschen“ im Buch einen erheblichen Raum ein, sie ist zwar nicht durchgehend präsent, aber sie bildet gleichsam eine Konstante in der Porträtgalerie des Buches. Der historische Rahmen der „Erlebnisse“ reicht vom Jahrhundertanfang bis in die Revolutionsjahre 1917-18 und schließt damit Umbrüche wie zwei Kriege ein, den russisch-japanischen und den Weltkrieg, und ebenso die ihnen folgenden Revolutionen von 1905 und 1917. Dennoch ist die Gruppe der Menschen, die – nach Gorkis Worten –„dumm und schmutzig“ leben, in allen Abschnitten der geschilderten historischen Zeit vertreten, jeweils angepasst an die Verhältnisse, aber im Kern unverändert.
Unter dem Zaren ist der Trunkenbold Grischka („Ein Henker“) stolz auf sein „geheimes Amt zum Wohle des Volkes“ bei der Polizei und bittet um Erlaubnis, einen roten Kaftan und Hosen mit roten Biesen zu tragen. Im Weltkrieg folgen ihm ebenso kaltherzige Soldaten wie ein ordengeschmückter Scharfschütze, der 40 Deutsche beim Wasserholen erschossen hat („Ein Held“) und ein General, der einem Medizinprofessor für seine bakteriologischen Versuche zum Tode verurteilte jüdische Häftlinge anbietet („Von Krieg und Revolution“). Nach der Oktoberrevolution wird das systematische Töten erst recht zur normalen Erscheinung, zuerst theoretisch in den Köpfen wütender Revolutionäre, die den Klassenfeind vernichten wollen, dann in der Praxis durch abgestumpfte Soldaten der Erschießungskommandos („Alltagsleben“).
Auch der erwähnte einäugige Bademeister, den alle als Denunzianten und Prozesshansel fürchten („Ein Städtchen“) findet einen würdigen Nachfolger in dem Helden der Erzählung „Ein Gesetzgeber“. Ein korrekt gekleideter Herr bringt dem Schriftsteller nach der Februarrevolution einen Gesetzentwurf vorbei, demzufolge alle Personen, die sich „skopzisch“ (soll heißen „skeptisch“) über die Freiheit äußern, zu verhaften sind. Er nennt auch gleich die Namen verdächtiger Personen aus seiner Bekanntschaft.
Bashka, der Bucklige („Fremde Menschen“) gilt als Zauberer und erzählt Schauergeschichten über den menschlichen Körper, wo „Millionen von Stäubchen“ (Mikroben) ihr Unwesen treiben und entwickelt eine Typologie der Teufel nach Farben, Formen und Wirkungen auf den Menschen sortiert. Nach der Revolution finden sich für diesen Typ des Predigers und Verschwörungstheoretikers neue Zielscheiben: die Revolutionäre, die Juden und die Intelligenzija.
„Suchende“
Vieles ist hier nicht eine Frage des Nationalcharakters, wie Gorki meint, sondern Resultat der allgemeinen Verrohung der Menschen in Zeiten des Krieges und der Revolution. In der wirren Gedankenwelt der Provinzler begegnen aber auch ernstere philosophische Themen, die auch den Autor Gorki bewegen und an die Welt Dostojewskijs erinnern. In der Erzählung „Suchende“ (Ispytateli, wörtlich 'Prüfer', 'Examinatoren') geht es um nichts weniger als die Existenz Gottes und den freien Willen des Menschen, und mit solchen Gedanken quälen sich nicht Studenten und Intellektuelle wie in „Schuld und Sühne“, sondern sogenannte einfache Menschen. Der Bademeister Prochorow hat, wie er meint, zu viel Erfolg im Leben. Andere haben mehr Begabungen, warum gelingt ihm immer alles? Aus reiner „Neugier“ – immer ein starker Antrieb bei Gorki! – beschließt er, „unehrlich zu leben“ und zu sehen, was dann kommt. Seine kriminelle Karriere reicht von Unterschlagung und Einbrüchen bis zu einem beinahe vollbrachten Mord an einem unschuldigen Jungen. Dass er vor der Tat zurückschreckt, ist keine Gewissensentscheidung, sondern der Verdacht, es könne sich hier um ein „Falle“ handeln. Nachdem er es endlich geschafft hat, durch Selbstanzeige ins Gefängnis zu kommen, genießt er einen ruhigen Lebensabend. Sein Erkenntnisgewinn ist die Widerlegung einer These, die zu den geflügelten Worten Gorkis zählt: „Nein, der Mensch hat meiner Meinung nach keinerlei Anlass stolz zu sein“.
Der Lastenkutscher Merkulow hat das Spiel mit Gott und mit sich selbst noch einen Schritt weiter getrieben. Er hat einen Menschen „rein aus Neugier“ umgebracht und könnte es jederzeit wieder tun. Zu einem Priester sagt er: „Ich könnte dich sogar in aller Herzensgüte totschlagen! Erst noch beten und dann totschlagen! Das sollst du mir mal klarmachen!“ Der Mord an einem hilflosen schwachsinnigen Mädchen bringt ihn dennoch zum Weinen. Er beendet sein Leben mit Selbstmord. Ein Richter sagt dem Schriftsteller, von allen Mördern, mit denen er zu tun hatte, habe nur dieser in ihm „ein Gefühl der Furcht vor dem Menschen erweckt“.
Das „Schweigen Gottes“ ist ein Leitmotiv schon im Frühwerk Gorkis, in voller Stärke entfaltet es sich aber im Werk der zwanziger Jahre als Reflex der Erfahrungen aus dem Weltkrieg und den Revolutionen. Zu den „Suchenden“ gehört auch der Held der Erzählung „Karamora“ (Stechfliege) aus dem Zyklus „Erzählungen 1922-1924“, ein Bolschewik, der die eigenen Genossen kaltblütig ans Messer geliefert hat.
Zwei Kaufleute aus Nishni Nowgorod
Es sind die eigenen Zweifel des Autors, die in diesem Buch verhandelt werden. Das wird am deutlichsten in den Begegnungen Gorkis mit zwei historischen Gestalten am Anfang des Jahrhunderts in seiner Heimatstadt Nischni Nowgorod. Beide gehören nach Stand und Überzeugungen zum Lager der Gegner des Schriftstellers, einer, W.I. Brejew, ist ein militanter Verfechter des russischen Nationalismus („Der Monarchist“), der andere, Nikolaj Bugrow (so auch der Titel), ein Millionär und Angehöriger der Altgläubigen, er macht sich Gedanken über Reformen des Staates, die auf dem Wert der Arbeit basieren. Beide sind, jeder auf seine Weise, Leser der Werke Gorkis, was diesen Erzählungen eine besondere Spannung verleiht.
„Der Monarchist“
Die Gestalt des Monarchisten Brejew bietet in unserem Zusammenhang eine gute Einführung in die Welt der russischen Patrioten der Zarenzeit, die in gewisser Weise bis heute - oder heute von neuem - das Leben in Russland bestimmt. Brejew, ein Geschäftsmann mit den Talenten eines Hochstaplers, der von einem kleinen Straßenhändler mit kirchlicher Literatur zu einem erfolgreichen Verleger lokalgeschichtlicher Werke aufgestiegen ist, sucht den Kontakt zu Gorki aus rein kommerziellen Gründen. Als gerade aufgestiegener Star der russischen Literatur soll Gorki ihm für 50 Rubel eine Autobiogaphie für die Serie berühmter Söhne der Stadt liefern. Zwanzig Jahre später, im Revolutionsjahr 1917, erscheint er wieder bei Gorki und lockt ihn diesmal mit dreisten Schmeicheleien, die Gorki mit einer gewissen Selbstironie zitiert: „Wer kennt denn das wunderbare Leben des russischen Menschen so gut wie Sie?“ Brejews Credo lautet „Der Mensch lebt von seinem Traum“, und auch hier erlaubt er sich, an Gorki gewendet, eine schamlose Vertraulichkeit: „Sie sind doch auch ein Mensch des Traumes“. Dabei könnte der Unterschied zwischen ihren Träumen nicht gößer sein. Brejew war aktives Mitglied der nationalistischen „Schwarzhundertschaft“. Er träumte von einem mächtigen Russland mit einem Zaren an der Spitze wie Iwan der Schreckliche. Den Höhepunkt seiner patriotischen Begeisterung habe er bei den Feiern zum 300. Jahrestag des Herrscherhauses Romanow (1913) erlebt, erzählt Brejew: „Unser ganzes unansehnliches Leben schien plötzlich zu einer kaiserlichen Oper geworden sein. Große Tage waren das“. Zur Aktualität dieses Ereignisses sei hier erwähnt, dass ein Jahrhundert später, am 9. November 2013, aus dem gleichen Anlass im Festsaal des Kreml ein „Kaiserball“ (imperatorskij bal) in historischen Kostümen stattgefunden hat.
Brejews Einstellung zu dem Volk, für dessen Wohl die Monarchie angeblich sorgt, ist dagegen von Verachtung und Zynismus geprägt. Das Volk existiere eigentlich nicht, sagt er, solange man es nicht „zu einem Haufen zusammentreibt und ihm Befehle gibt“. Und so wird es nach den gegenwärtigen Unruhen wieder geschehen: „Revolution? Freiheit? Hören Sie mir nur damit auf! Morgen oder übermorgen wird einer kommen und brüllen ‚Halt’s Maul! Jetzt werde ich euch mal zeigen, wie ihr zu leben habt!’“
Im Rahmen dieser faschistischen Botschaft bringt Brejew noch einmal Gorki ins Spiel. Er habe gehört, dass die neuen Machthaber dem Schriftsteller einen Ministerposten angeboten hätten. Als Gorki das verneint, bedauert er das sehr. Es wäre eine Ehre für ihre gemeinsame Vaterstadt gewesen und mehr als das. Sein geheimer Wunsch ist die Wiederkehr eines „Zaren mit Bauernblut“ und er deutet vorsichtig an, dass Gorki für diese Rolle in Frage käme. Es liegt nahe, diese Geschichte als eine bittere Autoparodie Gorkis zu lesen, der um dieselbe Zeit von dem noch wenig bekannten Stalin öffentlich als Verräter der Revolution gebrandmarkt worden ist.
„N.A. Bugrow“
Die Begegnung Gorkis mit dem Millionär Nikolaj Bugrow folgt auf den ersten Blick demselben Schema wie die mit dem Monarchisten Brejew: der Revolutionär trifft einen Vertreter seiner Feinde. Es handelt sich aber um grundverschiedene Situationen. Hier geht es nicht um die politischen Intrigen eines schlauen Unternehmers, sondern um die Begegnung zweier Menschen, die mit Überraschung feststellen, dass sie miteinander ins Gespräch kommen können, obwohl sie verfeindeten Lagern angehören. Das Zuhören und der Meinungsaustausch mit Andersdenkenden war eines der großen Talente Gorkis. „Beseda“ (Gespräch) hieß die Zeitschrift Gorkis, in der Teile der „Erlebnisse und Begegnungen“ erschienen sind. Sie sollte dem europäischen Geist Zugänge in den verschlossenen Raum des neuen Russlands öffen, eines der vielen Projekte des Brückenbauers Gorki, die am Widerstand der sowjetischen Führung scheiterten.
Ungewöhnliche Kontakte mit scheinbar „fremden“ Menschen suchte Gorki schon in den ersten Jahren seines Aufstiegs zu einem weltbekannten Schriftsteller. Solcherart war die Begegnung mit Nikolaj Bugrow, der in der Wolgaregion um Nischni Nowgorod „eine Rolle wie ein regierender Fürst“ spielte, erzählt Gorki. Man kennt und verehrt ihn dort übrigens noch heute als einen Modernisierer, der die Industrialisierung dieser Region mit seinen Dampfmühlen und einer Flotte von Passagier- und Lastschiffen auf der Wolga vorangetrieben hat. Ein Wohltäter war er für die Angehörigen der Sekte der Altgläubigen, der er selbst angehörte. Er verschaffte den vom Staat grausam verfolgten Bauern Gelegenheiten für ihre heimlichen Gottesdienste, baute ihnen, gestützt auf die Freiheiten, die ihm sein Reichtum verschaffte, Friedhöfe, Klöster und Begegnungsstätten. In Nischni Nowogord errichtete er ein großes Obdachlosenasyl, in dem es offensichtlich viel menschlicher zuging als in dem berühmten „Nachtasyl“ Gorkis. Als Kind hatte der spätere Schriftsteller mit anderen Bettlern dieses Haus besucht.
Als sie sich im Jahr 1901 begegnen, haben die beiden Männer keine gute Meinung voneinander. Man hat Gorki berichtet, Bugrow halte ihn für einen „gefährlichen Bücherschreiber“, der nach Sibirien verbannt werden müsste, ein offensichtlich übertriebenes Gerücht. Gorki seinerseits will mit diesem Geschäftemacher nichts zu tun haben. Auch deshalb nicht, weil Bugrow in jüngeren Jahren mehrfach Mädchen aus armen Familien als Geliebte ins Haus genommen und sie nach einiger Zeit mit großzügigen Abfindungen an Untergebene verheiratet hat. Dieser „Handel mit Mädchenfleisch“ bleibt als Makel an ihm haften, und er versucht ihn zu kompensieren, indem er Einrichtungen zur Ausbildung von jungen Frauen schafft, die ihnen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen.
Gorki sucht den Millionär widerwillig auf, um eine Spende für einen politischen Verbannten zu erbitten. Er hat Erfolg und stellt mit Überraschung fest, dass Bugrow ein Leser seiner Werke ist und sich lebhaft für diesen Star der Literaturszene interessiert. Das Nachtasyl ist ihr erstes Gesprächsthema. Er habe gehört, dass Gorki „aus eigener Kraft“ aus diesem Abgrund aufgestiegen sei, bemerkt Bugrow. Dies ist ein Kompliment, das der Denkweise eines Kaufmanns entspricht. Die Lektüre der Bücher Gorkis hat Bugrow aber auch von den menschlichen Qualitäten des Schriftstellers überzeugt. Mit Bewunderung spricht er von den vielen „sonderbaren“ Menschen, die Gorki schon in frühen Jahren getroffen habe: „Sie müssen ja später eine Unmenge von Erinnerungen haben, wenn Sie mal alt sind! Sie wissen ja heute schon soviel wie ein Alter!“
Ganz im Sinne Gorkis führt Bugrow mit ihm ein „Literaturgespräch“, lobt die Figur des Jakow Majakin in dem Roman „Foma Gordejew“, der einen „echt russischen Kaufmann“ verkörpere, wie er ihn in seiner, Bugrows, Umgebung, noch nirgends gefunden habe. Er hebt auch die besondere Fähigkeit des Künstlers Gorki hervor, die „nützlichen“ ebenso wie die „nutzlosen“ Charaktere mit gleicher Kunst zu schildern, für die letzteren benutzt Bugrow Begriffe wie „dumm“, „schmutzig“ und „unanständig“, die auch Gorki verwendet: „Und Sie verstehen es so gut, von diesen wie von jenen zu erzählen“. In die gleiche Richtung zielt ein Urteil dieses Gorki-Lesers über die Bestimmung des Menschen, der da vor ihm sitzt. Als er erfährt, dass Gorki schon im Gefängnis gesessen hat, erklärt er kategorisch: „Das hätte nicht sein dürfen. Ihre Aufgabe im Leben ist es, zu erzählen, aber nicht … die Bande zu lockern!“ Der bildliche Ausdruck bezieht sich auf die Lockerung und Auflösung der Werte und Traditionen durch revolutionäre Propaganda, Politik also, die nach Bugrows Auffassung nicht Aufgabe des Künstlers ist. Gorki selbst lässt hier keineswegs nur den Klassenfeind zu Wort kommen, der ihm das Rebellieren verbieten will. Er hat in dieser Periode der frühen zwanziger Jahre oft von der Kraft der „reinen Kunst“ gesprochen und sich damit von der Propaganda und seinen utopischen Konstruktionen distanziert.
In der Frage der Umgestaltung der Gesellschaft sind die Gesprächspartner naturgemäß verschiedener Meinung, aber manche Bedenken des konservativen Kaufmanns sind nicht weit von Gorkis eigenen Befürchtungen entfernt. Bugrow sieht im Zustand des Landes „ein Haus, das umgebaut werden muss“. Aber er kann nicht erkennen, woher die Kräfte dazu kommen sollen. „Wie soll man alle Menschen zu dieser Arbeit vereinen, wenn ein Teil von ihnen frei umherweidet wie das liebe Vieh und nichts will außer Futter, dass uns unter den Füßen zuwächst?“ Das gemeinsame Thema der Arbeit ist angeschlagen und die „asiatische“ Seite der russischen Seele mit ihren Neigungen zu Passivität und Fatalismus (in Gorkis Artikel „Zwei Seelen“(1915)). Bugrow sieht wie Gorki die Rückständigkeit des Dorfes, das mit dem zunehmenden Tempo der technischen Revolution nicht mithalten kann. Er erzählt die Geschichte von einem Grammofon, das der Lehrer in einem abgelegenen Dorf den Bewohnern mit Stolz vorführt. Die Reaktion bei den Bauern ist blankes Entsetzen: die menschliche Stimme aus einem Holzkasten, das kann nur Teufelswerk sein, im Dorf breitet sich Angst und Chaos aus. Die Autoritäten, religiöse wie weltliche, verfallen immer mehr, erklärt der Kaufmann, stattdessen bieten wie den Menschen „Mätzchen“ wie das Auto („Pferd ohne Wagen“), Elektrizität und das Telefon.
Diese Skepsis gegenüber den Wirkungen der technischen Revolution, die er selbst aktiv betreibt, gehört zu einem Thema, das Gorki in dieser Geschichte mit großer Aufmerksamkeit beobachtet. Es ist die dunkle Seite in den russischen Seelen der Kaufmannschaft, die sich in zahlreichen persönlichen Schicksalen widerspiegelt. Meist dem Bauerntum entstammend, kommen diese Menschen, jedenfalls die sensiblen unter ihnen, mit den Umbrüchen der Zeit nicht zurecht. „Bugrow lebte in einer Atmosphäre der Emsigkeit“, erzählt Gorki, „zuzeiten aber verwandelte sich diese Öde in einen trägen Wirbel dunkler Ängste“. „Wir in Russland haben eine ganz besondere Sorte von Gewissen“, erklärt Bugrow in seiner eigentümlich verschnörkelten Sprache. „Es hat sich erschreckt, hat den Verstand verloren und ist in die Wälder geflohen…“ Menschen verlieren plötzlich jeden Halt im Leben, werfen alles von sich, begehen Selbstmord, unterstützen die Revolution oder gehen ins Kloster. Im Haus Bugrows erlebt Gorki die Zusammenkunft einiger exzentrischer Millionäre, unter ihnen der bekannte Textilfabrikant Sawwa Morosow, der revolutionäre Organisationen unterstützte und später Selbstmord beging.
Bugrow selbst bekennt: „Alle Menschen arbeiten. Aber für wen denn? … Ich liebe die Arbeit. Aber manchmal muss man doch plötzlich an diese Frage denken“. Der Autor Gorki zeigt sich ratlos angesichts solcher Abgründe: „So leben und so fühlen können wahrscheinlich nur russische Menschen“. Man darf annehmen, dass in die Schilderung dieser Episoden auch spätere Erfahrungen, die Zweifel und Enttäuschungen des Revolutionärs eingegangen sind. Auch Gorki ist einer dieser russischen Menschen.
Um aber doch noch einen Schlusspunkt im Geist des gorkijschen Optimismus zu setzen, erzählt der Autor von seiner letzten Begegnung mit Bugrow. Der Millionär nimmt den Schriftsteller mit in eine von ihm betriebene „Skete“, ein klösterliches Heim für junge Mädchen, in dem sie für hochwertige Handarbeiten ausgebildet werden. Die Assoziation mit dem Thema „Handel mit Mädchenfleisch“ ist hier gänzlich unangebracht. Das wird in einem offenherzigen Gespräch der beiden Männer über die sexuelle Unterdrückung der Frauen unmissverständlich klar. Hier kann davon keine Rede sein. Die Atmosphäre aus Kerzenglanz, Wohlgerüchen und Gesängen hat eher etwas von einer Weihnachtsgeschichte. An der Grenze zum Kitsch wird hier das Bild eines Reichs der Liebe und Freude zelebriert. Am Ende legen sich die Männer im Freien zur Ruhe. Zur Guten Nacht formuliert Bugrow sein Credo: „Blöde ist das Leben. Schrecklich in seiner Wirrnis, - dunkel ist sein Sinn… Aber schön ist es doch!“ Und Gorki hat nichts dagegen einzuwenden: „Ja, es ist schön“.
Aleksandr Blok
Am Schluss des Bandes steht jedoch nicht der Kaufmann und Altgläubige Bugrow, sondern der Dichter Aleksandr Blok, eine Erscheinung wie aus einer anderen Welt. Unter allen russischen Menschen in den „Erlebnissen und Begegnungen“ ist keiner, der die Sprache und die Ideen dieses großen Dichters des Symbolismus auch nur annähernd verstehen könnte. Ausgenommen der Schriftsteller Gorki, der auch mit diesem Menschen ein Gespräch auf Augenhöhe führt, wohl wissend, dass ihre Welten sich fremd sind. Es geht um ein Thema, das zuvor auch von Menschen der „bildungsfernen“ Schichten vertreten worden ist, die Abneigung gegen die Gebildeten, ihre Bücher, ihren Verstand. Dieser russische Bazillus der Verstandeskritik grassiert auch in der Hochkultur der Klassiker, sagt Gorki in der Einführung und zitiert eine Reihe solcher Bekenntisse. „Das Bewusstsein ist das größte moralische Übel“, erklärt Lew Tolstoj in seinem Tagebuch, „sich der Dinge zu sehr bewusst sein, ist eine Krankheit“, stimmt Dostojewskij zu. Auch der Dichter Blok, der der „Musik der Revolution“ lauscht und darin den „Untergang des Humanismus“ vernimmt, misstraut dem rationalen Denken: „Gehirn, Gehirn – das ist kein verlässliches Organ, es ist widernatürlich groß, übermäßig entwickelt. Eine Geschwulst wie ein Kropf…“
Gorki hat es schwer, in dieser Auseinandersetzung seine oft naiven Bekenntnisse zur Wahrheit der Wissenschaft zu verteidigen. Blok hält ihm entgegen, er habe schon lange beobachtet, wie Gorkij sich von der gewöhnlichen Denkweise der Intelligenzija freigemacht habe. „Ich habe schon immer gefühlt, dass das bei Ihnen nicht echt war“. Es seien die „kindlichen Fragen“, die Fragen nach Gott, dem Menschen und dem Tod, die Gorki wirklich bewegten.
Der Streit bleibt unentschieden. Es sei schwer, mit Blok zu sprechen, sagt Gorki, aber er bewundert ihn als Künstler und – nach all den Sonderlingen und grotesken Missgestalten – als einen schönen Menschen: „Mit gefällt sein strenges Gesicht und sein Kopf, der Kopf eines Florentiners der Renaissancezeit“.
„Anstelle eines Nachworts“
Die Schlussbemerkungen („Anstelle eines Nachworts“) des Autors machen noch einmal deutlich, wie schwierig und zwiespältig Gorkis Beziehung zu den russischen Menschen ist. Er zitiert den Begründer des Pragmatismus William James, der 1906 seine Zweifel an der Bewusstseinstätigkeit der Russen geäußert hat. Sie kämen ihm vor wie Menschen von einem anderen Planeten, „wo alles anders und besser ist“. „Ein sehr interessantes Volk“, hat er zu Gorki während dessen Amerikareise gesagt, „aber mir scheint, bei Ihnen arbeitet man ins Leere, wie eine Maschine, die leer läuft. Aber vielleicht sind Sie berufen, die Welt durch irgend etwas ganz Unerwartetes in Erstaunen zu versetzen!“
Der letzte Satz überrascht, er scheint – in den russischen Kontext versetzt - so etwas wie einen nationalen Messianismus anzudeuten, die religiöse Rettung Europas, wie in Dostojewskijs Rede über Puschkin (1880). In der Tat nimmt Gorki den Gedanken auf, dass Russland der Welt Überraschendes und Staunenswertes zu bieten habe, dies aber vor allem aus der Sicht eines Künstlers und Verehrers der schöpferischen Arbeit. Dazu verzichtet Gorki sogar auf seine Lieblingsidee des „neuen Menschen“.
Anknüpfend an das Thema der „russischen Menschen, wie sie einmal waren“, erklärt er, er sei sich über seine Gefühle nicht recht im klaren: „Möchte ich eigentlich, dass diese Menschen anders werden?“ „Mir sind Nationalismus, Patriotismus und alle anderen Krankheiten des geistigen Sehvermögens gänzlich fremd“, bekennt der Autor, “trotzdem halte ich das russische Volk für ganz besonders, für phantastisch begabt und eigenartig. Sogar die Narren sind in Russland originell in ihrer Dummheit, und die Faulpelze sind geradezu genial. Ich bin überzeugt, dass in seiner Empfindsamkeit, in seiner Geschmeidigkeit, sozusagen in der Vielseitigkeit seines Denkens und Fühlens das russische Volk das dankbarste Material für den Künstler abgibt.“
Nach diesem hauptsächlich im Bereich der Ästhetik bleibenden Würdigung will Gorki aber doch nicht dem utopischen Denken entsagen, das sein Markenzeichen ist: „Ich glaube, wenn dieses bewundernswerte Volk einmal alle seine Qualen überstanden hat, die ihm Druck und Wirrnisse im Innern bereiten, wenn es einmal richtig an die Arbeit geht, mit vollem Bewusstsein der kulturellen und, sozusagen, religiösen, die ganze Welt verbindenden Bedeutung der Arbeit – dann wird es ein märchenhaft heroisches Leben leben und wird diese müde und vor Verbrechen wahnsinnig gewordene Welt noch vieles lehren!“
Der Leser der „Erlebnisse und Begegnungen“ Gorkis bleibt trotz dieses optimistischen Ausklangs mit vielen Fragen und Zweifeln zurück. Gilt das alles auch für die Bewohner Okurows, die so „dumm“ und „schmutzig“ leben? Und wo bleiben die Revolutionäre, die nur in der Erzählung „Verbrauchter Dampf“ als enttäuschte und verbitterte Zuschauer der bolschewistischen Revolution figurieren? Welche Bedeutung haben die Erlebnisse und Begegnungen Gorkis für seine Tätigkeit in der Sowjetunion unter Stalin? Und was sagen sie aus über das russische Wahlvolk im Jahr seines 150. Geburtstags?
Mit den möglichen Antworten lässt Sie der Verfasser dieses ohnehin zu lang geratenen Eintrags allein, verehrte Besucher des Blogs „Der unbekannte Gorki“.