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Blog > Eintrag: Literarische Karriere und Leidensweg – die neue Dostojewskij-Biographie von Andreas Guski
Literarische Karriere und Leidensweg – die neue Dostojewskij-Biographie von Andreas Guski Montag, 24. September 2018, 19:32:37  Andreas Guski, Dostojewskij. Eine Biographie, C.H. Beck, München 2018
Vor fünf Jahren (1.11.2013) war auf diesem Blog die Monographie des Slavisten Horst-Jürgen Gerigk „Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller“ vorgestellt worden, in diesem Jahr ist nun ein Buch des Slavisten Andreas Guski erschienen, das gleichfalls nicht nur die internationale Forschung bereichert, sondern auch für ein breites Publikum nachdrücklich zu empfehlen ist. Diesmal geht es in erster Linie nicht um den „durchtriebenen Handwerker des künstlerischen Effekts“ (H.-J. Gerigk), sondern um die Biographie des Schriftstellers, sein „von äußeren und inneren Dramen geprägtes Leben“ (Klappentext). Das „persönliche Leben“ des Autors soll hier nicht „als meist peinliches, nur leider unentbehrliches Anhängsel an sein eigenes Werk“ (K. Nötzel) betrachtet werden, erklärt der Verfasser, sondern im Mittelpunkt der Geschichte stehen, die in diesem Buch über Dostojewskij erzählt wird. Die abfällige Bemerkung über das Privatleben des Klassikers stammt von Karl Nötzel, dem Vertreter einer fast hagiographischen Dostojewskij-Verehrung in den 1920er Jahren in Deutschland. Als Gegenstimme meldete sich damals die österreichische Schriftstellerin Berta Diener-Eckstein (Pseudonym Sir Galahad) mit dem Pamphlet „Idiotenführer durch die russische Literatur“ (1925) zu Wort: gemäß dem herrschenden Dostojewskij-Kult dürfe man seinen Werken „nur Begeisterung“ entgegenbringen, und „auch dies nur demütig“, erklärte die Autorin. Von einer solchen Heiligenverehrung ist die heutige Dostojewskij-Forschung, jedenfalls im Westen, weit entfernt. Ohne die überragende künstlerische Bedeutung des Schriftstellers in der Weltliteratur zu schmälern, wird auch in den angesprochenen neuen Büchern freimütig über die zweifelhaften Thesen seines russischen Patriotismus, über geschmackliche Grenzüberschreitungen in seinem Werk und charakterliche Schwächen des Autors diskutiert.
Leben und Werk – eine unauflösliche Verbindung
Die im Umgang mit der Literatur allgemein umstrittene Frage nach dem Verhältnis von Leben und Werk eines Schriftstellers zueinander lösen die Verfasser der beiden Monographien mit unterschiedlicher Akzentuierung, aber letzlich doch mit einem gemeinsamen Blick auf den wechselseitigen, „synthetischen“ Charakter des Verhältnisses von Kunst und Leben. Gerigk widerspricht der verbreiteten Ansicht, es gehe bei Dostojewskijs Entwicklung in erster Linie um das Leben des Schriftstellers, weil biographische Schlüsselerlebnisse wie die Scheinhinrichtung und die darauf folgende „Wiedergeburt“ zumindest indirekt die künstlerische Produktion bestimmt haben. Dostojewskijs „Leben“ wäre heute für niemanden von Interesse, wenn es nicht das Leben dieses einen Schriftstellers gewesen wäre, erklärt der Verfasser. „Nicht er (der Schriftsteller) ist es, der sein Werk hervorbringt, sondern sein Werk ist es, das ihn hervorbringt“. Wenn Andreas Guski demgegenüber das „Leben“ in den Mittelpunkt seiner Geschichte über Dostojewskij stellt, so scheint mir das keine wirkliche Gegenposition zu sein. Vielmehr zeigt die Darstellung Guskis in eindrucksvoller Weise, wie verschieden und gleichzeitig unauflöslich miteinander verzahnt die Ebenen des außerfiktionalen Lebens und der künstlerischen Erfindungen sind. Dabei ist die Ebene der „Fakten“ weitaus schwieriger zu erschließen als die fiktionale. Guski weist darauf hin, dass Dostojewskijs Schreiben wenig Autobiographisches preisgibt, dass ihm „Selbstentblößungen“ im Gegensatz zu vielen seiner Helden zuwider waren. Tagebücher wie die von Lew Tolstoj gibt es nicht. Auch ein Buch wie „Meine Kindheit“ (Tolstoj und nach ihm Gorki) hätte Dostojewskij nicht schreiben wollen und können. Trotzdem reflektieren die literarischen Werke oft in einer aufschlussreichen Weise persönliche Erlebnisse wie in dem folgenden Beispiel. Die Begegnung mit dem einfachen russischen Volk war, wie wir aus wenigen Äußerungen des Autors und Erinnerungen der Zeitgenossen wissen, für den stolzen Revolutionär eine schreckliche Demütigung und brachte ihm keineswegs das „Einswerden“ mit dem Körper des Volkes. Die Mithäftlinge begegneten dem „Büchermenschen“ mit Herablassung und Spott. Den Sinn eines positiven Schlüsselerlebnisses erhält das Leben im Omsker Zuchthaus erst in den „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, und dort ist das „Einswerden“ mehr die Behauptung des Ich-Erzählers als ein autobiographisches Bekenntnis. Die Aufzeichnungen sind „kein echter Erfahrungsbericht, kein Ego-Dokument“, stellt der Verfasser fest, vielmehr werden die Sträflinge dort zu „Akteuren eines christlichen und zugleich eines nationalen Dramas“. Gerigk spricht in diesem Zusammenhang von den großen „Selbstverwertern“ der Weltliteratur, zu denen er auch Dostojewskij zählt. Ob nun hier der Autor den Text schreibt oder der Text die Persönlichkeit des Autors schafft, lässt sich nicht entscheiden und muss auch nicht im Sinne der Priorität entschieden werden. Die historische Person des Schriftstellers und der Schöpfer des Werkes verschmelzen in dieser Verbindung zu einem mehr oder weniger abstrakten Subjekt, das mit allen seinen Widersprüchen eine eigene „Wahrheit“ verkörpert, die den Namen des Autors trägt.
„Karriere“ und „Leidensweg“ eines Schriftstellers
Der Biograf muss ein guter Erzähler sein. Dass Andreas Guski über dieses Talent verfügt, ist ihm von den Rezensenten mit Recht bescheinigt worden: leserfreundlich, locker, unkonventionell, einfühlsam und dabei kritisch und wissenschaftlich fundiert fanden sie das Buch. Ein Beispiel für diese Darstellungsweise findet sich in der Einleitung, es ist die Verdichtung und teilweise romanhafte „Vergegenwärtigung“ einer symbolträchtigen Situation Dostojewskijs im Sommer 1859. Auf der Rückreise aus der Verbannung macht er im Ural an einem Obelisken halt, der die Grenze zwischen Asien und Europa markiert. Er habe sich bekreuzigt, „weil der Herr mich endlich das gelobte Land hatte sehen lassen“, schreibt er später in einem Brief. Es ist das russische Europa nach der „asiatischen“ Hölle in einem sibirischen Zuchthaus und dem Dienst als gemeiner Soldat, insgesamt fast zehn Jahre. Die Gedanken des Achtunddreißigjährigen kreisen um seinen zukünftigen Lebensweg, der sich ihm in zwei Zielrichtungen darstellt, die eigentlich nicht zusammen passen. Einerseits träumt er von der Fortsetzung seiner Karriere als Schriftsteller, die ihn vor der Verurteilung mit dem Roman „Arme Leute“ in die höchsten Kreise der russischen Literaturszene erhoben hatte. Andererseits hat die Erfahrung der „Wiedergeburt“ nach dem Todesurteil und der Zuchthausstrafe seinem Leben eine neue, religiös fundierte Perspektive eröffnet: es ist der „Leidensweg“ in der Nachfolge Christi, des Menschensohns am Kreuz. Beide Projekte zeugen von einem grenzenlosen Ehrgeiz und der leidenschaftlichen Gewissheit, dass ihm, Dostojewskij, die Bewunderung und Verehrung sowohl des überragenden Künstlers wie die des christlichen Märtyrers zusteht. Guski zeigt in dem als innerer Monolog gestalteten Gedankenspiel aber zugleich die Paradoxalität dieser Träume, die nicht nur dem Biografen und dem Leser, sondern auch dem Helden der Biographie in der geschilderten Situation bewusst ist. Dostojewskij weiß aus der Erfahrung seines ersten literarischen Ruhms, dass eine literarische Karriere keineswegs so frei und selbstbestimmt ist, wie der Künstler sie sich wünscht, dass hier sowohl Opportunismus als auch Durchsetzungsfähigkeit verlangt wird, keinesfalls aber die Demut eines gläubigen Christen. Der Schriftsteller weiß ebenso, das ein heiligmäßiges Leben für ihn überhaupt unmöglich ist, weil es seiner leidenschaftlichen Natur, seinem Lebenshunger widerspricht. Guski spricht in diesem Zusammenhang von einem „typisch westlichen Lebensideal“: „ein faustischer Erkenntnis-, Erlebnis-, Erfolgstrieb, ein Drang zum Titanischen“, wie ihn in der Zeit vor allem Napoleon verkörperte. Auf diese Weise stellt der Verfasser einen Schriftsteller an den Anfang, der in seiner Widersprüchlichkeit zwischen Künstlertum und missionarischem Eifer, rationaler Analyse und Glaubenssehnsucht sowohl den Charakter des historischen Autors Dostojewskij als auch die Grundzüge vieler seiner Helden charakterisiert. Die Zweigleisigkeit der Lebensgeschichte, bestehend aus Karriere und Leidensweg, bestimmt im wesentlichen die gesamte Darstellung der Biographie, und man könnte sich wünschen, dass diese Leitlinie im Aufbau des Buches deutlicher zum Ausdruck gebracht würde als in der sehr kleinteiligen Aufteilung in chronologische Abschnitte. Die folgenden Bemerkungen zu den wichtigsten Themen der Biographie sind zugunsten der Übersichtlichkeit in zwei Teile gegliedert: literarische Karriere und Leidensweg.
Höhen und Tiefen der literarischen Karriere
Die Laufbahn eines freien Schriftstellers als Brotberuf war in der russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ein Novum, sie war, wie Guski ausführt, eine Frucht der Europäisierung unter Peter dem Großen. „Ich bin ein Proletarier der Literatur, und wer meine Arbeit haben will, muss mich im voraus bezahlen“, erklärte Dostojewskij in einem Brief an seinen Freund Strachow, in dem es um einen Vorschuss für den Roman „Der Spieler“ geht. Guski zeigt in aller Ausführlichkeit das Funktionieren des Literaturmarktes, insbesondere die genauen Beträge und Bedingungen der Honorare und Vorschüsse, die das Schreiben und die ganze Existenz des Schriftstellers bestimmten und zugleich eine Rangtabelle der Schriftsteller nach ihrem Marktwert indizierten. Dass die Rivalen Tolstoj und Turgenjew von den Verlegern zunächst ein Vielfaches seiner eigenen Vorschüsse erhielten, kränkte Dostojewskij zutiefst. Zur Herrschaft des Geldes gehört auch die Spielsucht, die schwere Verluste mit sich brachte und dennoch zeitweise die einzige Einnahmequelle der Familie war. Zu den Entbehrungen und Demütigungen infolge ständigen Geldmangels kamen Krankheiten wie die Epilepsie und ein Lungenemphysem, die ihn tagelang arbeitsunfähig machten. Neben der einfühlsamen Schilderung all dieser katastrophalen Bedingungen erhält der Leser aber auch fachkundige Analysen der künstlerischen Erfolge, die Dostojewskijs enorme Kreativität belegen. Entgegen der verbreiteten Auffassung, sein Stil zeige unter dem permanenten Zeitdruck Nachlässigkeiten und mangelnde Disziplin („Redseligkeit“), würdigt Guski ausführlich die Experimente des Schriftstellers mit Themen, Charakteren und Gattungen. Dostojewskij erweist sich dabei nicht nur als Meister der „Metaphysik des Verbrechens“ und eines „gespalteten Bewusstseins“, sondern auch als ein höchst unterhaltsamer Humorist, Satiriker und Parodist. Erst im 20. Jahrhundert seien die schon im Frühwerk vorhandenen Keime der „vielschichtigen, ambivalenten, nervösen, suggestiven Schreibweise“ Dostojewskijs erkannt worden, die die fünf großen Romane kennzeichnet und ihn zum Vorläufer der literarischen Moderne gemacht hat, erklärt der Verfasser. Dazu gehören auch Eigenheiten, die ihm den Ruf eines „grausamen Talents“ eingetragen haben. Das bekannteste Beispiel dafür bildet die Beichte Stawrogins in dem Roman „Die Dämonen“, in der der Held ein ungeheuerliches Verbrechen gesteht, die Verführung eines minderjährigen Mädchens, das in der Folge Selbstmord begeht. Vielfach geäußerte Mutmaßungen über einen autobiographischen Hintergrund dieser Episode haben keinerlei dokumentarische Basis, Zweifel an der moralischen Integrität des Autors weckt aber die suggestive Schreibweise in diesem Bereich. Guski zeigt sich befremdet, ja erschrocken über die Art und Weise, wie Dostojewskij sadistische Neigungen seiner Helden schildert und „bei seinen Lesern immer wieder ein gleiches Maß an niedrigen, bösen, voyeuristischen Instinkten wachkitzelt“. Trotz der deftigen Formulierung wird ein aufmerksamer Leser der Werke dieses Urteil über eine „böse Schaulust“ nicht einfach zurückweisen können. Dostojewskij schaut in Abgründe der Seele, die es bei seinen Rivalen Turgenjew und Tolstoj nicht gibt. Auch dies gehört zu der vielschichtigen Künstlerpersönlichkeit des Schriftstellers.
Der „Leidensweg“ – am Ende ein Triumph
Der Leidensweg Dostojewskijs beginnt am 22. Dezember 1849 mit der zynischen Inszenierung einer Hinrichtung von fünfzehn Mitgliedern des Petraschewskij-Kreises, die mit der Umwandlung in Haftstrafen endete. Es versteht sich von selbst, dass dieses „Schlüsselnarrativ seines Lebens“ eine fundamentale Änderung im Bewusstsein Dostojewskijs bewirken musste. Der Schriftsteller selbst sprach von einer „Wiedergeburt“, dem „Geschenk des Lebens“ und einem „grenzenlosen Glücksgefühl“. Ob es sich hier um ein religiöses Erweckungserlebnis oder eine psychologisch bedingte Reaktion auf den Schock handelt, wird vom Verfasser als eines der umstrittensten Probleme der Forschung diskutiert. In jedem Fall haben hier und auch später Gedanken über den Tod das christlich-religiöse Weltbild des Schriftstellers und in diesem Zusammenhang auch die nationalistische Ideologie des „Gottesträgervolks“ hervorgebracht. Die religösen Ideen Dostojewskijs, seine Polemik gegen den Materialismus, der Konflikt zwischen dem Prinzip der Persönlichkeit („Vereinzelung“) und dem neutestamentarischen Gebot der Liebe und Brüderlichkeit sowie die Gestalt Christi als Kern seines Glaubens haben zunächst eine allgemeine, übernationale Bedeutung. Erst in den späten 1860er Jahren werden sie zu einem „nationalen Alleinstellungsmerkmal des Russentums“, erklärt Guski, also zu der These vom russischen „Gottesträgervolk“. Auf beiden Ebenen, der rein religiösen und der ideologischen, geht es um die Psychologie des Glaubens, um die erhoffte Gewissheit im Kampf mit dem ewigen Zweifel. 1854, noch in der Verbannung, bekennt sich der Schriftsteller in einem Brief an Natalja Fonwisina, seine Wohltäterin, zu seinem „Durst nach Glauben, der in mir desto stärker ist, je mehr Argumente ich gegen ihn habe“. Er sei „ein Kind des Jahrhunderts, ein Kind des Unglaubens und des Zweifels“, und er werde das bis ans Ende seines Lebens bleiben. Sein Glaubensbekenntnis bestehe allein in der Überzeugung, dass es nichts Schöneres und Vollkommeneres als die Gestalt Jesu Christi gebe. Selbst wenn ihm jemand bewiese, dass Christus „jenseits der Wahrheit“ sei, möchte er lieber mit Christus sein als mit der Wahrheit, erklärt Dostojewskij. Mit Recht stellt der Verfasser dazu die Frage, ob es sich hier nicht eher um ein „Zweifels-“ als ein Glaubensbekenntnis handele. Im selben Brief spricht der Autor von „schrecklichen Qualen“, die ihm dieser Durst nach Glauben bereitet habe, und er benennt damit auch einen gemeinsamen Wesenszug vieler Helden seines Werkes, auch wenn sie ansonsten völlig verschieden sind wie z.B. der Kellerlochmensch und Fürst Myschkin, der Held des Romans „Der Idiot“. Die beiden Figuren bezeichnen Extreme auf der Skala zwischen Unglauben und bedingungslosem Einsatz für ein religiöses Ideal. Zur Bezeichnung dieser beiden Figuren bedient sich Guski der Typologie menschlicher Charaktere, die Turgenjew in seiner bekannten Abhandlung „Hamlet und Don Quijote“ entwickelt hat. „Hamlet als beleidigte Maus“ ist das Kapitel über die „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ überschrieben, Fürst Myschkin wird vom Biografen als „russischer Don Quijote“, auch als eine „Mischung aus Don Quijote und Christus“ gekennzeichnet. Der Kellerlochmensch ist dementsprechend der ewige Skeptiker (wie bei Turgenjew), und das ungläubige „Kind des Jahrhunderts“ (wie in dem zitierten Bekenntnis Dostojewskijs), Myschkin dagegen „das Ideal des moralisch vollkommenen, reinen, anspruchslosen und dennoch charismatischen Menschen“, ein „russischer Christus“. Der berühmte Auftritt im Salon der Jepantschins, in dem der Fürst an die anwesenden Würdenträger appelliert, sie sollten „dem Russen die russische Welt zeigen“, scheint diesem Bild zu entsprechen: es ist das leidenschaftliche Bekenntnis zu der historischen Mission Russlands, die Hoffnung, dass „in der Zukunft die Erneuerung der ganzen Menschheit und ihre Wiederbelebung vielleicht einzig durch den russischen Gedanken, durch den russischen Gott und Christus“ ins Werk zu setzen sei. Angesichts der im 19. Jahrhundert und heute von neuem wirkungsmächtigen Bedeutung dieses Ideenkomplexes scheint es mir wünschenwert, diese Episode im Roman „Der Idiot“ etwas differenzierter zu betrachten. Man könnte der Zuordnung Myschkins zum Typus des Don Quijote und Christus entgegenhalten, dass dieser Held keineswegs über die unerschütterliche Gewissheit des Gottessohns verfügt, er zeigt durchaus Züge eines hamletischen Zweiflers und sogar die eines hilflosen Kindes. Allein die sprachliche Form dieses Auftritts zeugt von der unruhigen und beunruhigenden geistigen Verfassung des Helden, von Dostojewskij in der Rolle des Erzählers meisterhaft beschrieben mit den Worten „dieser ganze fieberhafte Erguß, dieser Strom von leidenschaftlichen und unruhigen Worten und regellos begeisterten Gedanken, die sich gleichsam drängten und stießen und übereinander hinwegsprangen“. Etwas „Gefährliches“, „Ungewöhnliches“ scheint sich darin anzukündigen, das mehr bedeutet als die folgende Zerstörung einer chinesischen Vase und der epileptische Anfall. Es ist das „Idiotische“, Krankhafte, Lächerliche in der Natur des Protagonisten. In der Konzeption Dostojewskijs bedeutet es natürlich keine Herabsetzung, sondern im Gegenteil die Beglaubigung der Wahrheit und Heiligkeit seiner Gedanken, seines Charakters und seines Auftretens. Aber es gibt in dieser Episode vieles, was das heiligmäßige Bild der Figur verdunkelt, der Erzähler verweist denn auch ausdrücklich darauf, dass dieser Auftritt „so gar nicht zu seiner (Myschkins) gewohnten, sogar zaghaften Zurückhaltung passte“. Am Beginn seiner Rede erleben wir einen zornigen Prediger wider den Katholizismus und den Sozialismus, der nicht davor zurückschreckt, die Rhetorik seiner Feinde zu übernehmen: „Wir dürfen nicht sklavisch am Angelhaken der Jesuiten hängenbleiben, sondern wir müssen ihnen unsere russische Zivilisation bringen“.
Ein heutiger Leser, auch wenn er nicht mehr als ein aufmerksamer Zeitungsleser ist, wird diese Tiraden wohl kaum lesen können, ohne sich an fast wörtlich übereinstimmende Botschaften von Vertretern der gegenwärtig in Russland herrschenden politischen Elite und der orthodoxen Kirche erinnert zu fühlen. In der Einleitung der Biographie ist die Rolle Dostojewskijs im heutigen Russland angesprochen, jedoch nicht als politisches Problem, sondern eher als ein Kuriosum, die im öffentlichen Raum vielfach sichtbare „Rückkehr“ eines religiösen Schriftstellers in eine Gesellschaft, die eine 70 Jahre dauernde und durchaus erfolgreiche atheistische Erziehung durch ostentative Frömmigkeit vergessen machen will, zum Beispiel durch die Ersetzung einer heroischen Leninstatue durch die Skulptur eines grüblerisch in sich gekehrten Dostojewskij vor der Russischen Staatsbibliothek in Moskau. „Dostojewskij ist wieder da“, verkündet die Staatsmacht, es fragt sich nur, welcher Dostojewskij gemeint ist. Es ist insbesondere die öffentliche Person Dostojewskij, die seinerzeit einer anderen Staatsmacht nahestand, die heute wieder hoch im Kurs steht, der Monarchie und dem Imperium. Das künstlerische Werk interessiert heute vor allem als Unterstützung der Parole „Russland hat sich von den Knien erhoben“, wozu der internationale Marktwert des Namens Dostojewskij wesentlich beiträgt. Auf die Figur des „russischen Christus“ Myschkin bezogen bedeutet das, dass gerade die aggressiven Töne seines Russlandbildes im Verhältnis zum Westen im Vordergrund stehen, die nach dem Eindruck des Erzählers so gar nicht zu ihm passen, nicht aber sein sanftes, mitfühlendes und kindliches Wesen, das ihn zu einem glaubwürdigen christlichen Ideal macht. Dostojewskijs Gedanken über das Leiden und Mitleiden als Grundwerte der Humanität haben in sowjetischer Zeit, in der das Mitleid ausdrücklich als feindliche Ideologie verboten war, eine wichtige Rolle bei der subversiven Bewahrung der Humanität gespielt, z.B. bei Alexander Solschenizyn, der auch Dostojewskijs These weitergetragen hat, im Unglück der Gefangenschaft erfahre der Mensch den Segen einer Wiedergeburt (worauf allerdings Warlam Schalamow erwiderte, das Leben im Gulag sei eine ausschließlich „negative Erfahrung“).
Weit mehr als die nationalistische Ideologie stellt auch das entgegengesetzte „typisch westliche Lebensideal“ des Schriftstellers, von dem Guski spricht, einen hohen, wenn auch problematischen Zug seines Menschenbildes dar: ein „faustischer Erkenntnis-, Erlebnis- und Erfolgstrieb“. Eben dieser Ehrgeiz und Machtwille erhob ihn in den letzten Lebensjahren auf eine Position in Literatur und Gesellschaft, von der er bis dahin nur träumen konnte. „Auf dem Gipfel“ ist der letzte Teil der Biographie überschrieben. Das „Tagebuch eines Schriftstellers“ hat ihm nicht nur eine erhebliche Erweiterung seiner Leserschaft gebracht, sondern sogar seine wirtschaftlichen Probleme weitgehend gelöst. Er kann sich eine herrschaftliche „Datscha“ in Staraja Russa kaufen und eine Sechs-Zimmer-Wohnung in Petersburg mieten, verkehrt in den Salons der höchsten Kreise und wird vom offiziellen Erzieher der Kinder Alexanders II. eingeladen, erbauliche Gespräche mit den „Zarewitschi“ zu führen. Anlässlich des 25. Thronjubiläums des Zaren verfasst er eine Grußbotschaft, die auch unter Berücksichtigung der stilistischen Konventionen solcher Schriften als Schmeicheleien eines bedingungslos ergebenen Untertanen erscheinen müssen. Auch mit der Kirche unterhält Dostojewskij engen Kontakt, der Chefideologe der politischen Rechten Konstatin Pobedonoszew, ab 1880 Oberprokuror des Heiligen Synods, ist ein einflussreicher Förderer des Schriftstellers. In den Augen der Intelligenzija, die ihn lange als einen Märtyrer der Zarenwillkür betrachtet hatte, wird er auf diese Weise zum Komplizen der Staatsmacht.
Auch seine Schriftstellerkarriere erreicht in den Feiern aus Anlass der Einweihung des Puschkindenkmals in Moskau 1880 einen Höhepunkt. Er übertrumpft seinen Rivalen Turgenjew, der am Tag zuvor mit einer Rede über die Macht des freien Wortes und der Poesie einen beachtlichen Erfolg erreicht hatte, mit einem wahren Begeisterungssturm nach seiner Rede über das „Allmenschentum“ der Russen, die dem ungläubigen Europa ihre brüderliche Liebe und die Rückkehr in die Gemeinschaft der wahren Christen anbieten. Das Puschkin-Fest hatte ihn zur „Nummer eins unter den russischen Schriftstellern“ gemacht, stellt der Verfasser fest. Zu der Bedeutung des unterlegenen Turgenjew scheint mir eine Bemerkung zu seiner Verteidigung angebracht. Nicht zuletzt unter der Wirkung der boshaften Turgenjew-Karikatur namens Karmasinow in Dostojewskijs „Dämonen“ hat das Bild dieses Klassikers bei vielen Lesern die Züge eines selbstverliebten, süsslichen und altmodischen Plauderers angenommen. In Wirklichkeit verkörperte Turgenjew mit seiner europäischen Bildung, seiner entschiedenen Verteidigung der Freiheit und der kritischen Distanz gleichermaßen zu den Revolutionären wie zu den Patrioten ein ernstzunehmendes Gegengewicht zu der „russischen Leidenschaft“ und dem maßlosen „Glaubensdurst“, den Dostojewskij vertrat.Turgenjew, dessen 200. Geburtstag in diesem Jahr begangen wird, könnte auch heute eine geistige Alternative zu dem primitiven Nationalismus der herrschenden Politik bieten. Er wird aber gerade deshalb aus der Sicht der Kirche als Vertreter einer unpatriotischen, atheistischen und rationalistischen Weltanschauung kritisiert.
Was ist auf diesem Gipfel des Ruhms von dem „Leidensweg“ geblieben, der auf dem Semjonow-Platz in Petersburg im Dezember 1849 begonnen hatte? Der Biograf berichtet von der Hinrichtung des Terroristen Iwan Mlodezkij, der einen hohen Beamten der Staatssicherheit ermordet hatte. Die Exekution fand im Februar 1880 auf eben diesem Platz statt und Dostojewskij war unter den Zuschauern. Über die Gründe dieses makabren Besuchs ist nichts bekannt, in jedem Fall musste dieses Schauspiel dem Schriftsteller zum Bewusstsein bringen, wie unendlich weit er sich von der Welt der Revolutionäre entfernt hatte. Der Leidensweg hatte sich in eine Erfolgsgeschichte des Künstlers, des Politikers und des Privatmenschen verwandelt. Die Absage an den politischen Radikalismus war dennoch kein Verrat an den Idealen seiner Jugend, sondern das Resultat seiner persönlichen Entwicklung und einer freien Entscheidung. Im übrigen war das Motiv des „Leidenswegs“ nicht verschwunden, sondern lebte im literarischen Werk weiter, vor allem in den Gewissensqualen Iwans in den „Brüdern Karamazow“, den viele für denjenigen unter den drei Brüdern halten, der dem Autor am nächsten steht. Er ist ein Hamlet im Sinne Turgenjews, die Verkörperung des Zweifels. Auch diese Apologie des Gewissens und des Zweifels gehört - wie das Mitleid und die Christusgestalt des „Idioten“ – zu den wirklich humanen Werten im Werk Dostojewkijs, die seiner nationalistischen Ideologie entgegenstehen.
Für alle ideologischen Programme Dostojewskijs gilt jedoch, dass sie für eine politische Instrumentalisierung im Grunde ungeeignet sind, obwohl sie populistische Vereinfachungen geradezu herausfordern. Der Glaube an Gott, die Vereinigung des Individuums mit dem Volk, der vollkommen schöne Mensch und die christliche Mission Russlands werden nie als erreichte, verwirklichte Ziele vorgeführt, sondern immer mit einem gewissen Vorbehalt: als Aussichten auf eine nicht realisierte Fortsetzung des Werks, als Wunschträume oder als Predigten zerrissener Seelen wie Stawrogin und Schatow (seinem Namen nach ein „Schwankender“). Horst-Jürgen Gerigk spricht in diesem Zusammenhang von einer tiefen Abneigung Dostojewskijs gegen das „letzte Wort“ in einer Sache, von einer Strategie des Versteckens und der falschen Fährten im Umgang mit dem Leser. Die Biographie Andreas Guskis bietet gleichfalls viele erhellende Beispiele für diesen Befund. Dazu gehört auch die Erkenntnis des Verfassers, dass in der Regel, bezogen auf die Ideale des Autors, „die Stimmen der Rebellen mehr überzeugen als die Stimmen der Verteidiger“. Im ganzen bringt das Buch nicht nur eine unterhaltsame Erzählung vom Leben des Schriftstellers und dem historischen Kontext, sondern auch einen fundierten Zugang zu der „vielschichtigen, ambivalenten, nervösen, suggestiven Schreibweise“ dieses großen Schriftstellers.
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