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Drei Jubilare 2018 – Iwan Turgenjew, Maxim Gorki und Alexander Solschenizyn

Sonntag, 21. Oktober 2018, 17:17:03

Drei Jubilare 2018 – Iwan Turgenjew, Maxim Gorki und Alexander Solschenizyn

Jubilare 2018. Stadtbibliothek Nachodka am Japanischen Meer

Der 150.Geburtstag Gorkis war auf diesem Blog aus naheliegenden Gründen das Hauptereignis des Jahres. Und vielleicht war er nirgendwo sonst auf der Welt das Hauptereignis, ausgenommen die Einrichtungen der immer noch sowjetisch geprägten Gorki-Forschung in Russland. Zudem konkurrierte das Datum mit den runden Geburtstagen zweier Schriftsteller, die nicht weniger als Gorki weltbekannte Namen tragen: Iwan Turgenjew wurde vor 200, Alexander Solschenizyn vor 100 Jahren geboren. Dass von diesem Trio der Jubilare 2018 keine harmonische Kammermusik zu erwarten war, zeigte sich schon in den Ankündigungen, insbesondere auf der Sitzung des Staatsrates und des Rats für Kultur und Kunst im Dezember 2014 in Anwesenheit des Präsidenten, wo es um die Perspektiven der Kulturpolitik der Regierung ging. Dort meldete sich der Chef der Kommunistischen Partei Gennadi Sjuganow mit einem Katalog von Wünschen zu Wort: er verwies auf die gerade von der KP vorgelegte Sammlung „100 Lieder des Großen Vaterländischen Krieges“ und forderte auf derselben Linie Neuauflagen bekannter regimetreuer Schriftsteller aus sowjetischer Zeit für die Erziehung der Jugend, dazu eine hundertbändige Klassikerausgabe für die öffentlichen Bibliotheken. Wie nebenbei kam er dabei auf Solschenizyn zu sprechen, dessen in vier Jahren anstehender 100. Geburtstag schon im selben Jahr 2014 per Ukas des Präsidenten zu einer staatlichen Veranstaltung mit einem landesweiten Progamm erklärt worden war. Das sei verdient und interessant, keine Frage, erklärte Sjuganow, aber in das Jahr 2018 falle doch auch der 200. Geburtstag Iwan Turgenjews, und die Vorbereitungen in den Gedenkstätten Turgenjews im Gouvernement Orjol, wo auch Sjuganow zuhause ist, seien schon in vollem Gange. Was dieses „aber“ zu bedeuten hatte, war nicht schwer zu verstehen: der KP-Chef und Bewahrer der sowjetischen Kultur wollte einen der wichtigsten Feinde und Zerstörer dieser Ordnung, Alexander Solschenizyn, wenn nicht verhindern, so doch wenigstens die öffentliche Aufmerksamkeit von ihm weg auf einen „wirklichen“ Klassiker lenken. Dieses Bestreben ist auch in den folgenden Jahren deutlich sichtbar geworden, die Kommunistische Partei Russlands wurde mit Hilfe ihrer Parteiorgane zu einem der aktivsten Förderer der Autorität des Klassikers Turgenjew, ungeachtet der Tatsache, dass dieser „russische Europäer“ und Vertreter des Liberalismus nur sehr bedingt in das Profil der KP passte. Auch Kommunisten sind heute in Russland erst einmal Patrioten.
Pavel Basinskij, der Literaturredakteur der Regierungszeitung „Rossijskaja gazeta“, beschrieb diese Episode in seinem Bericht über die Veranstaltung im Kreml als ein Beispiel für die Vielfalt und die Widersprüche in der russischen Literatur, die keineswegs „eine homogene Kultur“ repräsentiere. Er rief die Öffentlichkeit auf, die bevorstehenden Jubiläen „würdig“ zu begehen und die Widersprüche auszuhalten. Dazu gehörten nicht nur Schwierigkeiten mit einem antisowjetischen Solschenizyn, sondern auch mit einem „Westler bis ins Mark“ wie Turgenjew.
Die Art und Weise, in der sich die Fraktionen der Gegner und Befürworter des jeweiligen Schriftstellers formierten und ihre Argumente in Stellung brachten, ist aufschlussreich für die Stimmungslage in Russland. Ausserdem ergeben sich aus diesem zufälligen kalendarischen Zusammentreffen auch manche Einsichten für die Bedeutung dieser drei Persönlichkeiten. Da der 150. Geburtstag Gorkis auf diesem Blog ausführlich behandelt wurde (Links am Schluss), geht es in diesem Eintrag hauptsächlich um Solschenizyn und Turgenjew.


Solschenizyn – der „Lügner und Verräter“

Einen regelrechten shitstorm in dieser Debatte erntete der Schriftsteller und „Antisowjetschik“ Alexander Solschenizyn. Der Anlass war eine zusätzliche „Erhöhung“ des Jubilars über seine Konkurrenten: auf Initiative des Außeninisteriums wurde das Jahr 2018 zum „Jahr Solschenizyns“ erklärt.
Die Autorität Solschenizyns in Russland und in der Welt beruhte bis zu seinem Tod hauptsächlich auf seinem Schicksal als Häftling des Gulag, der zur Stimme der Millionen Opfer dieses unmenschlichen Systems geworden war, auf seiner kompromisslosen Wahrheitsliebe und Unbestechlichkeit, seiner christlich fundierten Opferbereitschaft und seinem Einsatz für ein neues Russland im Geist eines konservativen Nationalstaats. In den wenigen Zeugnissen der Verehrung und Bewunderung, die gegenwärtig im Runet zu finden sind, geht es um diese moralische Qualität seiner Persönlichkeit („Zur Unsterblichkeit verurteilt“ lautet eine dieser Charakteristiken), aber genau auf diese Autorität sind die Geschütze aus dem Lager der Patrioten gerichtet: dieser Mensch, der ein „großes und glückliches Land zerstört hat“, war ein „Feind des russischen Volkes“, ein „notorischer Lügner und Verräter“ – so lauten die ständig wiederholten Beschimpfungen aus dem Lager der Patrioten. Das „Jahr Solschenizyns“ war eine Steilvorlage für die polemischen Erwiderungen in den sozialen Medien. „2018 ist ein Jahr der Schande“, postete ein Teilnehmer des „Livejournal“. Nicht nach dem großen russischen und sowjetischen Schriftsteller Gorki und nicht nach dem Klassiker Turgenjew habe man das Jahr benannt, sondern nach dem „Feind der UdSSR und Russlands, dem pathologischen Lügner – Solschenizyn“. Im selben Beitrag ist eine lebensgroße Bronzestatue Solschenizyns abgebildet, an der ein Pappschild mit dem Wort IUDA angebracht ist. In der Zeitung „Sawtra“ (Morgen), die nach eigenen Angaben die „Istoriosophie des imperialen Russland“ vertritt, ist dem Pamphlet gegen Solschenizyn als Kontrast eine Lobeshymne auf Turgenjew vorangestellt: der Klassiker, der mit seinen russischen Volksliedern und Romanzen, seinen Bauernfiguren, seinen Mädchen und Frauen so ganz aus der nationalen Kultur hervorgegangen sei. Im Gegensatz zu diesem Wohlgefühl bei der Lektüre Turgenjews löst Solschenizyns berühmte Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch“, deren Held das christlich-konvervative Ideal des einfachen russischen Menschen verkörpert, bei der Verfasserin im Livejournal nur Ablehnung und Empörung aus.Dazu genügt ihr schon eine einzige Stelle in diesem Text, wo der Gedanke geäußert wird, Stalin sei „auf den Krieg nicht vorbereitet gewesen“. Auf solche Weise beschimpfe Solschenizyn „unseren Stalin“, der „das Land gerettet hat“, erklärt die Verfasserin. Mit Recht habe man Solschenizyn ins Lager gesteckt.

Wie soll man diese Hassbotschaften verstehen? Sie sind, wie die der Kommunisten, ein Ausdruck der Sehnsucht nach dem „Land, das wir verloren haben“, eine Erinnerung, die den Terror komplett ausblendet und zugleich die Perestrojka und den Neokapitalismus zum Inbegriff des Bösen erklärt. Die Regierung teilt diese Auffassung nicht, sie wünscht sich den Marxismus-Leninismus und die sowjetische Wirtschaftsordnung nicht zurück, wohl aber die totale Kontrolle der Sicherheitsorgane. Und von daher kann sie dem rebellischen Geist Solschenizyns keine wirkliche Sympathie entgegenbringen. Dennoch ist sie an einer halbwegs glaubwürdigen „Bewältigung“ der Verbrechen der Stalinzeit interessiert, um die Opfer nicht übermäßig zu beleidigen. Aus dieser verworrenen Interessenlage der Macht ergeben sich die halbherzigen Erklärungen und Maßahmen einer Regierung, die dem Schriftsteller letztlich doch die Ehrerbietung verweigert, die er als Mensch und Politiker verdient hat.

Für die Wirkungsgeschichte Solschenizyns ist das ein tragischer Misserfolg. Es erscheint paradox, dass die zentrale Figur des antisowjetischen Nationalismus mit seiner engen Bindung an die Tradition Dostojewskijs und der Monarchie nun – mit deutlich antisemitischen Akzenten – zu einem heimatlosen Ahasver stilisiert wird, einem von denen, die mit ihren heimtückischen Umtrieben Russland zugrunde gerichtet haben. Die ehemaligen Sowjetbürger, jedenfalls viele von ihnen, die ihn bei seiner Rückkehr nach Russland als Befreier begrüßt hatten, schließen sich nun zu Initiativen für das Verbot seiner Bücher und die Beseitigung seiner Denkmäler zusammen.
Man könnte hier eine Parallele zu dem Schicksal des Jubilars Maxim Gorki erkennen. Auch Gorki kehrte 1928 in ein Land zurück, das von einem Unrechtssystem befreit war und ihm als Verwirklichung seines Traums von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz oder zumindest als das Versprechen einer solchen Entwicklung erschien. Die neuen Machthaber nahmen seine Unterstützung gern an, nicht aber seine Vorstellungen von einem Land, in dem freie Menschen mit schöpferischer Arbeit eine neue Ordnung errichten.

Diese Parallele bedeutet nicht, dass Solschenizyn Mitgefühl mit dem sowjetischen Staatsschriftsteller empfunden hätte. Er hat vielmehr die schuldhafte Verstrickung Gorkis in den Terror der Stalinzeit in seiner berühmten literarischen Dokumentation „Der Archipel Gulag“ mit aller Schärfe öffentlich gemacht. Gorki erscheint dort als der Komplize der Henker, als der Herausgeber des „schändlichen Buchs über den Weißmeer-Kanal, das zum ersten Mal in der russischen Literatur die Sklavenarbeit verherrlicht“. Gorki hatte dort zusammen mit einer Gruppe namhafter Schriftsteller die „perekowka“, das „Umschmieden“ von Dieben und Gewalttätern in „sozial nützliche“ Mitglieder der Gesellschaft als ein erfolgreiches sozialpädagogisches Projekt auf dem Weg der Schaffung „neuer Menschen“ gerühmt. Über die Hintergründe dieses dunklen Kapitels in Gorki Biographie ist vieles erst in postsowjetischer Zeit bekannt geworden, darunter Rettungsaktionen Gorkis für Häftlinge der Straflager, die er besuchte. In jedem Fall ist die Stimme Solschenizyns eine der mächtigsten im Chor derer gewesen, die die „Entthronung“ (razvenchanie) des sowjetischen Klassikers herbeigeführt haben. Und in Anbetracht der staatstragenden Rolle eines vollständig „sowjetisierten“ Gorki war diese Entthronung längst fällig und gerechtfertigt.

Ungeachtet der natürlichen Feindschaft zwischen diesen beiden Jubilaren (Gorki hätte seinerseits den Nationalismus und den Dostojewkij-Kult Solschenizyns entschieden abgelehnt) gibt es außer der genannten auch weitere Gemeinsamkeiten in der Persönlichkeit und im Lebensweg der Schriftsteller, sie sind auf diesem Blog in dem Eintrag aus Anlass des Todes Solschenizyns (2008) erörtet worden. Um dem Autor des „Archipel Gulag“ in dieser Situation hemmungsloser Beschimpfungen von seiten nationalistischer Ideologen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sei hier an das Urteil des russischen Physikers und Menschenrechtlers Andrej Sacharow erinnert, der als Verfechter einer demokratischen Staatsordnung für Russland zwar ein Gegner der politischen Auffassungen Solschenizyns war, dafür aber seine moralische Integrität und seine historische Bedeutung ohne Einschränkung gewürdigt hat: „Die besondere, außerordentliche Rolle Solschenizyns in der geistigen Geschichte des Landes ist verbunden mit seiner kompromisslosen, genauen und tiefen Beleuchtung der Leiden der Menschen und der Verbrechen des Regimes, die unerhört waren in ihrer massenhaften Grausamkeit und Verschwiegenheit“.


Turgenjew – der „russische Europäer“

Unter den drei Jubilaren des Jahres ist Iwan Turgenjew der einzige, dem in Russland und der Welt ohne Widerspruch oder Einschränkung das Prädikat eines „Klassikers“ der russischen Literatur zuerkannt wird. Dennoch ist Turgenjews Werk und seine Persönlichkeit schon zu Lebzeiten Gegenstand heftiger Diskussionen gewesen und kann auch im heutigen Russland als Stein des Anstoßes dienen. Nachdem sich Pavel Basinskij in der „Rossijskaja gazeta“ schon 2014 Sorgen darum gemacht hatte, ob denn die Gesellschaft wirklich bereit sei, den 200. Geburtstag des Klassikers würdig zu begehen, kam er 2016 auf das Thema zurück. Das Jubiläum sei ein „höchst wichtiges Ereignis“, erklärte er, und es sei völlig unangebracht, es in Frontstellung zu dem 100. Geburtstag Solschenizyns zu bringen und darüber zu streiten, wem „mehr Ehre“ gebühre. Für einen „Menschen mit Kultur“ stünden Turgenjews „Aufzeichnungen eines Jägers“ und Solschenizyns Erzählung „Ein Tag des Iwan Denisowitsch“ in einer Reihe, beide seien „wegweisende“ Werke über den russischen Bauern mit allen seinen psychologischen Besonderheiten.

Auf Turgenjew bezogen, kam der Literaturredakteur der Regierungszeitung auf eine Eigenschaft des Klassikers zurück, die er schon zwei Jahre zuvor hervorgehoben hatte: ein „Europäer bis ins Mark“. Basinskij nahm sich sogar die in seiner Position nicht ungefährliche Freiheit, diese Eigenschaft mit einer politischen Forderung nach mehr Weltoffenheit zu verbinden. „Turgenjew hat uns, wie wohl kein anderer russischer Schriftsteller, das Vermächtnis hinterlassen, nicht dem Isolationismus zu verfallen.“ „Zapadnik“ (Westler) sei heute ein hässliches Wort, erklärte Basinskij, aber Turgenjew war „ein russischer Europäer in dem ganzen ehrenhaften Sinn der Worte“. Er habe die Slavophilen nicht deshalb kritisiert, weil er Russland nicht liebte. Das sei ein lächerlicher Vorwurf angesichts eines Romans wie „Väter und Söhne“, wo die „russische Welt“ mit solcher Tiefe und künstlerischer Harmonie gestaltet sei. Turgenjew habe vielmehr verstanden, dass Isolationismus nur gut für die nationale Küche und für die Mode sei: „Aber die Literatur – das ist eine andere Sache“.

Bemerkenswert ist auch Basinskijs Beobachtung, dass das Bild des Klassikers im breiten Publikum nicht dem vollen Umfang seiner Bedeutung entspreche, sondern oft verkleinert und verniedlicht erscheine. Der oben zitierte Beitrag im Livejournal, wo die Verfasserin – gegen Solschenizyn gerichtet – von den russischen Liedern und Romanzen und den selbstbewussten turgenjewschen Mädchen und Frauen schwärmt, bestätigt diesen Eindruck. Basinskij führt dazu das Beispiel eines Denkmals an, das 2004 in Moskau aufgestellt wurde und nicht den Schriftsteller, sondern den Hund namens „Mumu“ in der berühmten Erzählung Turgenjews zeigt. Der taubstumme Held bringt den geliebten Vierbeiner eigenhändig um, weil seine tyrannische Herrin ihn nicht mehr in ihrem Hause duldet. Ein Werk, das weit mehr ist als ein tränenseliges Melodram.

Wenn es um fragwürdige Umgangsformen mit dem Erbe Turgenejews geht, muss auch die Einstellung der Orthodoxen Kirche zu diesem Schriftsteller Erwähnung finden. Es geht hier vor allem um Vorbehalte gegenüber atheistischen Überzeugungen und regierungskritischen Aktivitäten des Schriftstellers. Im Jahr 2013 veranlassten Auftritte eines hohen Regierungsbeamten eine heftige Diskussion über den angeblich schädlichen Einfluss auf die Erziehung junger Menschen, die von den russischen Literaturklassikern ausgehe. Neben Turgenjew wurden dort Alexander Ostrowskij, Nikolaj Nekrasow und Michail Saltykow-Schtschedrin genannt. Ihnen warf der Kulturpolitiker vor, sie hätten eine atheistische Weltanschung verbreitet und „künftige Revolutionäre ideologisch ausgerüstet“. Weiteres dazu ist in einem Eintrag auf diesem Blog zu lesen.
Es gibt aber auch Beiträge in der Turgenjew-Literatur, die – gleichfalls im Namen der Orthodoxen Kirche - das Gegenteil behaupten. Turgenjew sei im Grunde ein religiöser Mensch gewesen, dessen Werk von einem neutestamentarischen Geist durchdrungen sei. Ein Beispiel dafür bietet das Buch von Alla Novikowa-Stroganowa „Die christliche Welt I.S. Turgenjews“ (2015 in Rjazan’ erschienen). Die Verfasserin, die auch durch Auftritte im Internet bekannt ist, liest die Werke des Klassikers buchstäblich mit der Bibel in der Hand. Sie interpretiert religiöse Motive, Glaubensfragen und Konflikte verschiedener Art sämtlich als mehr oder weniger verborgene allegorische Elemente einer „christlichen Welt“ des Autors und kommentiert sie mit Zitaten aus dem Neuen Testament. Dabei besteht in der internationalen Turgenjew-Forschung Einigkeit darüber, dass der Schriftsteller als Atheist oder Agnostiker bezeichnet werden muss. Als Vertreterin einer „orthodoxen Literaturwissenschaft“ (Klappentext) fühlt sich die Autorin an solche Erkenntnisse nicht gebunden und befasst sich auch nicht mit ihnen.

Lesern in unserem Kulturkreis, die sich entgegen solchen Adaptionen an den gegenwärtigen Zeitgeist in Russland über die wirklichen Qualitäten dieses Klassikers informieren wollen, sei die Monographie des deutschen Slavisten Horst-Jürgen Gerigk „Turgenjew. Eine Einführung für den Leser von heute“ (Heidelberg 2015) empfohlen, die auf diesem Blog vorgestellt ist. Gerigk hebt die „vornehme“, zurückhaltende Geisteshaltung Turgenjews im Kontrast zu dem missionarischen Eifer seiner Rivalen Tolstoj und Dostoevskij hervor. Zu seinen Besonderheiten gehört, wie Gerigk zeigt, auch eine „lyrische“ Haltung des Autors und sein „poetischer Realismus“ im Gegensatz zu dem in der Zeit dominierenden sozialkritischen Stil. Viele seiner Leser schätzen einen „romantischen“ Zug in seiner Persönlichkeit, ein Vorherrschen des „Gefühlvollen“ in seinen Porträts und Naturschilderungen. Diese Einstellung ignoriert aber häufig die andere Seite Turgenjews, das hohe Maß an Rationalität und die scharfe psychologische Beobachtungsgabe, die sich u.a. in der Entdeckung des Typs der „überflüssigen Menschen“ und in dem bekannten Essay „Hamlet und Don Quijote“ manifestiert. Zu den Vorzügen seines Werks gehören auch glänzende satirische Porträts und die Vertrautheit mit allen weltanschaulichen Debatten in Russland und Europa.
Die Lektüre Turgenjews bietet eine unbedingt empfehlenswerte Ergänzung und Alternative zu den weit einflussreicheren Bildern Russlands und der russischen Menschen, die seine Rivalen Tolstoj und Dostojewskij geschaffen haben. Seine kritische Distanz zu den christlich-religiösen Botschaften der Zeitgenossen teilt er im übrigen mit dem Jubilar Maxim Gorki.


Alle drei verdienen mehr Aufmerksamkeit

Die Betrachtung der drei Jubilare führt zu einer, zugegeben, sehr schlichten Erkenntnis: sie sind sehr verschieden. Auf jeden Fall sollte man der Versuchung widerstehen, die Unterschiede noch durch ein politisch motiviertes Ranking zu forcieren. Alle drei verdienen jedoch ein größeres Leserinteresse, als ihnen heute in ihrer Heimat zuteil wird. Dmitrij Bykov, einer der besten Kenner der russischen Literatur, hat eine seiner beliebten Vorlesungen Turgenjew gewidmet. Unter der Überschrift „Der am wenigsten gelesene Klassiker“ plädiert Bykov für eine Änderung dieses Zustands. Auch Gorki und Solschenizyn wecken im breiten Leserpublikum wenig Interesse, sie werden vielfach als „unzeitgemäß“ empfunden. Das könnte mit einer Einstellung zum Problem der Freiheit zusammenhängen, die die drei Schriftsteller verbindet und die im heutigen Russland nicht hoch im Kurs steht. Alle drei haben in ihren künstlerischen und publizistischen Schriften mit Leidenschaft gegen mächtige Regierungen für die Freiheit des Wortes gekämpft. Nachdem dieses Ziel in den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts erstmals in der russischen Geschichte Wirklichkeit geworden war, ist die Freiheit des Wortes in den letzten Jahren wiederum von staatlichen Einschränkungen und einer weitgehend passiven Öffentlichkeit bedroht. Insofern ist zu begrüßen, dass der Präsident Russlands in der eingangs erwähnten Konferenz verfügt hat, die Kulturpolitik der Regierung dürfe auf keinen Fall Strukturen zulassen, die „die Freiheit des künstlerischen Schaffens beschränken“. Er nannte dafür zwei „Schlüsselbedingungen“, die „Treue zu den historischen Traditionen und die weite Freiheit in der Kunst, im Denken und in der geistigen Entwicklung“. Das klingt vielversprechend, aber an gleicher Stelle ist auch von „pseudokulturellen Surrogaten“ die Rede, die es zu vermeiden gelte, und es bedarf keiner Erläuterung, wer die Deutungshoheit über solche „Surrogate“ besitzen soll. In dieser Beziehung hat das Gedenken an drei bedeutende russische Schriftsteller nichts geändert.



Im nächsten Eintrag folgt ein Aufsatz vom Verfasser des Blogs, der 2017 in dem Sammelband „Turgenjew. Der russische Europäer“, erschienen ist: „Maxim Gorkij über Turgenjew: ‚ein vorzügliches Erbe’ “.


Auf diesem Blog

Ein pompöses Begräbnis - Nachlese zum 150. Geburtstag Maxim Gorkis

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Zum Tod von Alexander Solschenizyn

Über schädliche Klassiker in der Schule – ein Kulturfunktionär fordert Erziehung zum Glauben

Horst-Jürgen Gerigk über den Klassiker Iwan Turgenjew

Quellen im Runet (Auswahl)

Pawel Basinskij über „Eine nicht homogene Kultur“ (russ.)
https://rg.ru/2014/121/28/mnenie-site.html (geöffnet am 09.10.2018)

Ders. über den 200. Geburtstag Turgenjew: „Nicht jubiläumsmäßig“ (russ.)
https://rg.ru/2016/11/06/basinskij-turgenevu-dlia-roli-polnomasshtabnogo-klassika
(geöffnet am 13.10.2018)

Nadezhda Dias, Turgenjew und Solschenizyn??? (russ.)
http://zavtra.ru/blogs/god_turgeneva (geöffnet am 21.10.2018)

Dmitrij Smirnov (Komsomol’skaja pravda, 24.12.2014), Wladimir Putin: Wir müssen arbeiten, und uns nicht einfach Briefe schreiben. Der Präsident hat die Grundlagen der staatlichen Kulturpolitik unterzeichnet und im Staatsrat erklärt, wie sie einzuführen sind (russ.)
https://www.kp.ru/daily/26324/3206216 (geöffnet am 21.10.2018)

Kategorie: Gorki in unseren Tagen

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