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Rückkehr nach Russland - eine phantastische Erzählung von Roman Sentschin

Dienstag, 01. Januar 2019, 16:01:36

Rückkehr nach Russland - eine phantastische Erzählung von Roman Sentschin

Zum Neuen Jahr hier eine meiner Lesefrüchte aus der jüngsten russischen Literatur, die nicht nur einen interessanten Autor, sondern auch den Namensgeber des Blogs Maxim Gorki in einer kritischen Phase seines Lebens und Wirkens betrifft, seine Entscheidung für die Rückkehr aus Italien in die Sowjetunion. In dieser und einer sehr ähnlichen zweiten Episode aus der Zeit Peters des Großen führt der Autor uns eine Herrschaftsform vor Augen, die von Lügen, Betrug und nackter Gewalt gekennzeichnet ist, - ein düsteres Russlandbild, das Fragen nach der Gegenwart und der Zukunft des Landes aufwirft.

Das Foto zeigt den Schauplatz der Handlung, ein 4-Sterne-Hotel in Neapel, wie es heute zu sehen ist, und wo Roman Sentschin, der Autor der Erzählung „Rückkehr“, lt. Angaben im Text im April 2018 mit einer Delegation von Schriftstellern fünf Tage gewohnt hat. Im selben Jahr 2018 ist auch der Band mit der Erzählung erschienen. Der autobiographische Charakter der Prosa Sentschins ist ein Markenzeichen dieses viel gelesenen Vertreters des zeitgenössischen Realismus, auf diesem Blog war schon mehrfach über ihn zu lesen (Links am Schluss). Er ist in den letzten Jahren viel in der Welt herumgekommen, aber sein Thema ist nach wie vor das postsowjetische Russland, seine Protagonisten sind fast immer Altersgenossen (er ist 1971 geboren), die mit diesem neuen Russland nicht zurechtkommen und meist ein kärgliches Dasein am Rande der Gesellschaft fristen: als Musiker, Gelegenheitsarbeiter oder räsonnierende Nichtstuer, in schwierigen Beziehungen mit Frauen lebend, immer auf der Suche nach einer Runde, die sich um eine Flasche versammelt. Sentschin ist auf eben dieser Linie der Randexistenzen unverhofft zu einem erfolgreichen Schriftsteller geworden, eine Rolle, die er selbst mit Argwohn betrachtet.

Über die Erlebnisse des Ich-Erzählers auf dieser Reise erfahren wir so gut wie nichts, nur kurz werden die Eindrücke einer schönen südlichen Landschaft genannt, der Blick von der Terrasse einer prächtigen Villa auf den Golf von Neapel und den Vesuv. Für den Ausdruck der Gefühle und Gedanken, die diese Schriftstellerreise in ihm ausgelöst hat, wählt Sentschin diesmal die für ihn untypische Form des Phantastischen, genauer die Träume in seinem Hotelbett, die durch reichlich genossenen Grappa am Vorabend beflügelt sind. Beim Erwachen am Ende der Erzählung denkt der Schriftsteller an die bevorstehende Rückkehr nach Russland, und dieses Motiv der Rückkehr ist auch das Thema der Träume, die uns in zwei weit zurückliegende Geschichten von „Rückkehrern“ nach Russland versetzen. Sie haben sich gleichfalls an den Gestaden des Mittelmeers abgespielt und sind durch ein Netz von analogen Motiven miteinander verbunden. Im Originaltitel steht das Wort „Rückkehr“ im Plural (Vozvrashchenija), was sich im Deutschen nur umschreiben lässt. Zusammen mit der Rahmensituation in der Gegenwart handelt es sich um drei Geschichten der Rückkehr nach Russland. Der Ich-Ezähler, selbst in Gedanken an die bevorstehende Heimreise, versetzt sich in die Lage von zwei bekannten Persönlichkeiten der russischen Geschichte, für die die Rückkehr nach Russland eine schicksalhafte Entscheidung war.
Im Traum verwandelt sich der Ich-Erzähler in diese Menschen, durchlebt selbst ihre Hoffnungen und ihre Zweifel: der erste ist Aleksej Petrowitsch Romanow, der älteste Sohn Peters des Großen, der zweite der Schriftsteller Maksim Gorki, der Patron unseres Blogs. Sehr verschieden von Natur, verbindet die beiden doch ein ähnliches Schicksal. Wir erleben sie in der Situation einer schweren Entscheidung: sollen Sie den Einflüsterungen eines listigen Emissärs aus Russland folgen und sich dem Willen eines Herrschers unterwerfen, dem sie sich durch die Flucht entzogen haben, oder doch lieber auf ihre tiefsitzenden Zweifel hören, die sie vor einem schrecklichen Ende in der Heimat warnen?
Beide entscheiden sich für die Rückkehr, und beide erleben, wenn auch in sehr unterschiedlichen Dimensionen, ein schreckliches Ende ihres Lebens. Der Zarewitsch wird 1718 wegen seiner Unbotmäßigkeit von einem Gericht in Gegenwart des Vaters verurteilt und auf der Folterbank zu Tode gequält. Der Schriftsteller wird im Gegensatz dazu nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion 1928 zum Genie und größten Schriftsteller aller Zeiten ernannt und mit einem luxuriösen Leben belohnt, erlebt damit aber den Zusammenbruch seiner Hoffnungen auf eine Änderung der Verhältnisse in Russland und den Verlust seiner Reputation als Künstler, letztlich den Verlust seiner Menschenwürde. Freunde und Weggenossen wenden sich von ihm ab. Er hat seine Seele an den Staat verkauft, lautet ihr Urteil.
Kunstvoll miteinander verstrickt sind die Personen und Situationen. Zwei Tyrannen, beide Vertreter einer gewaltsamen und unbarmherzigen Modernisierung des Staates , schicken einen hohen Beamten der Staatssicherheit ins Ausland, um ihren Sohn bzw. einen berühmten Schriftsteller mit dem Ziel der Festigung ihrer Macht zur Rückkehr in die Heimat zu bewegen: bei Peter I. ist es der Geheime Rat Pjotr Andrejewitsch Tolstoj, ein mit allen Wassern gewaschener Diplomat, bei Stalin übernimmt Genrich Grigorjewitsch Jagoda, der Chef des sowjetischen Innenministeriums von 1934 bis 1936, die Rolle des Emissärs, neben Lawrenti Beria der brutalste Exekutor des stalinschen Terrors.
Die Hauptteile der Erzählung werden von den mehr oder weniger raffinierten Überredungsversuchen der Gesandten des Herrschers bestimmt. Auf diese Weise repräsentieren sie übereinstimmend das Gesicht eines Staates, der seine Herrschaft auf Lügen, falschen Versprechungen und Drohungen mit Gewalt gründet. Zudem verfolgen die Abgesandten eigene Interessen, sind im Falle eines Falles auch bereit, ihre Dienstherren zu verraten, und werden später selbst Opfer des Terrors.

Tolstoj versucht mit allen Mitteln, die Ängste des Zarewitsch vor dem Zorn des Vaters zu zerstreuen, denn Aleksej erinnert sich mit Grauen an die verstümmelten Leichname von widerspenstigen Untertanen: Das sei doch ganz etwas anderes, versichert der Bote, Aleksej sei schließlich der Sohn und der Erbe, der Zar habe in aller Form Verzeihung der Sünden versprochen und sogar ihm selbst, Tolstoj, habe er die Teilnahme an dem Strelitzenaufstand verziehen und ihn mit Wohltaten überschüttet.
Im Flüsterton lockt Tolstoj den Zarewitsch mit besten Aussichten auf die Herrschaft in Russland, der dreijährige Bruder Petr Petrowitsch sei ein halber Idiot und Peter I. selbst von Alter und Verfall gekennzeichnet. Das Hauptargument: Auf Sie, Batjuschka-Zarewitsch, wartet das russische Volk, es wartet und glaubt an Sie! All dieses Gesindel, die Holländer, die Deutschen, die Franzosen drohen unser Russland aufzufressen. Wir erwarten Sie, beten für Sie, retten Sie unser leidgeprüftes Volk!
Aleksej zeigt sich beeindruckt, aus dem russischen Volk hat er sich nie viel gemacht, das waren nur Untertanen, Sklaven, Pöbel. Sein Traum war, Russland überhaupt zu vergessen, am liebsten wollte er nach Amerika auswandern und unter den einfältigen Wilden leben, ihnen das Wort Gottes bringen. Jetzt nimmt das Wort „narod“ plötzlich die Form eines kostbaren Edelsteins an, der von einem gewaltigen Hammer bedroht wird. Für Aleksej bedeutet das: Der Hammer wird den Stein zu Staub zerschlagen, wenn ich ihn nicht rette.

Mit dem Begriff des Volkes kommt Jefrosinja ins Spiel, ein einfaches russisches Mädchen, mit dem er auf die Flucht gegangen ist. Zuvor war Aleksej mit einer deutschen Prinzessin verheiratet. Es handelt sich um Charlotte Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel, eine Ehe, mit der Peter die Beziehungen zu Deutschland festigen wollte. Sie war schon vor Aleksejs Flucht gestorben, nachdem sie Petr Aleksejewitsch geboren hatte, den späteren Peter II.
Wird der Zar die Verbindung mit einer ehemaligen Leibeigenen akzeptieren? Tolstoj ist sich da sicher und verweist auf die jetzige Frau Peters Martha Skawronskaja, die Tochter einer litauischen Bauernfamilie, später die Zarin Katharina I.
Das Lob der Jefrosinja - Aleksej nennt die Afrosjuschka – enthält alle Attribute, die den Patrioten von damals und von heute am Herzen liegen: vor allem den Kontrast zu den blassen und mit Watte ausgestopften „Heringen“, die in letzter Zeit besonders in Petersburg auftauchen. Jefrosinja dagegen stellt diese Modepuppen in den Schatten mit ihrer glänzenden Haut, den roten Wangen, den Augen, die von Leben und Leidenschaft brennen. Ihr Leib gleicht einem Kuchenbrötchen, auf dem zu schlafen höchstes Vergnügen bereitet. Und außerdem ist sie schwanger mit einem echten Russen.
Tolstoj hat dieses wunderbare Weib zur Sicherheit gleich mitgebracht, auch sie soll helfen, Aleksej nach Russland zu locken, und der Plan geht auf. Auch sie zieht es nach Hause aus dem langweiligen Ausland, und auf die Frage des Liebsten, ob sie nach Russland fahren sollen, reagiert sie mit Begeisterung: Ich habe schon lange darauf gewartet, dass du dich entschließt. Russland sehnt sich nach dir, Du wirst es retten, bringst unsere russischen Traditionen und Bräuche zurück, bist selbst der Angelpunkt unseres Lebens.
Es wird beschlossen, dass die Reise am nächsten Morgen losgehen soll, zunächst nur für die beiden Männer, Jefrosinja wird nach einigen Tagen folgen. Zum Abschied gibt es eine Umarmung mit Aleksejs Hand auf ihrem Bauch. Glücklich und voller Hoffnung auf eine erfolgreiche Regierungszeit in Russland verlässt der Zarewitsch Italien.
Hier schaltet sich der träumende Erzähler in seiner Rolle als Aleksej ein. Er weiß besser, wie die Sache ausgeht. Es war das letzte Mal, dass er seine Afrosjuschka berühren durfte, er wird sie erst vor Gericht wiedersehen, wo sie vernichtende, todbringende Aussagen gegen ihn machen wird: er habe europäische Mächte angestiftet, nach Russland zu ziehen und den Zaren zu stürzen… Man wird ihm die Knochen brechen und ihn dann erwürgen.
Auch das Schicksal des Reisegefährten steht Aleksej als grausige Vision vor Augen, und er offenbart Tolstoj, was er da sieht: Graf, Sie werden in der Gefangenschaft sterben. Auf der Insel Solovki. Schrecklich und schändlich. Worauf der Angesprochene mit einem maliziösen Lächeln erwidert: Ich hoffe doch, nicht auf Ihren Befehl, Aleksej Petrovitsch?

Es folgt der zweite Traum, wieder am Meer, diesmal „auf der Terrasse einer reichen Villa“, es handelt sich erkennbar um die Villa „Il Sorito“ in Sorrent, wo Maxim Gorki mit seiner Famlie seit 1924 residiert. Der Erzähler heißt jetzt Aleksej Maksimowitsch, trägt einen üppigen Schnauzbart und spricht den Dialekt der Wolgaregion, genügend Erkennungszeichen für den Schriftsteller.
Der Bote aus Russland hat auch einen Bart, aber nur einen kleinen auf der Oberlippe und heißt Genrich, im übrigen kennt der Erzähler ihn als einen sympathischen, immer lächelnden Menschen, den er schon in Nizhni Nowgorod als kleinen Jungen kannte und mit „Jagodka“ anredete. Der jetzige Jagoda ist zu einer nicht genannten Zeit Anfang der dreißiger Jahre zu Gast, er gibt sich jovial, fern aller staatsmännischen Autorität, als Landsmnn und Freund des Hauses, der vertrauliche wohlgemeinte Ratschläge gibt. Und er kommt unverzüglich zur Sache: Aleksej Maksimowitsch, glauben Sie mir, dort ist ein Paradies für Sie bereitet. Ein irdisches Paradie, sowohl auf der Ebene des Lebens als auch auf der des künstlerischen Schaffens. Ich brauche kein separates Paradies, ich will nicht anders leben als die anderen, murmelt Aleksej Maximowitsch in seinen Bart, und so wehrt er auch alle weiteren Versprechungen und Schmeicheleien Jagodas ab. Aber der lässt sich nicht abschütteln. Jedem nach seinen Fähigkeiten, erklärt er, und Sie sind nun mal der Klassiker unserer Literatur, der Sowjetliteratur. Sentschin bringt seinen geträumten Gorki bald dazu, den Widerstand aufzugeben und seine schwache Seite zu zeigen: die Eitelkeit und Selbstüberschätzung des gefeierten Erfolgsmensehen. Ein Klassiker oder nicht, auf jeden Fall bin ich eine Hauptfigur, denkt dieser Gorki bei sich, in mir ist eine teuflische Kraft, ich habe vieles geschafft und werde noch vieles schaffen.
Wie der Botschafter Tolstoj bei Aleksej schwingt auch Jagoda die Keule des Nationalismus, jetzt in der sowjetischen Variante: Auf Sie wartet das ganze sowjetische Volk. Ganz Russland hascht nach jedem Wort von Ihnen. Der Aufbau des Sozialismus aus dem Munde des NKWD-Chefs hört sich so an: Das Paradies wird gebaut, gebaut für alle. Mühevoll, mit Knirschen, manchmal mit Blut, aber es wird gebaut. Und allein Ihre Anwesenheit in der Nähe, auf derselben Erde mit dem eigenen Volk wird dem Bau so viel Kraft geben, dass er Berge versetzt.
Gorki ist beeindruckt: Ich habe mich selbst danach gesehnt, hier ist alles ausgeschöpft, es gibt nichts Neues mehr. Worüber man schreibt, dort muss man auch leben. Leben, nicht zu Gast sein. Andererseits muss er sich eingestehen, dass er dieses schon fünf Jahre dauernde Pendeln zwischen Sorrent und Russland auch gebraucht hat. Die Villa ist weiter sein Zuhause, hier sind sein Archiv, sein Arbeitszimmer, eine Menge Sachen, die ihm teuer sind. Wie zuvor bei Aleksej bleiben auch Zweifel, ob der Herrscher frühere Verfehlungen wirklich verziehen hat. Gorki hat Lenin und Stalin öffentlich kritisiert, die Sozialrevolutionäre verteidigt, vielen Feinden der Revolution die Ausreise ermöglicht. Daran könnten sie ihn dort ständig erinnern. Jagoda winkt ab: Das ist alles vergeben und vergessen. Wer hat sich denn noch nie im Leben geirrt? Er könne ihm übermitteln, was „er selbst“ (d.h. heißt Stalin) über Gorki gesagt hat: viele seiner Ermahnungen haben das Land gerettet. Der gerissene NKWD-Chef überschüttet den schwankenden Schriftsteller mit einer Flut dreister Schmeicheleien: Einfach genial sei er, ein Mann von staatsmännischer Größe, seine Verdienste unschätzbar. Jagoda wagt es sogar, die „Unzeitgemäßen Gedanken“ 1917-1918 in der Zeitung „Novaja zhizn’“ , in denen Lenin und die Bolschewiki als gewissenlose Abenteurer und Totengräber der Revolution erscheinen, zu diesen Verdiensten zu zählen.
Geschickt analysiert der Autor Sentschin die Taktik des Diplomaten, der neben Lügen und maßlosen Übertreibungen auch die wahren Verdienste des Schriftstellers zum Einsatz bringt, vor allem seine Aktionen zur Rettung von Werken der Kunst und der Wissenschaft und ihrer Schöpfer: Hätte es Sie nicht gegeben, sagt er, wir hätten eine Wüste auf der Ebene der Kultur, und er spricht damit eine heute unbestrittene Wahrheit aus. Dasselbe gilt für die Menschlichkeit Gorkis, von der Jagoda mit geheuchelter Hochachtung spricht. Im Flüsterton wie zuvor der Botschafter Tolstoj gibt er dem Schriftsteller zu verstehen, dass es mit der Menschlichkeit unter Stalin nicht zum besten stünde. Aber Gorki könne und werde das ändern, sein in Moskau bereitstehender Palast werde ein neues Jasnaja Poljana sein, von dem aus Gorki eine menschliche Literatur und einen gerechten Staat organisieren werde, und er werde damit die „goldene Kette unserer Menschlichkeit“ vollenden, die von Radischtschew zu Puschkin, von Puschkin zu Tolstoj und von Tolstoj zu Gorki reiche. Im Begriff der Menschlichkeit offenbart sich der am deutlichsten der Zynismus dieses Technikers der Lüge und des Betrugs.
Wie zuvor beim Zarewitsch endet die Attacke auf Gorki mit dem flehentlichen Appell an das Gewissen des zögerlichen Heimkehrers: Russland geht zugrunde ohne Sie, das Volk ist nach den Opfern der Revolution und des Bürgerkriegs am Ende. Was es , erträumt hat, ist nicht eingetreten. Was da erbaut wird, ist nichts anderes als die alte Autokratie. Neue Kräfte sind nötig, die Stalin nicht stürzen, aber korrigieren werden. Retten Sie uns!
Gorki gibt sich geschlagen und Sentschin führt ihn mit deutlichem Spott vor, wobei die stets angewendete Ich-Form (der Erzähler ist ja in Gorkis Rolle geschlüpft) die Ironie verstärkt: „Ich hielt es nicht mehr aus. Zum Glück fing ich nicht an zu weinen, aber die großen heißen Tränen liefen durch die tiefen Furchen meines Gesichts wie durch Kanäle“. Die Neigung zu übermäßigem Tränenfluss gehört zu den Standardwerkzeugen der satirischen Gorki-Porträts.
Der Beschluss zur Rückkehr ist gefasst. Danach besinnt sich Gorki wie zuvor der Zarewitsch auf ein mögliches Problem im Zusammenhang mit der Frau, die er liebt. Diesmal ist es Marija Ignat’evna Budberg, oft auch mit den Titeln Baronesse oder Gräfin geschmückt, unter den drei Gorki am nächsten stehenden Frauen die am meisten von Gerüchten und Skandalen umwitterte „Mura“, und wohl diejenige, die er am leidenschaftlichsten, aber letztlich unerwidert, geliebt hat.
Wird man Marija Ignat’evna in Russland die vollen Rechte einer Ehefrau zuerkennen und sie nach seinem Tod als Erbin akzeptieren, erkundigt sich Gorki bei Jagoda. Der gibt sich großzügig, selbstverständlich sei und bleibe sie die wahre Ehefrau und treue Genossin des Schriftstellers. Sentschein spielt hier auf die Streitigkeiten zwischen den Frauen um die Rangfolge der Nähe zu Gorki an, die sich besonders zwischen Jekaterina Pawlowna Peschkowa, der Mutter seiner Kinder, und seiner langjährigen Lebensgefährtin Marija Fjodorowna Andrejewa abspielten. Stalin und seine Helfer nutzten alle Frauen der Umgebung Gorkis in dieser oder jener Weise zur Einflussnahme auf den Schriftsteller.
Wie die Freundin des Zarewitsch Jefrosinja ist auch „Mura“ am Ort der Entscheidung. Auch sie befürwortet die Rückkehr, verspricht bald zu folgen, fährt aber stattdessen nach London (wohl zu dem Schriftsteller H.G. Wells, mit dem sie nun lebt, und wohl auch zum britischen Geheimdienst, mit dem sie arbeitet).

Wie zuvor in den Visionen des Zarewitsch Aleksej wird die dem Rückkehrer bevorstehende Zukunft gleichfalls mit Gorkis eigenen Gedanken und Worten erzählt. Er weiß, dass er Mura erst auf dem Sterbebett wiedersehen wird, dass er sich nach dem schönen Sorrent sehnen wird, stattdessen aber auf die Krim reisen muss, weil eine Ausreise ihm nicht mehr erlaubt wird. Er erzählt von der luxuriösen Villa im Zentrum Moskaus, in der er sich nicht wohlfühlen wird, rund um die Uhr bewacht wie unter Hausarrest. Und er weiß auch, was er eigentlich nicht wissen kann: Nach seinem Tod wird der Terror erst richtig beginnen, Menschen werden massenhaft gefoltert und in Lager verschickt, erschossen und in Massengräbern verscharrt.
Zu den Parallelen mit der Geschichte des Zarewitsch gehört auch das Schicksal der Botschafter. Die Vision vom Ende des Diplomaten Tolstoj wiederholt sich im Bild des Gefangenen Jagoda, dessen von Folter entstellten Körper man über den Boden eines Kellers zur Hinrichtung schleppt. Wieder sagt der Rückkehrer seinem Begleiter voraus: Genrich, Sie werden erschossen. Faschisten?, fragt der Angesprochene ungerührt nach. Nein, die eignen, lautet die Antwort.

Das ist das Ende der Träume des Schriftstellers Roman Sentschin, er erwacht in seinem Bett im Palazzo Salgar am Golf von Neapel, wo sich auch die Dramen der beiden Rückkehrer abgespielt haben. Auf dem Nachtschrank steht ein Glas mit einem Rest von Grappa. Der Schriftsteller trinkt es aus und schaltet sein Mobiltelefon ein. Der Schluss der Erzählung lautet: „05:27. Do 19.04.2018“. Bis zur Rückkehr nach Russland blieben noch zwei Tage.“

Was der Autor über diese Heimkehr denkt, was ihn in Russland erwartet, wie er überhaupt über dieses Land, seine Geschichte und seine Gegenwart denkt, all das bleibt ein Leerstelle, die der Leser füllen muss. Denn ohne irgendwelche Schlussfolgerungen kann ein Geschehen von solcher Dramatik nicht einfach stehen bleiben. Soviel lässt sich sagen: eine Stimmung der Befriedigung und Genugtuung darüber, nun bald in ein Land zurückzukehren, in dem es diesen Abgrund von Lüge, Verrat und Gewalt Gott sei Dank nicht mehr gibt, wird man hier nicht erwarten dürfen. Zumindest die Frage nach den Ursachen dieser dunklen Seiten des Landes und die Sorge um ihr Weiterbestehen scheint hier unausweichlich gefordert. Solche Gedanken werden vom Erzähler jedoch nicht angeboten. Auch in seinen anderen Werken vermeidet Sentschin direkte politische Kommentare. Fast wie ein Zeugnis der eigenen Ratlosigkeit erscheint der Roman „Was wollt ihr eigentlich?“ über die „Schneerevolution“ 2011/12, an der er aktiv beteiligt war.
Auf der Skala zwischen Linksliberalen und Konservativen muss man ihn eher den letzteren zurechnen. In einer seiner jüngsten Erzählungen („Hilfe“) begleitet er sogar mit erkennbarer Sympathie einen Schriftsteller bei dessen Hilfsaktionen für die Separatisten in der Ostukraine. Klar sind seine Positionen jedoch in seinen publizistischen Beiträgen, wenn es um die Verbrechen der Stalinzeit geht. Dabei sind für ihn stets moralische Kriterien entscheidend. So zeigt er sich fassungslos, wenn eine Druckerei der Orthodoxen Kirche Kalender für Stalinverehrer druckt und vertreibt. Auch in den Protestbewegungen der letzten Jahre war dieser Schwerpunkt auf Lüge, Betrug und Korruption im Regierungshandeln zu beobachten, besonders die jungen Demonstranten wehrten sich gegen die primitiven Phrasen der Politiker und ihrer Lehrer, die eine Beleidigung für denkende Menschen darstellen.

Wie die Kritik auf die Erzählung „Rückkehr“ reagiert hat, ist mir nicht bekannt, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass Sentschin hier für viele Patrioten eine rote Linie überschritten hat, Verunglimpfung des russischen Staates und der vaterländischen Geschichte könnte der Vorwurf lauten. Zum Problem der Presse- und Meinungsfreiheit
in Russland gab es im vergangen Jahr einige aufschlussreiche Beiträge in dem Portal dekoder.org, das gerade sein dreijähriges Bestehen gefeiert hat und neuerdings auch mit den rein akademischen „Russland-Analysen“ zusammenarbeitet. Beide Organe möchte ich meinen Lesern nachdrücklich empfehlen.

Was den eigentlichen Gegenstand dieses Blogs, den Schriftsteller Maxim Gorki betrifft, so war ich sehr erfreut, bei einem so angesehenen und viel gelesenen Autor wie Roman Sentschin eine so einfühlsame Darstellung der schwieirigen Situation Gorkis bei seiner Rückkehr in die Sowjetunion zu finden. Das widerspricht meiner eher pessimistischen Einschätzung der Rolle Gorkis in der gegenwärtigen russischen Literatur. Er ist eben doch nicht nur ein „sowjetischer“ Schriftsteller, der mit dieser Periode vergangen ist, wie die recht farblosen Beiträge zum 150. Geburtstag nahegelegt haben. Im kommenden Jahr soll es auf diesem Blog u.a. darum gehen zu zeigen, dass selbst der vom Stalinismus infizierte Gorki in seiner letzten Periode noch Anlass zu vielen interessanten Fragen und Entdeckungen bietet, besonders hinsichtlich seiner Menschlichkeit, die Jagoda in der Erzählung zum Werkzeug seiner schmutzigen Tricks zu machen versucht.

Ich wünschen Ihnen, liebe Besucher des Blogs der-unbekannte-gorki.de, ein glückliches Neues Jahr mit vielen guten Leseerlebnissen, und für uns alle eine Beruhigung der oft hysterischen politischen Großwetterlage.

Text:
Roman Sentschin (Senchin), „Vozvrashchenija“, in: Kvartirantka s dvumja det’mi. Sbornik rasskazov, Eksmo, Moskva 2018

Über Roman Sentschin
11.07.2010 Ein Mönch der Literatur: „Vorwärts und aufwärts“ von Roman Senchin“
03.01.2014 ”Was wollt ihr eigentlich?” – Roman Sentschins Buch über die „Schneerevolution“ 2011-12

Kategorie: Neue russische Literatur

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