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„Hier gibt es keine Zukunft“ – Masha Gessen über Putins Russland

Samstag, 09. Februar 2019, 18:19:56

„Hier gibt es keine Zukunft“ – Masha Gessen über Putins Russland

Masha Gessen, Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor. Aus dem amerikanischen Englisch von Anselm Bühling, Suhrkamp Verlag Berlin 2018. Originalausgabe: The Future Is History: How Totalitarianism Reclaimed Russia, Riverhead Books, NewYork 2017

Das düstere Design des Umschlags – eine Angestellte hinter Glas, deren Gesicht von einem vergitterten Loch verdeckt ist – illustriert einen unmenschlichen, gesichtslosen Staat. Der paradoxale Titel – Russland hat seine Zukunft hinter sich – erhält schon in den ersten Sätzen des Buches seinen konkreten Sinn: in den 1970er Jahren hat die Großmutter der elf- oder zwölfjährigen Masha erklärt, die UdSSR sei ein totalitärer Staat. Sie hat das sowjetische Regime mit dem nationalsozialistischen verglichen, mit dem Unterschied allerdings, dass die russische Variante ewig währen würde und sie deshalb das Land verlassen müssten. 1981 emigrierte die Familie in die USA, um 1994 in ein gänzlich verändertes Land zurückzukehren: ein Reich der Freiheit und der ungeahnten Möglichkeiten, das Russland damals wirklich war. Was dann folgte, war eine Geschichte, die aus vielen anderen Quellen bekannt ist, sie handelt von Russen, die nach längerem Aufenthalt im Ausland in die Heimat zurückkehren und schockiert sind von den Zuständen dort, von der Willkür der Behörden und einer Atmosphäre der Unsicherheit und Angst, die sich aus geringfügigen Anlässen in aggressivem Verhalten entladen kann. Extreme Beispiele dieser Erlebnisse in vergangenen Epochen hat Roman Sentschin in seiner Erzählung „Rückkehr“ gegeben, die Thema des vorigen Eintrags auf diesem Blog war. Im Falle der Autorin Masha Gessen endete die Heimkehr zum Glück nicht im Gefängnis oder einer erzwungenen Anpassung an die Verhältnisse (wie bei Gorki), sondern mit einer neuerlichen Ausreise 2013 in die USA, also mit dem zweiten Exil. Anlass war die Gesetzgebung gegen „homosexuelle Propaganda“, die das persönliche Leben der Journalistin betraf. Davon wird jedoch im Buch nicht berichtet, der autobiographische Anteil an der Geschichte geht offenbar in die Schicksale der vier Zeitzeugen ein, die Gessen für ihr historisches Thema gewählt und in langen Gesprächen befragt hat.

Die Protagonisten sind zwischen 1982 und 1985 geboren und erleben so die Periode vom Zerfall der UdSSR bis gegen Ende der dritten Amtszeit des Präsidenten Wladimir Putin im Jahr 2017, mit dem das Buch endet. Die vier sind früh genug auf die Welt gekommen, um das Gefühl der Perestroika mit ihren ungeahnten Möglichkeiten und Hoffnungen zu erfahren, werden aber schon in früher Jugend mit dem Ende dieser Möglichkeiten und Hoffnungen konfrontiert. Jeder der vier startet unter für sowjetische Verhältnisse relativ günstigen Bedingungen, ihre Eltern und Großeltern haben als Wissenschaftler, hohe Funktionäre oder Geschäftsleute gewisse Privilegien in die Familie gebracht, jeder erhält eine Hochschulbildung und macht sich auf den Weg, um in der Politik oder in der Wirtschaft ein erfülltes persönliches Leben und gleichzeitig ein sinnvolles Mitwirken am Aufbau einer demokratischen Ordnung zu erreichen. Am Ende des Buches, im Alter von nicht mehr als 35, haben zwei das Land verlassen, von den beiden anderen befindet sich einer im Zustand der Lethargie, der andere in einer tiefen Depression. Ein so eindeutiger Befund könnte Zweifel am repräsentativen Charakter dieser Zeitzeugen hervorrufen, und sicher handelt es sich um eine Auswahl von Menschen, in deren Schicksal sich die tief pessimistische Einstellung der Autorin zu den russischen Verhältnissen besonders deutlich spiegelt. Sie gehören nicht zu der Kategorie des homo sovieticus, der als Forschungsobjekt der Soziologen in diesem Buch eine wichtige Rolle spielt: ein von Angst und dem ständigen Versteckspiel mit dem übermächtigen Staat deformierter Charakter. Es handelt sich vielmehr um Menschen mit der Fähigkeit zu selbständigem Denken und einem ausgeprägten Sinn für moralische Werte und die Würde des Menschen. Mit diesen Eigenschaften schließen sie sich, jeder auf seine Weise, der sogenannten „Winter-Revolution“ 2012-2013 an, den größten Protestaktionen seit Ende der UdSSR. Diese Ereignisse und ihre Folgen in Form der sogenannten „Bolotnaja-Sache“ (Bolotnoe delo, benannt nach dem Platz in Moskau, auf dem im Dezember 2011 ca. 50.000 Menschen demonstrierten), stellen in diesem Buch eine symbolische Verdichtung des Themas dar: die Konfrontation eines Regimes, das mit offenkundig betrügerischen Mitteln um nichts anderes als den Machterhalt agierte, und einer überraschend großen Zahl von Menschen, die nicht gewillt waren, sich dieses politische Theater weiter gefallen zu lassen. Es ging um Fälschungen bei der Parlamentswahl und den Stuhlwechsel des „Tandems“ Putin/ Medwedjew, das dem Präsidenten faktisch eine dritte Amtszeit verschaffte. Es gab bei den Demontranten kaum im engeren Sinne politische Motive, etwa Rücktrittsforderungen wie in späteren Aktionen, es ging in erster Linie um den Ausdruck der Empörung denkender Menschen über die Unverfrorenheit und „öffentliche Schamlosigkeit“ der Regierung, die auf den Transparenten als „Diebe und Gauner“ tituliert wurde. Näheres über diese Protestbewegung ist auch auf diesem Blog zu lesen, insbesondere in dem Eintrag „Zum Neuen Jahr 2012: Das Neue Russland auf dem Bolotnaja-Platz“ (weitere Links am Schluss).

Die Namen der vier Protagonisten des Buchs, auf umgangssprachliche Formen ihrer Vornamen – Masha, Serjosha, Shanna und Ljoscha - reduziert, werden im folgenden (auch in der Schreibung) beibehalten, ihre Identität wird aber von der Autorin keineswegs verschwiegen, unter ihnen ist sogar eine bekannte Persönlichkeit: Shanna, die Tochter des ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemzow. Ergänzt wird dieses Personal durch andere bekannte Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, die Psychologin und Psychoanalytikerin Marina Arutjunjan, Mitglied der wiedererstandenen Psychoanalytischen Gesellschaft in Russland, der Soziologe und Pionier der wissenschaftlichen Meinungsforschung Lew Gudkow und – als eine eher dubiose, aber enorm einflussreiche Persönlichkeit – der Philosoph und rechtsextreme Aktivist Alexander Dugin. Viel Aufmerksamkeit wird auch den Auftritten Wladimir Putins gewidmet, dessen Erfolge Gessen auf das seltene Zusammentreffen von Charisma und Bürokratie in einer Person zurückführt. Auch Putins mitleidlose Beziehung zu den Opfern von Terroranschlägen und anderen Katastrophen und seine Neigung zu vulgären Beleidigungen politischer Gegner gehören zu diesem Profil.


Sie haben nur Putin an der Macht erlebt

Masha (Maria Baronowa) ist unter den vier Hauptpersonen die mutigste und energischste politische Aktivistin. Dabei hat sie nach einem Chemiestudium an der Moskauer Staatsuniversität eine Beratertätigkeit für Unternehmen der Chemiebranche gefunden, die ihr ein komfortables Leben ermöglicht. Aber die Winterereignisse 2011-2012 haben sie in die Politik getrieben, der sie ihre ganze Kraft widmet. Sie liebt verrückte Alleingänge, stellt sich zum Beispiel allein vor eine Front von schwerbewaffneten Soldaten der Sicherheitstruppe OMON und redet den jungen Männern ins Gewissen. Die sind verblüfft über diesen Auftritt und lassen sie gewähren. Masha sagt von sich: „Ich komme nicht ins Gefängnis. Ich gehe zwischen den Regentropfen hindurch, ohne nass zu werden.“ Eine Art Lebensversicherung ist ihre Arbeit als Journalistin, die auch Beiträge in amerikanischen Printmedien publiziert. In den Jahren nach den Winterprotesten ist sie an allen Brennpunkten der politischen Entwicklung präsent: auf den Barrikaden des Maidan in Kiew, wo sie Demonstranten und Milizionäre interviewt, auf der Krim, wo sie Männer in neutralen Uniformen als russische Soldaten erkennt und bei den von Nemzow und Nawalny angeführten Demonstrationen gegen die Ukraine-Politik und die Korruption der Regierung. Am 12. Juni 2017, bei ihrem letzten Auftritt im Buch, befindet sie sich unter Demonstranten, die fast noch Kinder sind und zu ihren Vorgängern von 2011-12 keine Verbindung mehr haben. Masha selbst ist am Ende ihrer Kräfte, sie beschließt, aus der Politik auszusteigen. Im Vergleich mit den vielen verurteilten Menschen in der „Bolotnaja-Sache“ hat sie dennoch „ein glänzendes Leben“ geführt, bemerkt die Autorin sarkastisch.

Serjosha (Sergei Jakowlew) ist in früher Jugend durch seinen Großvater politisiert worden, Alexander Nikolajewitsch Jakowlew (1923-2005), einen der führenden Köpfe der Perestroika und „ein Unikum unter den kommunistischen Funktionären“, wie Gessen feststellt. Kennnzeichnend für seine integre Persönlichkeit war seine Tätigkeit als Vorsitzender der Rehabilitationskommission, wo er sich mit aller Kraft für die Publikation der Dokumente des stalinschen Terrors einsetzte. Sein Enkel Serjosha hat ihm dabei geholfen, aber nach dem Tod des Großvaters diese schwierige Arbeit nicht fortgesetzt. Die schwere Last der Vergangenheit und die traumatischen „Familiengeheimnisse“, die der Terror in der russischen Gesellschaft hinterlassen hat, sind in dem Kapitel „Versperrte Trauer“ eindrucksvoll geschildert. Serjosha, bei weitem nicht so mutig und enthusiastisch wie Masha, teilte doch die Empörung der Menschen über die tiefe Missachtung der menschlichen Intelligenz, die in den Wahlmanövern des „Tandems“ Putin/Medwedjew zum Ausdruck kam. Vollends wütend machte ihn der Auftritt Putins in seiner Show „Direkter Draht“, in der der Präsident eine seiner bekannten „humorvollen“ Bemerkungen zum besten gab. Sie bezog sich auf die „weißen Bänder“, die die Demonstranten als Zeichen des gewaltlosen Protests trugen. Er habe zuerst gedacht, es gehe um Aids-Aufklärung, erklärte Putin, und „pardon, sie hätten sich Präservative an die Brust geheftet“. Serjosha machte sich sofort auf, die Bänder in großen Mengen aufzukaufen und zu verbreiten, und als das nicht gelang, entwickelte er eine Technik, sie zu Tausenden herzustellen. Am Ende verlässt aber auch ihn die Lust am Protestieren. Er fühlt sich schuldig und versinkt in einer Depression, zu der eine lebensbedrohliche Hautkrankheit hinzukommt. Im Epilog berichtet die Autorin, dass ihr Kontakt zu Serjosha im Jahr 2015 abgebrochen ist.

Shanna Nemzowa ist von solchen Heimsuchungen verschont geblieben. Auch das Attentat auf ihren Vater Boris Nemzow im Jahr 2015, Grund genug, um sich aus der schmutzigen Welt der Politik zurückzuziehen, hat sie nicht in Resignation verfallen lassen. Sie hat das Land verlassen und widmet sich ganz dem Andenken ihres Vaters und seiner Vision eines Russlands der Freiheit und Demokratie. Der Geist der Freiheit wehte schon in Shannas Elternhaus, einem der alten Holzhäuser im Zentrum Nischni Nowgorods, das damals nach dem Willen Stalins Gorki hieß. Als Kind habe Shanna gar nicht gewusst, dass der Stadtname einem Schriftsteller galt, berichtet Gessen. Kaum zu glauben, aber jedenfalls kannte das Kind den Namen des Dissidenten Andrej Sacharow, der dort in der Verbannung lebte. Boris Nemzow hat ihn bei einer seiner ersten politischen Aktivitäten um Rat gefragt, dem erfolgreichen Protest gegen den Bau eines Atomkraftwerks. Es gehört zu den traurigen Momenten der Lebens- und Wirkungsgeschichte Gorkis, dass sein Namen hier das Gegenteil seiner Ideale verkörperte, den Geist der Unfreiheit und des staatlichen Terrors.
Die Lebensläufe Boris Nemzows und seiner Tochter Shanna kann man im Internet nachlesen, an dieser Stelle sollen nur einige bemerkenswerte Episoden erwähnt werden.
Dazu gehört die Tätigkeit Nemzows als vom Präsidenten Jelzin eingesetzter Gouverneur der Provinz Nischni Nowgorod (1991-1997), als auch die Stadt wieder so hieß. Nemzows Wirtschaftspolitik in dieser Region erregte weltweit Aufsehen. Er verstand es, die Privatisierungen nicht wie sonst als Raubzüge von Abenteurern auf das Staatseigentum zuzulassen, sondern sie im Einvernehmen mit den ansässigen Bewerbern und der Bevölkerung zu organisieren. Die Verhandlungen führte Nemzow großenteils persönlich. Im Kreml der Stadt waren ausländische Berater zu Gast, darunter Margaret Thatcher, die sich beeindruckt zeigte von dem jungen Gouverneur und seiner Politik. Shanna vermisste in dieser turbulenten Zeit wie auch später ein wenig das Familienleben, aber sie lernte auch viel über Wirtschaftspolitik und Finanzgschäfte, die weiterhin der Schwerpunkt ihrer Ausbildung und Tätigkeit als Journalistin blieben. Als Jelzin den erfolgreichen Gouverneur nach Moskau holte und zum ersten Stellvertreter des Ministerpräsidenten machte, galt das als deutliches Zeichen für die Einsetzung Nemzows als „Thronfolger“. Dass er es nicht wurde, lag vor allem an seiner Ablehnung des Tschetschenienkriegs, gegen den er eine Million Unterschriften sammelte. Nachfolger Jelzins wurde bekanntlich Wladimir Putin, zuerst 1999 als Premierminister, als er ein nahezu unbekannter Politiker war, den Jelzin kürzlich als Chef des Geheimdienstes FSB eingesetzt hatte. Nemzow war zuvor wegen der Ernennung Jewgeni Primakows zum Ministerpräsidenten zurückgetreten und flog mit seiner Familie in die USA, wo er als Gast der Harvard University Vorträge hielt. Zum Verhältnis von Vater und Tochter sei noch erwähnt, dass Shanna sich im Jahr 2005 von Nemzow überreden ließ, für die Moskauer Stadtduma zu kandidieren. Sie erreichte beachtliche zehn Prozent der Stimmen, aber das Mandat bekam der längst dafür vorgesehene Bewerber der Putin-Partei. Im Buch wird Shanna in verschiedenen Zusammenhängen mit dem Ausspruch zitiert: „Hier gibt es keine Zukunft“.

Ljoscha (Alexei Gorschkow) unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von seinen Altersgenossen. Er lebte mit seiner alleinerziehenden Mutter nicht gerade in privilegierten Verhältnissen in der kleinen Stadt Solikamsk westlich vom Ural in der Nähe von Perm, wo Armut und Verfall herrschten. Erst als Ljoscha sich an dem Aufsatzwettbewerb „Meine Familie in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts“ beteiligt, erzählt ihm seine Mutter, die als Geschichtslehrerin arbeitet, dass der Urgroßvater und seine Familie als deutsche Siedler von der Wolga in Viehwaggons hierher deportiert worden sind - eines der vielen erschütternden Familiengeheimnisse in diesem Buch. Ljoscha persönlich erfährt nun eine noch gefährlichere Stigmatisierung, nachdem er entdeckt hat, dass er Männer als Partner lieber mag als Frauen. An der Staatsuniversität in Perm studiert er in einem vergleichsweise liberalen Milieu Politik und fasst den verhängnisvollen Plan, die Verfolgung von Schwulen und Lesben zum Gegenstand der Wissenschaft zu machen, beginnend mit der Diplomarbeit „Sexuelle Minderheiten als Gegenstand der Politik“. Unter dem Schutz einer Vorgesetzten gelingt es ihm sogar, eine Dissertation aus dem gleichen Forschungsbereich erfolgreich abzuschließen und ein „Zentrum für Gender Studies“ an der Universität in Perm zu gründen. Aber man gibt ihm schnell zu verstehen, in was für ein Wespennest er hier gestochen hat. „Ist Ihnen klar, dass es in Russland keine Lesben gibt?“, fragt ihn eine Professorin aus Petersburg und ein Mitglied der Prüfungsausschusses empört sich hinter vorgehaltener Hand: „Hier wird Sodomie propagiert!“ In Moskau wird das neu gegründete Institut für Soziologie zum Sammelbecken einer rechtsextremen Bewegung, die sich mit Unterstützung konservativer Soziologen aus den USA lautstark für den Schutz der Familie und der Kinder stark macht, in Wirklichkeit aber Propaganda gegen sexuelle Minderheiten macht. Auch in Perm formiert sich eine aggressive Bewegung gegen „Pädophile“ und die „Pädophilenlobby“. Die staatsnahen Medien entdecken den Pädophilenvorwurf als eine mächtige Waffe gegen politische Gegner aller Art. Besonders im Umkreis des Philosophen und Aktivisten Alexander Dugin kursieren Sätze wie die folgenden: „Die meisten liberalen Soziologen in Deutschland sind homosexuell“ und „sechzig Prozent der Homosexuellen sind HIV infiziert“. In den sozialen Netzwerken werden Hetzjagden auf Pädophile organisiert, Gessen zitiert eine 21-jährige Bloggerin, die verkündet, innerhalb von sechs Monaten die Namen und IP-Adressen von 80 Pädophilen ermittelt zu haben: „Sie sind überall. Sie haben sich zusammengetan. Es sind Hunderttausende.“ Auch in Perm breiten sich Hassparolen aus. Ein Posting auf dem populären Netzwerk Vkontakte lautet: „Wo hat Perm seine Augen? An der Staatlichen Forschungsuniversität Perm wird Propaganda für Sodomie betrieben“. Gemeint ist das von Ljoscha gegründete Institut für Gender Studies. Ein Sicherheitsbeamter heftet sich an seine Spuren, das Ende seiner Karriere ist unausweichlich. Im Jahr 2014 kehrt Ljoscha von einem Besuch in New York nicht nach Russland zurück. Er resigniert aber nicht, sondern bleibt auch in der Emigration ein Kämpfer gegen Diskriminierung von Minderheiten.

Unbedingt lesenswert ist in diesem Buch auch die Geschichte der Psychologin und Psychoanalytikerin Marina Arutjunjan, obwohl sie vom Alter nicht zu den vier Protagonisten gehört. Im Jahr 1973 schrieb sich die 17jährige an der Fakutät für Psychologie ein, die gerade erst wieder eingerichtet worden war. Um die Jahrhundertwende hatte das Fach im geistigen Leben Russlands eine bedeutende Rolle gespielt, nach der Revolution wurde es sogar ein Teil der bolschewistischen Ideologie. Es ist kaum bekannt, dass die Werke von Freud, Jung u.a. zwischen 1922 und 1928 im sowjetischen Staatsverlag erschienen waren und als praktische Anleitungen zur Erziehung des Neuen Menschen dienen sollten. Unter Stalin verschwand dieses Material in den Geheimarchiven. Seelische Konflikte waren fortan im Leben der Sowjetmenschen nicht mehr vorgesehen, so wie auch die Soziologie nur noch als feindliche Ideologie des Westens existieren durfte. Arutunjans Entscheidung für die Psychologie entsprang der Hoffnung, es gehe in dieser Ausbildung wieder um die Seele des Menschen, aber nach zwei Jahren Marxismus-Leninismus war sie in einer so desolaten Verfassung, dass sie das Studium erst einmal abbrach. Am Ende ihrer Karriere steht jedoch eine eigene Praxis als Psychoanalytikerin in Moskau und die Mitgliedschaft in der Psychoanalytischen Gesellschaft Russlands, die als Sektion der internationalen Gesellschaft dieses Namens anerkannt ist. Dass in der Wiederkehr totalitärer Strukturen im gegenwärtigen Regime so etwas wie der „Todestrieb“ im Sinne Freuds zum Ausdruck komme, ist allerdings ein sehr ausgefallener Gedanke.
Auch die düstere Beschreibung des Moskauer Stadtbildes im Kapitel „Krieg ohne Ende“ suggeriert den Eindruck, hier sei ein Land dabei, „sich selbst zu begraben“.

Im Klappentext lesen wir, Masha Gessen habe „ein Russland-Buch geschrieben, wie es noch keines gab“. Das mag in mancher Hinsicht zutreffen, aber was die Idee einer „Generation Putin“ betrifft, kam mir sofort das auf diesem Blog besprochene gleichnamige Buch von Benjamin Bidder in den Sinn. Auch dort operiert der Autor mit dem Material aus Befragungen von Zeitzeugen, die zwar etwas später (1991) geboren sind, aber im wesentlichen doch der gleichen Generation angehören. Bidder ist – im Gegensatz zu Gessen – im positiven Sinne fasziniert von diesem Land und seinen Menschen, obwohl es auch dort nicht an klaren Worten über das gegenwärtige Regime fehlt. Der Untertitel „Das neue Russland verstehen“ impliziert eine nachdenkliche und empathische Einstellung des Autors zu seinem Gegenstand, am Ende ist von einem „diffusen Optimismus“ die Rede. Eine vergleichende Bewertung scheint mir hier nicht angebracht, wer sich ernsthaft für das neue Russland interessiert, sollte beide Bücher lesen.


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12.12.2016 Vorläufer eines neuen Russlands? – Ein deutscher Journalist über die „Generation Putin“

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Kategorie: Russland und die Russen

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