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„Durch die Union der Sowjets“ – Gorki besichtigt das neue Russland

Freitag, 19. April 2019, 20:08:10

„Durch die Union der Sowjets“ – Gorki besichtigt das neue Russland

Das Foto zeigt Gorki 1928 in Moskau mit dem Organisator der sowjetischen Automobilindustrie Iwan Lichtschow (Zentrum) und Arbeitern


Am 28. Mai 1928 fand auf dem Weißrussischen Bahnhof in Moskau die offizielle Begrüßung Maxim Gorkis statt, der nach einem sechseinhalb Jahre dauernden Aufenthalt in Westeuropa in die Heimat zurückgekehrt war - nach einhelliger Auffassung der Anwesenden für immer. Vor einer vieltausendköpfigen Menge traten als Begrüßungskomitee führende Mitglieder von Partei und Regierung auf, darunter Nikolai Bucharin, Anatoli Lunatscharskij und Kliment Woroschilow, dazu als führende Vertreter der Sowjetliteratur Leonid Leonow, Alexander Serafimowitsch, Wsewolod Iwanow, Fjodor Gladkow u.a.. Am Abend kam es im Bolschoi-Theater zur ersten Begegnung mit Stalin.
Um das Thema der Rückkehr nach Russland von in Ungnade geratenen Staatsbürgern ging es in dem Eintrag zum Jahresbeginn auf diesem Blog. Gorki kam keineswegs als reuiger Sünder nach Russland, obwohl viele Äußerungen im Vorfeld der Reise als Loyalitätserklärungen angesehen werden konnten. Er kam mit der erklärten Absicht, den Kurs des Stalinschen Regimes und die Atmosphäre im Land zu verändern, und zwar zugunsten einer neuen Stimmung der Zuversicht und des revolutionären Enthusiasmus. Mit Sorge hatte er die Konflikte Stalins mit der konservativen Opposition, die wirtschaftlichen Rückschläge und den zunehmenden Widerstand der Bauern gegen die Politik der Regierung wahrgenommen. Ein neuer Aufschwung der gesellschaftlichen Stimmung, so hoffte er, sollte alle Wogen glätten. Das wichtigste Projekt für diesen Zweck war die Gründung der Zeitschrift „Unsere Errungenschaften“ (Nashi dostizhenija), deren Programm er in dem Artikel „Über unsere Errungenschaften“ vorstellte: „Die Arbeit der einfachen Menschen an Werkbank und Pflug, von Menschen, die unter schwersten Bedingungen leben, ist wahrhaft heroisch, aber die Helden selbst verstehen das nicht. /…/In unserer Wirklichkeit ist ein echter Held geboren und wächst heran – er muss das wissen. Und er wird es wissen, wenn wir vor ihm einen Spiegel aufstellen, und dieser Spiegel soll das Journal sein, das dem aktiven Arbeiter der Revolution und der Kultur seine Errungenschaften auf allen Gebieten der Wissenschaft, der Technik, der Kunst und des Alltagslebens zeigen soll.“
Im Prinzip war das eine Wiederaufnahme der Idee einer idealistischen Kulturrevolution, die Gorki schon in den „Unzeitgemäßen Gedanken“ der Jahre 1917-1918 vertreten hatte, nun aber erneuert unter den Bedingungen einer etablierten Macht, die Gorki nach einer Periode harter Kritik an der Sowjetregierung für fähig hielt, diesen Traum zu verwirklichen. Die Erfahrung, dass diese Hoffnung sich als eine Illusion erwies und ihn in eine Situation unlösbarer Probleme und in schwere Schuldverstrickungen führte, bestimmte die letzten Jahre seines Lebens. Abhängig von der politischen Position des Betrachters gilt diese Periode als die schändlichste oder die tragischste im Leben des Schriftstellers.

Gorkis Initiative „Unsere Errungenschaften“ stieß bei nahezu allen politischen und kulturellen Akteuren in Russland auf Widerstand. Die Bürokratie und Stalin selbst betrachteten sie als eine unerwünschte Gegenstimme zu der von der Regierung vertretenen Forderung nach „Selbstkritik“, die weniger der Entwicklung des freien, verantwortungsbewussten Bürgers diente, als vielmehr der Kontrolle über die Funktionäre, die in ständiger Angst vor öffentlichen Demütigungen leben sollten.
Bei den Kulturschaffenden und Schriftstellerkollegen regte sich Widerspruch gegen die Unglaubwürdigkeit einer einseitig nur auf die Errungenschaften gerichteten Agitation und Propaganda, die Gorkis Programm faktisch darstellte. Außerdem empfanden sie die neue Rolle Gorkis in der Heimat als anmaßend und autoritär, zumal Stalin die Bürokratie anwies, jegliche Kritik an dem größten Schriftsteller der Gegenwart zu unterlassen. Der für seine Kontaktfreudigkeit gegenüber Menschen aller Richtungen und Meinungen bekannte Gorki wurde plötzlich ein unerreichbarer Vertreter der Macht.
Alte Weggenossen wie der Schriftsteller Michail Prischwin wurden zu schärfsten Kritikern seiner Auftritte. Alexander Tichonow, ein alter Freund Gorkis, stellte fest, dass praktisch niemand in seiner Umgebung positiv auf die „Rückkehr“ des Schriftstellers regiert habe: „Er hat alle beleidigt“. Auch die für Gorki wichtigsten Anprechpartner, die „Helden“ an der Werkbank und am Pflug, nahmen seine Appelle nicht ernst. Die Presse der Emigranten berichtete mit Schadenfreude, unter den Arbeitern kursiere die ironische Umbenennung des Schriftstellers in „Gorki, der Süße“. Mit der Rückkehr beginnt auch der intensive persönliche und briefliche Kontakt mit Stalin und seinem Sicherheitschef Genrich Jagoda, eine Beziehung, die in beiden Fällen einem Spiel mit dem Feuer und einem Teufelspakt glich.
Gerechterweise muss allerdings auf eine lange Liste von Hilfsaktionen Gorkis für Verfolgte des Regimes hingewiesen werden, mit denen er die Möglichkeiten seiner neuen Rolle geschickt nutzte.

Im vorliegenden Eintrag geht es um den Reisebericht „Durch die Union der Sowjets“ (Po Sojuzu Sovetov), der die Eindrücke von den Russlandreisen Gorkis in den Jahren 1928 und 1929 enthält. Die fünfteilige Serie erschien zuerst 1929 in der Zeitschrift „Unsere Errungenschaften“. Aus heutiger Sicht ist dieses Werk geeignet, wohlmeinenden Gorki-Lesern die Lust an diesem Autor zu verleiden, und dies nicht nur wegen der offen agitatorischen Bestimmung, sondern auch wegen ihrer ebenso offenkundigen literarischen und logischen Mängel. Mit diesem Werk begab sich Gorki, wie auch mit der zeitgleichen Publizistik, in die Niederungen der politischen Propaganda. Er orientierte sich dabei an einem Leser, der wenig Bildung mitbringt, wohl aber die Bereitschaft, sein geringes Selbstwertgefühl durch Lob und Ermunterung, auch durch offensichtliche Schmeicheleien zu verbessern. Wenn es sich meines Erachtens trotzdem lohnt, diese Texte zu lesen, so deshalb, weil sie in plakativer Form die Funktionsweise des sozialistischen Realismus und damit die gesamte Kultur des sowjetischen Kommunismus anschaulich machen, vor allem in Verbindung mit den historischen Hintergründen der geschilderten Personen und Ereignisse, die z.T. erst viel später ans Licht gekommen sind. Diese doppelte Sicht auf die beabsichtigten Wirkungen einerseits und die aus anderen Quellen bekannten Gegenargumente andererseits verdeutlicht auch die von Widersprüchen und taktischen Schwankungen bestimmte Situation des Schriftstellers. Zuerst soll hier Gorkis Besuch auf den Ölfeldern von Baku während der ersten Russlandreise 1928 besprochen werde, der aus guten Gründen auch in der Sammlung am Anfang steht.


Baku – von der schwarzen Hölle zum Arbeiterparadies

Der Bericht über den Besuch der Ölfelder in Baku1928, in der deutschen Übersetzung (in dem Band "Skizzen" des Aufbau Verlags 1956) 17 Seiten umfassend, ist ein Musterbeispiel des sozialistischen Realismus, der fünf Jahre später (1934) zur Richtschnur der Sowjetliteratur werden sollte. Die ersten fünf Seiten sind dem Aufbau einer Kontrastfolie gewidmet, der vorrevolutionären Wirklichkeit am selben Ort, die der Reisende aus eigener Anschauung kennt. Dieses simple Schema „damals contra heute“ ist ein durchgehendes Darstellungsprinzip des Berichts. In Bezug auf Baku stützt sich Gorki auf die Erinnerung an zwei Besuche dieser Örtlichkeiten vor mehr als dreißig Jahren (1892 und 1897). Es ist eine Horrorvision, vergleichbar mit der Angst eines frommen Christenmenschen vor den Qualen der Hölle, eine Angst, an der alle Bemühungen der „Geduld- und Demutsprediger“ abprallen, erklärt Gorki, „die Androhung eines Aufenthalts beim Teufel, in kochenden Teerkesseln, im nie verlöschenden Höllenfeuer“. Die Ölfelder von Baku werden zu einer religiösen Allegorie, die das Thema des ganzen Werkes versinnbildlicht: die alte Welt existiert nur noch als ein Schreckgespenst in der Erinnerung, sie hat dem Paradies des Arbeiterstaates Platz gemacht - oder wenigstens den vielversprechenden Anfängen dieses Projekts.

In der Beschreibung dominiert die Farbe Schwarz, die Farbe des Petroleums, von dem hier alles durchtränkt ist, ein klebriger Schmutz, der ein menschenwürdiges Leben unmöglich macht. Es hat vor kurzem einen Brand gegeben, auch der Himmel ist von einer schwarzen Schicht bedeckt und droht mit „ewiger Finsternis“. Ein Sanitätswagen ist im Schlamm stecken geblieben, der gequetschte Fuß eines Unfallopfers ist sichtbar. Die Arbeitsverhältnisse in dieser Welt veranschaulicht eine Gruppe von zehn halbnackten Arbeitern, die an einem Strick eine dicke Panzerplatte hinter sich herziehen und dabei die von den Wolgaschleppern bekannten Rufe ausstoßen. Dazu die „quatschenden“, „in die Tiefe ziehenden“ Geräusche des Ölschlamms. Die Vertreter der Obrigkeit heben sich weiß von den Proletariern ab, ein Herr aus der Direktion in weißem Anzug fährt in der Kutsche vorbei, Vorarbeiter in weißen Kitteln und buntem Käppchen treiben die Arbeitern mit unflätigen Beschimpfungen an, stoßen sie in den Rücken, teilen Fußtritte aus. Trotzdem ist hier keine Ordnung erkennbar, nur ein hysterisches, wildes Durcheinander. Im Gelände liegt überall verbrauchtes Material herum, Eisenschrott, gerissene Seile, gebrochene Rohre. Dasselbe Chaos herrscht im Wohnbezirk der Arbeiter. In den Kasernen, die „an Behausungen prähistorischer Menschen“ erinnern, herrscht Armut und Schmutz, es gibt keine Bäume und Sträucher, keine Blumen auf den Fensterbrettern. Halbnackte Kinder spielen mit Schrott und Abfällen. Wie alles ringsum, sind auch sie mit Öl besudelt.
Alle diese Eindrücke verdichten sich bei dem Besucher, dem bekannten Wanderer Gorki und einem Kameraden, zu einer phantastischen Vorstellung: „über eine hölzerne Stadt waren Feinde, ein Stamm schwarzer Menschen hergefallen, plünderten und zerstörten alles“. Der Beobachter selbst hat kein Mitgefühl für die gequälten Menschen, er wünscht sich vielmehr, dass diese schreckliche Welt mit allen ihren Scheußlichkeiten in Brand geriete und vernichtet würde, - ein leicht erkennbares Bild der Revolution.

Nachdem die in solcher Weise imaginierte Vernichtung der alten Welt real stattgefunden hat, ein Jahrzehnt zuvor in Gestalt der Oktoberrevolution, trifft der Besucher von damals am selben Ort ein, diesmal nicht als Wanderer und Arbeitsloser, sondern als gefeierter Schriftsteller. Durch die Ölfelder geführt wird er von dem Genossen Rumjanzew, dem Gehilfen des Direktors der Erdölverwaltung von Aserbaidschan. Dieser Vertreter der alten Garde, ein kampferprobter Bolschewik, verkörpert zugleich die von Grund auf veränderte neue Welt. Er berichtet dem Gast freimütig, dass er mit einem persönlichen Feind zusammenarbeite. Sein Vorgesetzter sei ein ehemaliger Offizier der weißen Armee, der ihn, Rumjanzew, als Gefangenen misshandelt habe: „Wir arbeiten wie zwei Pferde in einem Gespann und – sind Freunde!“ Sie reden auch über die Vergangenheit, aber ohne Groll, es geht nur darum, dass dieses Thema „lehrreich für die Jugend“ sei. Und Gorki kommt sogleich auf den Gedanken, dass dies auch ein ausgezeichnetes Thema für einen jungen Schriftsteller wäre: die Arbeit „für die Zukunft“, die Überwindung von persönlichem Hass im Dienst der Schaffung einer neuen Kultur. (Solche zusätzlichen Erklärungen und Verdeutlichungen der Vorgänge an die Adresse des Lesers gehören zum Handwerkszeug der Reiseberichte Gorkis, ihrer didaktischen Funktion.)
Bei der Fahrt über das Gelände der Ölfelder wird das Kontrastprinzip alte vs. neue Welt in aller Deutlichkeit sichtbar. Die Anlagen haben sich erheblich vergrößert, dafür hat sich die Zahl der Arbeiter erheblich vermindert, Zeichen des technischen Fortschritts. Die hölzernen Bohrtürme sind durch eiserne ersetzt (die Opposition Holz/ Eisen gehört zum traditionellen Repertoire der russischen Kulturgeschichte). Dass diese Art des Fortschritts unter kapitalistischen Verhältnissen eher effektiver realisiert worden wäre als nach der Revolution, bleibt hier naturgemäß außer Betracht. Alle Formen des Fortschritts, oft auch Überlieferungen der alten Welt, gelten jetzt als Errungenschaften der Revolution. Vor allem aber konstatiert der Besucher, was es – im Vergleich mit den Eindrücken der 1890er Jahre – in dieser neuen Welt nicht mehr gibt. Und hier scheint sich wirklich eine nahezu wunderbare Veränderung vollzogen zu haben: Nirgends sieht man ölverschmierte Arbeiter, nirgends auch die ölverschmierten Kinder und die prähistorischen Behausungen der Arbeiter. Man hört auch kein hysterisches Geschrei der Frauen, keine brüllenden Vorgesetzten. Auch die Schrottberge sind verschwunden.
Begeisterung löst bei dem Besucher der Anblick der Arbeitersiedlungen aus. Man sehe ihnen an, dass sie „von klugen Menschen erbaut“ seien, und sie verraten einen architektonischen Schönheitssinn. Jedes Haus ist besonders gestaltet und zusammen bilden sie „die Keimzelle für eine schöne Stadt“. Jedes Haus hat eine Terrasse und einen Vorgarten mit Bäumen und Blumen. Es gibt betonierte Straßen, Wasserleitung, Kanalisation und Kinderspielplätze, alles, um „die kulturellen Lebensbedingungen der Arbeiter zu heben“. Kultur, meist in der Bedeutung der Zivilisation, gehört – wie auch sonst in Gorkis Werk - zu den Schlüsselbegriffen in den Reiseberichten.
Womöglich aufkommenden Zweifeln an der repräsentativen Bedeutung solcher Erscheinungen in dem bettelarmen Russland zehn Jahre nach Revolution und Bürgerkrieg setzt der Berichterstatter immer wieder sein eigenes ungläubiges Erstaunen entgegen. Hängt das mit einem veränderten Bewusstsein der Arbeiter zusammen, fragt sich der Besucher, fühlen sie sich nicht mehr als Sklaven, sondern als Besitzer der Produktionsmittel? Die Frage wird nicht nur einfach bejaht, sondern durch ein Ereignis sichtbar beglaubigt. Eine Benzinleitung ist geplatzt, und das hochgefährliche Feuer erzeugt keine Panik, sondern bringt sofort eine Löschaktion in Gang, die „mit einer deutsch anmutenden Disziplin“ vor sich geht und mit einem vollen Erfolg endet.
Auf solche Weise werden grundlegende Probleme der sowjetischen Gesdellschaft gleichsam im Vorübergehen erledigt. So geschieht es z.B. mit den Konflikten zwischen die Nationalitäten, die im Zarenreich zu blutigen Auseinandersetzungen führten. In den Arbeitersiedlungen leben türkische Familien Seite an Seite mit russischen, die Kinder werden zusammen erzogen, und das lasse hoffen, „dass es nach zwanzig Jahren weder Türken noch Russen geben wird“, erklärt der Verfasser. Auch die Erinnerung an die Massenmorde an Armeniern, Tataren und anderen Stämmen scheint dem Zusammenleben der Völker nicht mehr im Wege zu stehen. Es geschehe nicht selten, dass Armenier an türkischen Schulen unterrichten und die Aserbaidschaner ihre Herden
in den armenischen Bergen weiden. Nicht nur die nationalen, sondern auch die kulturellen, insbesodere die religiösen Identitäten scheinen sich aufzulösen. Im Stadtbild von Tiflis konstatiert Gorki das Fehlen eines weiteren aus früheren Zeiten bekannten Phänomens: „auf den Straßen gibt es keine düsteren Frauengestalten, die samt dem Kopf in dunklen Säcken stecken“. So einfach löst sich hier ein Problem, das die Menschheit bis heute in feindliche Lager spaltet: „Es weht der neue Atem jener Freiheit, die nur die Werktätigen zu schaffen vermögen, und der Alpdruck vergangener Zeiten hat sich verflüchtigt, als wäre er nie dagewesen“. Es sind solche, mit einer naiv anmutenden Überzeugung vorgetragenen Behauptungen, die bei einem heutigen Leser Kopfschütteln hervorrufen, aber auch Anlass für ernsthafte Diskussionen bieten können.


ARBEIT – der höchste Wert des neuen Staates

Noch mehr Begeisterung als Baku lösen bei dem Besucher jene Projekte aus, die erst nach der Revolution entstanden sind und insofern als echte „Errungenschaften“ gelten dürfen: Dnjeprostroj, der Bau einer riesigen Staumauer am Dnjepr, wo „der Wille und der Verstand des werktätigen Volkes die Gestalt und das Antlitz der Erde“ verändern. Das Bauwerk bietet die Gelegenheit zu einer Hymne auf die Arbeit, wie sie um diese Zeit zum Standardrepertoire in den sowjetischen Produktionsromanen wird. Hunderte Arbeiter treiben mit elektrischen (!) Bohrern Löcher in die steinernen Ufer des Flusses, sprengen mit „flüssiger Luft“ (Pressluft?) das uralte Gestein, bewegen Hunderttausende von Kubikmetern Erde mit den „eisernen Kiefern der Bagger“. Die Landschaft nimmt Züge einer Märchenwelt an, in der der Dnjepr sich wie ein wütendes Tier gegen die Eisendämme auflehnt und die Arbeiter mit ihren übernatürlichen Kräften die Rolle der altrussischen Recken übernehmen.
Auch die neue Papierfabrik von Balachna an der Wolga weckt in dem Betrachter den Wunsch, über sie „in erhabenen Versen zu reden“, sie „als eine der herrlichsten Schöpfungen des menschlichen Geistes“ zu preisen. Der Stil erinnert hier oft an den russischen Klassizismus und die dort verbreitete Rhetorik des Fürstenlobs, die auch den Bauwerken der Herrschenden gewidmet war. Auch die Vorliebe für Denkmäler passt in diesen Kontext. Gorki zeigt sich begeistert von der Schönheit des Lenin-Denkmals, das in Tiflis auf einem Felsen im Fluss Kura errichtet ist. Der aus Bronze gegossene „Mann im Jackett“ wirke hier „wirklich monumental“ und die „bekannte gebieterische Geste“ sei ausgezeichnet gelungen. Zu allem Überfluss erscheint an dieser Stelle die Bemerkung des Autors, dieses Werk „zwinge“ uns, „die Tradition der klassischen Bildhauerei zu vergessen“. Wenn man bedenkt, dass Gorki in diesen Jahren an Romanen wie „Das Werk der Artamonows“ und an „Klim Samgin“ arbeitete, dann wird deutlich, wie sehr der Schriftsteller das intellektuelle Niveau der didaktischen Zielsetzung des Werkes angepasst, d.h. abgesenkt hat. Die Ansicht, dass der Zweck die Mittel heilige, hat Gorki mehrfach entschieden zurückgewiesen, aber jetzt folgt er offenkundig dieser Devise.

Der intendierte Leser, ein wenig gebildeter Sowjetbürger, der täglich ums Überleben kämpft und dabei wenig Selbstbewusstsein entwickeln kann, soll hier als Teilnehmer eines nie dagewesenen historischen Experiments gefeiert werden: „Es ist notwendig, den Menschen unserer Zeit diese wunderbare Kraft des Willens, die Kraft der Arbeit so oft wie irgend möglich ins Gedächtnis zu rufen, in einer Zeit, da sich große Arbeitsmöglichkeiten vor uns auftun, Arbeit zu unserem Nutzen, zur Errichtung eines Arbeiterstaats, der die Willenlosen, Faulpelze, Räuber und Parasiten ausschließt.“
Diese programmatische Erklärung zeigt nicht nur den utopischen Charakter des Projekts, sie kann im letzten Teil auch Zweifel an seinem idealistischen, freiheitlichen Charakter aufkommen lassen. Was geschieht mit den Willenlosen und Faulpelzen, womöglich auch mit den Andersdenkenden? Wird die neue Welt der Arbeit vielleicht so aussehen, wie Trotzki sie zeitweilig plante, als ein kaserniertes Proletariat, das nach militärischen Prinzipien organisiert ist? Gorki lässt selbst, wenn auch nur an wenigen Stellen, kritische Bemerkungen über die primitiven Arbeitsbedingungen im neuen Russland in den Bericht einfließen. In der Werft von Sormowo bei Nizhni Nowgorod werden, wie er beobachtet, Marineschoner ohne Hebekräne, „fast mit bloßen Händen gebaut“, während an „Kulturpalästen“ kein Mangel herrscht.
Die tiefgehende Veränderung im Bewusstsein der Arbeiter bleibt angesichts solcher Verhältnisse eine unbewiesene Behauptung: „In der Union des sozialistischen Sowjets arbeiten keine Sklaven mehr, die demütig die Befehle ihrer Herren ausführen, in der Union arbeiten freie Menschen für sich selbst“. Was in Wirklichkeit vor sich ging, war eine staatlich organisierte Umerziehung, in reinster Form betrieben in den Besserungs- und Arbeitslagern, von denen der letzte Teil des Reiseberichts („Solowki“) handelt.
Zuvor muss aber auf ein anderes wichtiges Merkmal der neuen Welt in den Augen Gorkis hingewiesen werden: die zentrale Bedeutung der Kinder und Jugendlichen.


Kinder - die potenziellen neuen Menschen

Der zweite Teil des Reiseberichts sollte ursprünglich „Über die Kinder“ heißen und am Anfang stehen, bevor er dort dem Thema der Arbeiter und Baustellen Platz machen musste. Im Gesamtwerk bilden die Begegnungen mit der jungen Generation nach Bedeutung und Umfang dennoch das Hauptthema. Das bestätigt u.a. ein Beitrag des französischen Sozialisten Henri Barbusse, der Gorki im Juni 1928 in Russland getroffen hatte und in der Zeitschrft „Monde“ seine Eindrücke von der Begegnung beschrieb. Die gewaltigen Veränderungen in seiner Heimat habe Gorki in der Form einer „Verjüngung“ wahrgenommen, erinnert sich Barbusse, eben dieses Wort habe Gorki ständig als eine Art Leitmotiv wiederholt. Der neue Mensch sei ein Mensch, der „innerlich jung geworden sei“, voll Energie und Schaffenskraft und im vollen Bewusstsein seiner historischen Mission, „ein Kämpfer“. Gorkis Sohn Maxim Peschkow, der ihn begleitete, schrieb an seine Frau in Sorrent, der Vater (er nannte ihn mit dem in der Familie gebräuchlichen Namen „der Herzog“ (duke, russ. Duka)) habe bei der Wahl seiner Gesprächspartner immer die junge Generation vorgezogen. Wenn er dennoch Vertreter der alten Intelligenz besuchte, z.B. in Kursk, habe das einen „schrecklichen“ Eindruck bei ihm hinterlassen. Die ihm eigentlich näher stehenden Standesgenossen erschienen ihm einfach langweilig oder sogar abstoßend. Diese Orientierung war offenkundig ein Vorurteil, das zum Reiseprogramm gehörte. Maxim, der sich selbst mehr zu seinen Altersgenossen hingezogen fühlte, sprach in diesem Zusammenhang von dem „echten Publikum“ des Vaters, von „neuen Menschen“ und sogar von einer „neuen Rasse“.

Innerhalb der jungen Generation waren es aber nicht die Kinder der Revolutionäre und schon gar nicht die der Kleinbürger, denen Gorkis besondere Aufmerksamkeit und Sympathie galt, sondern die sogenannten Besprisorniki, verwahrloste minderjährige Straßenkinder und Kleinkriminelle, eine soziale Gruppe, die nach der Revolution und dem Bürgerkrieg in Massen die Straßen bevölkerte und die bis heute ein weitgehend unbewältigtes Problem der russischen Gesellschaft darstellt. In den Begegnungen mit den Besprisorniki – Gorki konstatiert mit Stolz, er habe auf der Reise zweitausendfünfhundert von ihnen getroffen - ändert sich auch der Ton der klassizistischen Lobgesänge und macht jener anthropologischen Neugier Platz, die für den „alten“ Gorki charakteristisch war. Er betont immer wieder, wie vertraut ihm dieses Milieu ist, er kannte die „Verwahrlosten“ schon aus der Arbeitskolonie für Minderjährige in Nizhni Nowgorod, hatte Freunde dort, die ihm vor allem wegen ihres ungebrochenen Selbstbewusstseins und ihrer staatsfeindlichen Gesinnung sympathisch waren, geistige Verwandte der Vagabunden, denen er seinen literarischen Weltruhm verdankte. Viele von ihnen zeichneten sich durch besondere Talente aus, waren begabte Sänger und Versemacher, phantasievolle Erzähler und wortgewandte Opponenten im Umgang mit der Obrigkeit. Mancher von ihnen bezahlte seine rebellischen Aktionen mit dem Leben. Dieses Schicksal gehört nun endgültig zu den Erscheinungen der dunklen Vergangenheit, lautet die auf den Reisen erworbene Erkenntnis Gorkis. Auch mit den Besprisorniki ist eine ans Wunderbare grenzende Veränderung vor sich gegangen. Das geschieht zuerst in sichtbarer Form, wenn die von der Polizei aufgegriffenen Minderjährigen die Aufnahmerituale bei der Gesundheitsfürsorge durchlaufen haben und aus den zerlumpten, vor Schmutz starrenden Gestalten – gewaschen und in saubere Kleidung gesteckt – ordentliche junge Menschen geworden sind, kräftige, „wie aus Bronze gegossene Burschen“. Im Charakter sind sie aber keineswegs zu rechtgläubigen und demütigen Staatsbürgern geworden. Sie haben gelernt, „frei zu denken“ und genauso frei zu handeln. Die Talente und die Freiheitsliebe, derentwegen sie in der alten Welt zugrunde gegangen sind, haben sie bewahrt, und die Straße liefert Tag für Tag neue „kleine Anarchisten“, die Unruhe in das Leben der Arbeitskolonien für Minderjährige bringen. Ihre Aufmüpfigkeit weicht bald der Neugier und einem lebhaften Interesse an einer soliden Ausbildung, - so lautet jedenfalls das pädagogische Konzept der Erzieher und Organisatoren, und in Gorkis Darstellung funktioniert es nahezu störungsfrei.

Die neuen Pädagogen

Ein entscheidender Faktor ist dabei die Zuwendung und das Verständnis für die kleinen Rebellen von seiten der Erzieher – wörtlich ihre „Liebe“ – eine Beziehung, die sich sonst in dieser Welt nur auf abstrakte Objekte wie Wissen, Bücher, die Arbeit und die „Errungenschaften“ richtet, nicht aber auf konkrete Menschen. Auch der berühmte Besucher der Kolonie für Minderjährige in dem ehemaligen Kloster von Kurjasch unweit von Charkow, die Gorkis Namen trägt, hegt eine solche väterliche Liebe zu den kleinen Kolonisten. Die Örtlichkeit kennt er von einem Besuch aus dem Jahr 1891, wo er als namenloser Landstreicher ein Gespräch mit dem erzkonservativen Priester Johann von Kronstadt geführt hatte. Mit den kleinen Bewohnern der seit 1926 hier eingezogenen Gorki-Kolonie hat er vier Jahre lang einen Briefwechsel unterhalten, ebenso mit Anton Makarenko, dem in aller Welt bekannten Vertreter der sowjetischen Reformpädagogik. Er ist der Organisator und Leiter der Kolonie mit ihren 400 Jungen und Mädchen. Sie lieben ihn und sprechen von ihm so stolz, „als hätten sie ihn selbst erschaffen“. Dabei ist er in seinem Auftreten eher zurückhaltend und wortkarg, eher ein aufmerksamer Beobachter als ein Kommandeur. Gleichwohl fühlt sich Gorki bei seinem Anblick an einen Militär erinnert, auch an einen Dorfschullehrer, der „von einer Idee besessen“ ist. Damit verkörpert Makarenko hier den Typ eines idealen Führers, dem man in der Sowjetliteratur regelmäßig begegnet: streng und gerecht, aber ohne ein sichtbares Gefühlsleben, mit einem Anflug von Askententum und Heiligkeit. Auch in den Porträts des größten aller Führer begegnet diese Darstellung, aber Makarenko ist keineswegs ein Diktator im Gewand des Heiligen. Wenn er gewisse Formen der Militärerziehung übernimmt wie Fahnenappelle am Morgen und die Leitung der 24 Arbeitsabteilungen durch „Kommandeure“, dann dient das nicht der Erziehung zu bedingungslosem Gehorsam, sondern der Entwicklung selbstverantwortlicher junger Menschen, die ihre Arbeit im Dienst an der Gesellschaft zu ihrer persönlichen Sache gemacht haben. Ihre Teilnahme an dem Projekt der Kolonie ist grundsätzlich freiwillig. Das Anwesen ist kein Gefängnis, es funktioniert ohne Zäune und Gitter, und sie können die Kolonie verlassen. Das kommt aber äußerst selten vor, betont Gorki. Makarenko, selbst nicht Mitglied der Partei und der OGPU, vertritt mit diesen Prinzipien das Modell einer Gefängnisreform, das die Sicherheitsorgane in den 20er Jahren entwickelt hatten, um wirtschaftliche mit ideologischen Zielsetzungen zu verbinden: die „Abschaffung der Gefängnisse“ – in der Praxis ihre Ersetzung durch Besserungs- und Arbeitslager mit effektiver Produktion. Die Kolonisten in Kurjasch arbeiten gerade an einem Auftrag von zwölftausend Kisten für eine Sprengstoffabrik. Für Makarenko steht jedoch der Erziehungsauftrag klar im Vordergrund. Gorki fügt ein langes Zitat in seinen Bericht ein, das aus dem Vorwort Makarenkos zu einer Sammlung von Biographien seiner Zöglinge stammt. Es beginnt mit den Worten: „Als ich die hundertste Biographie vor mir hatte, begriff ich, dass ich das erschütterndste Buch las, das ich je gelesen hatte“. Gleichwohl besteht der Pädagoge darauf, dass es hier nicht um Mitleid gehe. Er habe schon lange begriffen, dass er, um diese von einem furchtbaren Schicksal „in die Gosse gestoßenen“ Kinder zu retten, „unbeugsam fordernd, streng und hart zu ihnen sein musste“. Dieses ambivalente Verhältnis zu dem Phänomen des Mitleids teilte Makarenko mit Gorki. Der Konflikt zwischen teilnehmender Zuwendung zu den unglücklichen Menschen und ihrer Erziehung zum Stolz im Drama „Nachtasyl“, verkörpert in den Antipoden Luka und Satin, blieb bis ans Ende seines Lebens ein ungelöstes Problem im Denken und Fühlen des Schriftstellers. Bei Makarenko war es offenbar so, dass seine persönliche Anteilnahme am Schicksal seiner Zöglinge den Hardlinern der Stalinzeit zunehmend missfiel. Sie kritisierten seine Methode als „süßlich“ und „nicht sowjetisch“ und erreichten seine Entlassung als Leiter der Kolonie bald nach Gorkis Besuch 1928. Für die Kolonisten brachte das erhebliche Verluste an Freiheit.

Ein noch härteres Schicksal ereilte einen anderen Organisator der Arbeitskolonien, Matwej Pogrebinskij, der ein Buch „Die Reform der Gefängnisse und die Perspektiven der Besserungs- und Arbeitsanstalten in der UdSSR“ geschrieben hat. Er war Organisator mehrerer musterhafter Kolonien für Minderjährige, darunter der bekanntesten „Arbeitskommune der OGPU Nr. 1" in Bolschewo bei Moskau, die in veränderter Form bis heute existiert. Gorki begegnete ihm im Nikolo Ugreschskij-Kloster, wo 1.300 Besprisorniki untergebracht waren, bevor er „seine“ Gorki-Kolonie in Kurjasch besuchte. Pogrebinskij zeichnete sich wie Makarenko durch seine persönliche Nähe zu seinen Zöglingen und die genaue Kenntnis ihrer Charaktere aus. Gorki zeigt ihn in angeregtem Gespräch mit den Halbwüchsigen, wobei Brocken aus der Gaunersprache (blatnoj) eingestreut werden und viel gelacht wird. Dieser Mann, der Kommissar der Staatssicherheit dritten Ranges, endete sein scheinbar so erfolgreiches Leben mit Selbstmord. Er hinterließ einen Brief an Stalin, in dem es heißt: „Mit der einen Hand habe ich Kriminelle in höchst anständige Menschen verwandelt, mit der anderen war ich, der Parteidisziplin folgend, gezwungen, höchst verehrungswürdigen Aktivisten der revolutionären Bewegung das Etikett von Kriminellen umzuhängen“.
Davon erfuhren die Gorki-Leser natürlich erst viel später in der Perestrojka-Periode. Nach den Erstausgaben des Berichts „Durch die Union der Sowjets" war der Name des von Gorki so hochgeschätzten Pädagogen von der Zensur aus dem Text eliminiert worden, wie es vielen in Ungnade gefallenen Persönlichkeiten in der Sowjetliteratur erging. In der maßgeblichen 25-bändigen Originalausgabe der Werke
(Bd. 20, 1974 erschienen) ist der vollständige Text erhalten bzw. wiederhergestellt, aber in der deutschen Übersetzung von Irene Wiedemann, erschienen 1956 in dem Gorki-Band „Skizzen“, dem die Zitate in diesem Eintrag entnommen sind, fehlt der Name Pogrebinskij. Da die Person – nach der „Bearbeitung“ anonymisiert – trotzdem noch als Akteur und Gesprächspartner auftritt, kommt es zu unsinnigen Verfälschungen des Textes. In einer Szene spricht Pogrebinskij einen zur Widerspenstigkeit neigenden Zögling an und fragt ihn, ob er nicht wieder einmal das Weite suchen wolle. Aber alles, was auf die Identität des Sprechers hindeutet, Funktion und Name, ist weggelassen. Wenn es im Text heißt: „er (der Zögling) ging auf Pogrebinskij zu und streckte ihm mit gelassenem Selbstbewusstsein seine schmutzige Pfote entgegen“, lautet die Stelle nach der Bearbeitung so: „dann tat er noch einen Schritt und streckte unaufgefordert seine schmutzige Pfote aus“ – ein vollkommen sinnloser Satz.
Mit solchen Hintergrundgeschichten gewinnt die oft quälende Lektüre des Werkes "Durch die Union der Sowjets" erheblich an Unterhaltungswert und ebenso an Wahrheitsgehalt bezüglich dieser so paradiesischen und konfliktfreien Welt.


Kinder belehren ihre Väter

Im vierten Teil des Reiseberichts wird von einer Kinderdemonstration berichtet, die am Tor einer Mühle ein Plakat anbringt: „Rote Abteilung zur Bekämpfung der Trunksucht hat durch Handstreich Mühle Nr. 25 besetzt“. Eine andere Kindergruppe beschließt eine Resolution, in der die Eltern aufgefordert werden, jedem von ihnen eine Zahnbürste zu kaufen.
Gorki ist Gast bei dem Moskauer Kongress der Kinderkorrespondenten, die stolz die Resultate ihrer Arbeit auf dem Lande vortragen: sie kümmern sich um alles, sie bekämpfen nicht nur den Alkoholismus, sie kaufen auch wissenschaftliche Literatur über Landwirtschaft, züchten riesige Runkelrüben, gründen Vereine der Waldfreunde, vernichten Wanzen und Schaben. Auf die Frage der Kongressleiterin, ob es vorkäme, das sie mit ihren Eltern streiten müssten, antworten sie fast einstimmig: „Das kommmt vor! Das müssen wir!“ Gorki zitiert dazu aus an ihn gerichteten Briefen von Kindern, die über ihre Eltern klagen. „Wenn Vater noch einmal meine Bücher zerreißt, laufe ich weg und werde ein Besprisornik“, schreibt einer von ihnen.
Bei so viel Energie und Selbstbewusstsein der Kinder könnten sich bei einem erwachsenen Leser unangenehme Fragen einstellen: Und was ist, wenn der Junge nicht wegläuft, sondern bei der Miliz anklopft, um seinen Vater zu verklagen? Wenn der Streit mit den Eltern zur Zerstörung der Familie führt? Für Gorki scheint dieses Problem nicht zu existieren. Er ist ganz auf der Seite der Pioniere, die „eine bedeutende Macht darstellen, die neuen Lebensformen Bahn bricht“. Er schlägt vor, die Losungen zum Fünfjahrplan durch die Forderung zu ergänzen: „Mehr Aufmerksamkeit den Kindern, den Halbwüchsigen, der Jugend“.
In diesem Zusammenhang muss die Geschichte des Pioniers Pawlik Morosow erwähnt werden, eine der dunkelsten Episoden der Stalinzeit, an der auch Gorki aktiv beteiligt war: die Heroisierung des Denunziantentums. Der 1918 geborene Pawlik hatte öffentlich korrupte Geschäfte des Vaters und seine Beziehungen zu „Kulaken“ verurteilt und war 1932 von Verwandten der Familie ermordet worden. Die Partei und der Schriftstellerverband setzten sich für die Errichtung eines Denkmals für Pawlik Morosow ein und Gorki übernahm eine führende Rolle bei der Förderung dieses Projekts. Auf einer Versammlung des Komsomol 1933 rühmte er die „Heldentat“ des Pioniers, der verstanden habe, „dass ein Blutsverwandter sehr wohl ein Feind im Geiste sein kann und dass man einen solchen Menschen nicht schonen darf“. Das Gedenken an ihn dürfe nicht verschwinden, „dieser kleine Held verdient ein Monument, und ich bin überzeugt, dass das Monument errichtet wird“. Das Denkmal kam wirklich zustande, wenn auch erst 1948 in Moskau und danach in vielen anderen Städten, in Moskau wurde die Figur 1991 vom Sockel gestürzt. Gorkis Äußerungen in dieser Sache gehören zweifellos zu den schlimmsten Entgleisungen seiner stalinistischen Rhetorik. Hier Erklärungen zu seiner Entlastung anzuführen, was im Umkreis der alten Gorki-Forschung bis heute geschieht, kann nur als das Resultat ideologischer Verirrrungen bewertet werden.

Im nächsten Beitrag geht es um Gorkis Besuch im GULAG, genauer in dem „Besserungs- und Arbeitslager besonderer Bestimmung“ (SLON) auf der Inselgruppe Solowki im Weißen Meer. Auch dieser Besuch, um den sich zahlreiche Mythen und polemische Auseinandersetzungen ranken, ist kein Ruhmesblatt im Leben des Schriftstellers, aber er ist jedenfalls eine Geschichte mit interesssanten Hintergründen, die erst lange nach dem Ereignis ans Licht der Öffentlichkeit gekommen sind.

Kategorie: Streit um Gorki

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