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"Der Zweck heiligt die Mittel?" - Antworten von Maxim Gorki und Arthur Koestler ("Sonnenfinsternis")

Sonntag, 07. Juli 2019, 15:29:44

Die letzten Einträge auf diesem Blog sind geeignet, die widersprüchlichen Erscheinungsbilder der Persönlichkeit Maxim Gorkis zu veranschaulichen. Im Juni 1929 besucht er das berüchtigte Sonderlager Solowki und lässt sich in einträchtiger Gesellschaft mit den „Tschekisten“ der Lagerleitung fotografieren, und wenige Wochen
zuvor bekundet er im Briefwechsel mit einem Psychologen ein lebhaftes Interesse an der Frage, ob die Personen und Gegenstände in den Traumbildern eines Menschen Schatten aufweisen oder nicht. Dabei betont er in Aussagen vor der Öffentlichkeit stets seine Überzeugung, dass die Bedeutung einer Persönlichkeit nur im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung zu finden sei und nicht in den Äußerungen ihres intimen Gefühlslebens. Diese und andere Unstimmigkeiten in seinem Weltbild hängen mit dem Grundwiderspruch seines Lebens zusammen, den ständigen Auseinandersetzungen zwischen dem politischen Menschen im Netz seiner Abhängigkeiten und dem Künstler mit seinem Freiheitsdrang, wie er in dem gemeinsamen Gelübde mit seinem Freund Wassiljew (in der Erzählung „Von der Schädlichkeit der Philosophie“) zum Ausdruck kommt: „die Gedankenfreiheit ist die einzige wahre und größte Freiheit, die der Mensch erreichen kann“.
In den letzten Lebensjahren verschwindet der Künstler weitgehend in der komplexen Figur des Autors in seinem letzten Roman „Das Leben des Klim Samgin“, in der Öffentlichkeit dominiert unübersehbar der Propagandist des sowjetischen Regimes. Als Reisender „Durch das Land der Sowjets“ entdeckt er ein Land, das sich nicht mehr nur an der Schwelle, sondern schon mitten drin in einem Reich der neuen Menschen und ihrer gewaltigen schöpferischen Arbeit befindet und buchstäblich Berge versetzt. Diese Schreibweise, bestehend aus Lobeshymnen auf die Helden der Arbeit und ihre „Errungenschaften“, auf die Weisheit der Staatsführung, verbunden mit dem Schweigen über die Armut in einem nach Revolution und Bürgerkrieg zerrütteten Land, über die Unfreiheit und den zunehmenden Terror des Staates, ging einher mit einer bewussten Herabsetzung des kulturellen Niveaus und war auf einen ungebildeten, infantilen Leser ausgerichtet, der keine kritischen Fragen stellt. Für diejenigen, die zu solchen Fragen in der Lage waren, hielt diese Propaganda einen Satz bereit, der - ausgesprochen oder stillschweigend als wahr vorausgesetzt – besagt: „Der Zweck heiligt die Mittel“, etwa in folgendem Beispiel: Wenn wir den Menschen sagen, dass sie trotz Revolution und politischer Erziehung unwissend, träge und egoistisch geblieben sind, werden wir sie kaum beeindrucken. Wenn wir ihnen aber sagen, dass sie keine Sklaven mehr sind, sondern neue, verantwortungsvolle Menschen, Helden der Arbeit, die ihr Leben in die eigenen Hände genommen haben, dann werden sie zumindest versuchen, diesem schmeichelhaften Bild zu entsprechen. Als Ausdruck dieses Gedankens bediente sich Gorki gern eines Puschkin-Zitats, das den Gegensatz zwischen dem „erhebenden Betrug“ und den „niedrigen Wahrheiten“ bescheibt, ersterer ist unwahr, aber nützlich, weil auf ein hohes Ziel gerichtet, letzterer wahr, aber schädlich, weil er diesem Ziel entgegensteht. Dieselbe utilitaristische Moral gilt dort, wo es um Wahrheit und Lüge, Recht und Unrecht, Schuld und Unschuld geht. In diesem Sinne schreibt Gorki 1929 an seine Kampfgefährtin in der vorrevolutioären Freiheitsbewegung Jekaterina Kuskowa: „Die Sache ist die, dass ich die Wahrheit aufrichtig und unerschütterlich hasse, denn sie besteht zu 99% aus Gemeinheit und Lüge“.
Dabei hat Gorki – genauer der Künstler Gorki – dieser Parteiphilosophie mehr als einmal ausdrücklich widersprochen. Im Jahr 1922 (25. Jan.) schrieb ihm sein Freund Romain Rolland, er habe in einem Brief an Henri Barbusse das Prinzip der „Unabhängigkeit des Geistes“ verteidigt. Barbusse, mit dem zusammen Rolland die pazifistische und sozialistische Bewegung Clarté gegründet hatte, warf den „Rollandisten“ vor, sie predigten Gleichgültigkeit gegenüber der Politik und hätten sich faktisch vom aktiven Kampf für den Sozialismus losgesagt. „Es ist falsch zu denken, dass der Zweck die Mittel heiligt“, erwiderte Rolland. Für den wahren Fortschritt seien die Mittel sogar wichtiger als das Ziel, das oft unklar und mehrdeutig formuliert sei. Bei den Mitteln gehe es dagegen um eine klare Entscheidung zwischen Freiheit und Gewalt, und gerade in Zeiten des Umbruchs sei die Verteidigung moralischer Werte unbedingt notwendig. In seiner Antwort auf Rollands Brief bestätigte Gorki nachdrücklich die Ansicht des Freundes über das „jesuitische Prinzip“ „Der Zweck heiligt die Mittel“: „Was ist das Ziel? Die Bedingungen zu schaffen, die geeignet sind, die Menschen zu gutartigen, klugen, starken und ehrlichen Wesen zu erziehen. Für mich ist seit langem klar, dass die Mittel, die gegenwärtig für die Schaffung solcher Bedingungen eingesetzt werden, in eine diesem Ziel direkt entgegengesetzte Richtung führen.“
Lidija Spiridonowa, die den „wahren Gorki“ (so im Titel ihrer Monographie, 2013) immer noch in einer unauflöslichen Gemeinschaft mit den Bolschewiki sieht, bezeichnet den Satz „Der Zweck heiligt die Mittel“ als ein Grundprinzip des Bolschewismus und zählt Gorkis Ablehnung dieser These, wie es schon in der sowjetischen Gorkiforschung üblich war, zu den zeitweiligen „Irrtümern“ des Schriftstellers, beruhend auf seiner „sozialen Romantik“ und der Abscheu vor Gewalt und Blutvergießen. Ungeachtet solcher Vorbehalte lässt Spiridonowa den Humanismus Gorkis, einen keineswegs „proletarischen“ Humanismus, in seinen Äußerungen unmissverständlich deutlich werden. Seine Publizistik der ersten Jahre nach der Revolution sei von dem Gedanken geprägt, dass „man das Reich der Gerechtigkeit nicht auf Grausamkeiten und Morden errichten“ kann. „Das Glück der Freiheit darf nicht durch Verbrechen gegen die Persönlichkeit verdunkelt werden“, erklärte Gorki, und trat immer wieder als Verteidiger auch von Menschen auf, deren Ansichten er nicht teilte.
Mit der Rückkehr nach Russland änderte sich diese Haltung fundamental. Jewgeni Samjatin erinnert sich in seinem Nekrolog „Gorki“ (1936), er habe einmal versucht, in das Innnere des zurückgekehrten Schriftstellers zu blicken, von ihm zu erfahren, was er jetzt wirklich fühle und denke. Gorkis Antwort lautete: „Sie haben große Ziele. Und das rechtfertigt für mich alles“.


Arthur Koestlers Roman „Sonnenfinsternis“

Der Roman „Sonnenfinstenis“ von Arthur Koestler, die erste und in ihrer literarischen und politischen Wirkung unübertroffene Abrechnung mit dem sowjetischen Kommunismus, 1940 in London erschienen, ist den Opfern der „Moskauer Prozesse“ gewidmet. Die Namen und viele Einzelheiten sind als russische erkennbar, aber der Staat wird nicht explizit genannt, Stalin figuriert unter dem Kürzel „No. 1“. Damit wird die Stoßrichtung des Themas auf den Totalitarismus ausgeweitet. Das Problem der Ziele und Mittel nimmt einen zentralen Platz in der Konzeption des Buches ein. Der Untersuchungsrichter Iwanoff (die Schreibung der Namen im deutschen Original ist beibehalten) in einem Gefängnis des Geheimdienstes erklärt dem Angeklagten Rubaschow, was es mit diesem Problem auf sich hat: „Es gibt nur zwei, polar entgegengesetzte, Konzeptionen der menschlichen Ethik. Die eine ist christlich-humanistisch, erklärt das Individuum für sakrosankt und behauptet, dass man mit Blut keine Arithmetik treiben dürfe. Die andere beruht auf dem Fundamentalsatz, dass das Kollektivziel die Mittel heiligt, und erlaubt nicht nur, sondern fordert, dass man das Individuum auf jede Weise, als Versuchskaninchen und Opferlamm, der Gesamtheit unterordne.“ Die Rechtfertigung dieser Mittel ergibt sich nach dieser Auffassung aus dem Ziel, eine vollkommene, humane Gesellschaftsordnung herbeizuführen, genauer, den gesetzlich unausweichlichen Prozess zu diesem Ziel zu beschleunigen. Dafür ist ein gewisser Ausnahmezustand unumgänglich, in dem es den Menschen sogar schlechter gehen kann als vor dem Umbruch. Die Initiatoren des Umbruchs sind auch als Diktatoren zuerst nichts anderes als radikale Denker, Anwälte der Vernunft, die den Willen der Geschichte ausführen. Der ideale Revolutionär ist ein „Fanatiker der Logik“, erklärt Iwanoff: „Er ist verdammt, immer das zu tun, was ihm am meisten widerstrebt: zum Schlächter zu werden, um Schlächter auszurotten, die Lämmer zu opfern, damit keine Lämmer mehr geopfert werden, die Leute mit Knuten zu peitschen, damit sie lernen, sich nicht mehr peitschen zu lassen, alle moralischen Regungen in sich auszurotten im Namen einer höheren Moral und den Hass der Menschheit herauszufordern, weil er sie liebt – abstrakt und geometrisch. /…/ Mitleid, Gewissen, Ekel, Verzweiflung, Büßertum sind für unseresgleichen widerliche Ausschweifungen, transzendentaler Bordellzauber.“
Eben ein solches Verbrechen, die Entdeckung des eigenen Gewissens und ein daraus resultierendes Gefühl der Schuld, wirft der Untersuchungsrichter dem Freund aus früheren Tagen vor: „Der Genosse Rubaschow zieht es vor, ein Märtyrer zu werden. Er hat sein Gewissen entdeckt, und ein Gewissen macht für die Revolution ebenso untauglich wie ein Fettbauch und ein Doppelkinn“.
Rubaschow sind diese Gedankengänge nicht fremd, sie erscheinen im gleichen Stil in früheren Tagebuchaufzeichnungen des Angeklagten, aber er hat die wichtigste Stütze dieser Überzeugungen verloren, den unerschütterlichen Glauben an die Wahrheit und Gerechtigkeit der Revolution. Auf der Ebene der Logik ist er auch jetzt noch bereit, seinem Richter recht zu geben: ja, man kann eine Revolution nicht nach den fair-play-Regeln von Tennisspielern durchführen; ja, er selbst hat schon mit dem Zulassen von Zweifeln in seinem Kopf objektiv konterrevolutionär gehandelt. Aber diese Erkenntnis hilft ihm nicht bei der Lösung seines persönlichen Problems, das nicht auf der Ebene des Denkens angesiedelt ist: es geht um Schuldgefühle, die ihn überfallartig heimsuchen, quälende Erinnerungen, die von körperlichen Symptomen wie Zahnschmerzen oder nervösen Zuckungen im Gesicht begleitet werden. Er hat im Dienst der Partei den Tod unschuldiger Menschen veranlasst oder zugelassen, unter ihnen seine Sekretärin und Geliebte, gegen die absurde Anklagen wegen angeblicher Schädlingstätigkeit erhoben wurden, und ein deutscher Kommunist, der im Untergrund gegen das NS-Regime gekämpft hatte und wegen kritischer Äußerungen über die Führung in Moskau an die Gestapo ausgeliefert wurde. Rubaschow beobachtet aus seiner Zelle, wie ein ehemaliger Held der Revolution als ein menschliches Wrack zur Hinrichtung geschleppt wird und hört sein verwirrtes Gemurmel. Das „Wimmern der Opfer“ ist ein Leitmotiv des Romans. Wo ist hier die Wahrheit und Gerechtigkeit der Sache und welches Ziel kann solche Mittel rechtfertigen? Es geht um Individuen und den Wert ihres Lebens, um fehlendes Mitleid, Feigheit und Heuchelei.

Nach der Definition des Untersuchungsrichters Iwanoff besteht die christlich-humanistische Ethik darin, dass sie das Individuum für sakrosankt erklärt und dass man mit Blut keine Arithmetik treiben dürfe. Die Formulierung nimmt Bezug auf Dostojewskijs Roman „Schuld und Sühne“, von dem in dieser Szene zuvor die Rede war. Rubaschow hält seinem Widersacher die Situation des Protagonisten Raskolnikow entgegen, die zeigt, zu welchen unabsehbaren und unlogischen Konsequenzen eine einfache und logisch zweckbedingte Tat führen kann. Raskolnikow will eine alte Wucherin umbringen, um mit ihrem Geld Gutes zu tun, ein einzelnes unnützes Leben gegen viele nützliche eintauschen, aber die Rechnung geht nicht auf. Er muss noch eine weitere zufällig anwesende Person umbringen und stiftet auch sonst für sich und andere nur Unheil. Er muss einsehen, erklärt Rubaschow, „dass zwei mal zwei nicht gleich vier ist, wenn die arithmetischen Einheiten Lebewesen sind“. Iwanoff reagiert mit einer wütenden Attacke auf diesen Einwand: wo kämen wir hin mit dieser „humanistischen Nebelphilosophie“? Das hieße doch, dass der Batallionskommendeur nicht mehr das Recht habe, eine Patrouille zu opfern, um ein Regiment zu retten. Raskolnikow sei zwar wirklich ein Narr und Verbrecher, aber nicht, weil er logisch handelt, indem er die Alte umbringt, sondern weil er aus individuellem Interesse handelt: „Der Satz, dass der Zweck die Mittel heiligt, ist und bleibt die einzig brauchbare Norm politischer Moral… Aber die Vorbedingung für die Richtigkeit des Satzes ist, dass es sich um einen kollektiv nützlichen Zweck und nicht um ein lediglich individuelles Ziel handelt. Hätte Raskolnikow die Alte im Parteiauftrag abgemurkst, zum Beispiel um einen Streikfonds zu bereichern oder die Anschaffung einer illegalen Druckerei zu ermöglichen, dann würde die Rechnung aufgehen, und der Roman mit seiner irreführenden Problem-Stellung wäre niemals geschrieben worden, zum Heile der Menschheit“.
Spätestens an diesem Punkt der Diskussion wird deutlich, dass dieser Anwalt der Vernunft jenseits aller Vernunft in den Ton einer Hasspredigt verfällt. Iwanoff ist von seiner Herkunft ein geistig Verwandter des Angeklagten, er stammt aus der alten Garde, die gerade entmachtet worden ist, und er rettet sich, um nicht in ein ähnliches inneres Drama zu geraten wie Rubaschow, in einen hemmungslosen Zynismus. Dieser Eindruck wird durch die Umstände dieser Debatte unterstrichen. Iwanoff ist zu nächtlicher Stunde heimlich in Rubaschows Zelle erschienen und betrinkt sich während seiner Predigt. Er will seinen ehemaligen Genossen überreden, alle Protokolle zu unterschreiben und damit möglicherweise für weitere politische Aufgaben zu überleben. Er präsentiert sich selbst ironisch als diabolischer Versucher („Apage Satanas“), wobei Koestler wahrscheinlich auf eine andere Episode bei Dostojewkij verweist, den nächtlichen Besuch des Teufels bei Iwan Karamasow. Im weiteren Verlauf wird Iwanoff selbst ein Opfer des Systems der „Logik“. Sein Kollege Gletkin, in seiner tadellosen Uniform und knarrenden Stiefeln ein Vertreter der harten Methode, bewirkt seine Entfernung aus dem Verfahren und seine Erschießung.


Abrechnung mit dem sowjetischen Kommunismus

Aus dem nächtlichen Duell mit Iwanoff geht Rubaschow eindeutig als der moralische Sieger hervor. Seine Anklage gegen das System des sowjetischen Kommunismus gehört zu den eindrucksvollsten Seiten des Romans. Er leitet sie ein mit den Worten: „Die Geschichte der Revolutionen ist sicher keine erbauliche Sonntagslektüre, aber so eine Schweinerei, wie wir sie angerichtet haben, hat die Menschheit bisher noch nicht erlebt“. Es folgen Daten und Fakten, von denen die westliche Welt beim Erscheinen des Romans kaum etwas gehört hatte und überwiegend auch nichts davon hören wollte. Manche der genannten Zahlen müssen heute nach oben oder nach unten korrigiert werden, aber das meiste davon sind erdrückende Tatsachen: Zehn Millionen Bauern hat man planmäßig verhungern lassen, ebensoviele Menschen als Zwangsarbeiter in die Arktis und die Urwälder des Ostens geschickt, die Lebensdauer hat sich um ein Viertel verkürzt und die Altersgrenze für die Todesstrafe ist auf 12 Jahre herabgesetzt. Vernichtende Urteile gibt es über die politische und kulturelle Atmosphäre in Sowjetrussland: „Unsere Sexualgesetzgebung ist muffiger als die Englands…Unsere Presse und unsere Schulen züchten Chauvinismus, Militarismus, Dogmatismus, Konformismus und Hohlköpfigkeit… Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit sind so gründlich ausgerottet, als hätte es nie die Proklamation der Menschenrechte gegeben.“ Zu den weiteren "Errungenschaften" gehört der „größte Polizeistaat der Geschichte“ und der „gigantischste Bespitzelungsapparat“. „Wir peitschen die stöhnenden Massen des Landes mit Knuten einem theoretischen Zukunftsglück zu, das nur noch wir sehen.“ Die Generation der Menschen, die Revolution und Bürgerkrieg erlebt hat, ist ausgeblutet, erklärt Rubaschow, sie ist „nur noch eine stöhnende, dumpfe, stumpfe Masse von Opferfleisch“.
Dass sich diese Anklage nicht allein gegen den sowjetischen Kommunismus, sondern auch gegen den Totalitarismus in Gestalt der nationalistischen Diktaturen richtet, wird wie nebenbei in einem Satz ausgesprochen: „Unsere Führervergottung ist grotesker als die des Hampelmannes mit dem kleinen Schnurrbärtchen“.
Dennoch verleiht Koestler seinem Protagonisten nicht die Gloriole eines tapferen Kämpfers für die Wahrheit, der das Lügengespinst der Anklage vor aller Welt in Stücke reißt. In seinem Schlusswort im Schauprozess nimmt Rubaschow das Urteil an, ohne auf die absurden Einzelheiten der Anklage einzugehen. Er spricht als Vertreter einer Opposition, die besiegt und vernichtet ist, und dies mit Recht, denn sie ist „von der Geschichte in den Staub getreten“: „Wir waren politisch längst erschossen, ehe der Bürger Staatsanwalt unseren Kopf gefordert hat.“ Wer von der Geschichte nicht gerechtfertigt wird, dem wird die Rechnung präsentiert, und Rubaschow erklärt: „Ich habe bezahlt.“ In diesem Sinne bekennt er seine Schuld und beugt seine Kniee „vor dem Lande, vor den Massen, vor dem ganzen Volk“. Die wohlüberlegten Formulierungen dieses Geständnisses lassen auch die Deutung zu, dass es sich hier um einen letzten Dienst an der Partei handele. In jedem Fall stirbt Rubaschow nicht als der demütige Untertan des Stalin-Regimes, sondern als Teilnehmer eines großangelegten Projekts, das krachend gescheitert ist.
Von den Opfern und seiner persönlichen Mitschuld an ihrem Schicksal ist in dem Schlusswort nicht die Rede. Das Thema bleibt den letzten Stunden des Häftlings in der Einsamkeit seiner Zelle vorbehalten, in der nur das „Ich“, nicht mehr das „Wir“ und „Ihr“ zur Sprache kommt. Es geht um die Bedeutung der eigenen Persönlichkeit und ihre Erforschung in Selbstgesprächen, jene Intimsphäre, die Rubaschow in seinem früheren Leben gemäß der Parteiideologie weitgehend ignoriert hat. Er umschreibt sie mit dem ironischen Begriff der „grammatikalischen Fiktion“, der ersten Person Einzahl.
Koestler zeigt seinen Protagonisten so wie im ganzen Roman auch am Ende als einen einsamen Grübler, der ruhelos in seiner Zelle auf und ab wandert. Seine letzten Gedanken gelten dem „Fehler im System“, den es nach dem katastrophalen Ergebnis der Revolution irgendwo geben muss. Möglicherweise war es der zu frühe Zeitpunkt des Umsturzes, die Unreife der Massen, aber vielleicht steckte der Fehler „auch in dem Satz, den er bisher für unbezweifelbar gehalten hatte, in dessen Namen er andere geopfert hatte und jetzt selbst geopfert wurde, in dem Satz, dass das Ziel die Mittel heilige. Es war der Satz, der die große Fraternität der Revolution getötet und sie alle zu Amokläufern gemacht hatte“. „Wir fahren ohne ethischen Ballast“, hatte er in seinem Tagebuch geschrieben. „Vielleicht lag hier der Kern des Übels. Vielleicht war es der Menschheit nicht bekömmlich, ohne Ballast zu fahren. Und vielleicht war die Vernunft allein ein unzureichender Kompass, der so lange auf gewundenen und umwegigen Kurs führt, bis sich das Ziel gänzlich im Nebel verlor…“
Rubaschows letzte Überlegungen, bevor er zur Exekution geholt wird, gelten einer möglichen „neuen Bewegung“ mit neuen Farben und einem neuen Geist, der zwei bislang unvereinbare Ideen zusammenführt: die Rationalität in Gestalt des Marxismus und seiner Auffassung von der „ökonomischen Fatalität“ und auf der anderen Seite das religiös fundierte Gefühl der Zugehörigkeit zu einem unbegrenzten und dennoch in sich geschlossenen Raum, hier mit Sigmund Freuds Begriff des „ozeanischen Gefühls“ bezeichnet. Die neue Gesellschaft auf dieser Basis könnte anstelle einer amorphen Masse Millionen von Individualitäten zu einer neuen Einheit verbinden, in der der Ich-Charakter bewahrt bleibt und nicht als Resultat einer einfachen Division postuliert wird (einer von tausend gleichen). „Vielleicht werden die Mitglieder der neuen Partei Mönchskutten tragen und lehren, dass allein die Reinheit der Mittel das Ziel heiligen kann“.
Im Anschluss an diese abstrakten Erörterungen folgt die sehr konkrete Schilderung des letzten Gangs des Häftlings Rubaschow zur Hinrichtung in den Keller, begleitet von dem dumpfen Trommeln an den Türen, mit dem die Mithäftlinge jedem der zum Tode Verurteilten eine letzte Ehre erweisen.


Zur Geschichte des Romans

Arthur Koestler gehört heute nicht gerade zu den vielgelesenen Schriftstellern. Von den zwanziger Jahren bis in die Nachkriegszeit war er ein bekannter politischer Publizist und Romanautor, vielbeachtet und umstritten besonders als aktives Mitglied der zionistischen Bewegung und als stimmgewaltiger Unterstützer der Juden in Palästina in ihrem Kampf um den Staat Israel. Aber sein größter Erfolg war der 1940 in London erschienene Roman „Sonnenfinsternis“, der ihm den Ruf eines der wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts eingebracht hat. Dass dieses Werk in Deutschland neuerdings wieder mehr gelesen und neu besprochen worden ist, ist einem Zufall zu verdanken. Im Rahmen der Recherche zu seiner Koestler gewidmeten Dissertation hat ein junger Germanist 2015 das verschollene deutsche Originalmanuskript des Romans im Archiv eines schweizer Verlags entdeckt. Die deutschsprachigen Ausgaben waren bisher alle Rückübersetzungen aus der englischen Ausgabe von 1940, die die damalige Lebensgefährtin Koestlers Daphne Hardy verfasst hatte, Teile des Textes waren auch vom Autor selbst rückübersetzt. Die Bedeutung für die Textgeschichte ist im einzelnen noch nicht untersucht, es könnten sich daraus interessante Divergenzen in der politischen Begrifflichkeit ergeben. Dafür steht jetzt die 2018 im Elsinor Verlag e.K. (Coesfeld) erschienene Ausgabe nach dem deutschen Originalmanuskript zur Verfügung. Die Zitate in diesem Eintrag sind dieser Ausgabe entnommen. Es geht hier aber nicht um textologische Probleme, sondern um die ungewöhnliche Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Werks und die sich daraus ergebende Nähe zu Maxim Gorki in der letzten Periode seines Lebens. Zwar bestanden zwischen den beiden Schriftstellern, soweit der ausgezeichneten Biographie von Christian Buckard (Ein extremes Leben, C.H. Beck, München 2004) zu entnehmen ist, keine direkten Beziehungen, etwa in Form von Begegnungen, Briefen oder öffentlichen Urteilen des einen über den anderen. Unübersehbar ist jedoch die Nähe der historischen Umstände ihrer literarischen und politischen Tätigkeit in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Beide atmeten sozusagen die gleiche politische Luft, sie kämpften beide gegen den Faschismus und arbeiteten im Dienst der Kommunistischen Partei, wenn auch mit extrem gegensätzlichen Konsequenzen.
Koestler war 1931, während er als Wissenschaftsredakteur der „Vossischen Zeitung“ in Berlin tätig war, in die KPD eingetreten. Beweggründe für diesen Schritt waren das Erstarken der NS-Bewegung und ein Ideal des Sozialismus, das ebenso von der Kibbutz-Bewegung der Juden in Palästina wie von der Sympathie für die Sowjetunion geprägt war. Er träumte davon, Traktorfahrer oder Fabrikarbeiter im Land des Sozialismus zu werden, nahm dann aber doch einen seinen Fähigkeiten besser entsprechenden Vorschlag an. Im Auftrag der Kommunistischen Internationale (Komintern) sollte Koestler als Delegierter des „Bundes Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller Deutschlands“ eine einjährige Reise in die Sowjetunion unternehmen und ein Buch über die Erfolge des Fünfjahresplans schreiben. Diese Reise, die er 1932 antrat, wurde, wie der Biograph Buckard bemerkt, „der Anfang seines langen Abschieds vom Kommunismus“, ganz im Gegensatz zu den Resultaten der Reisen Gorkis „Durch die Union der Sowjets“ wenige Jahre zuvor. Koestler war von dem westlichen Lebensstil eines prominenten Journalisten geprägt, er zeichnete sich durch Witz und Schlagfertigkeit aus und ging keinem Streit aus dem Wege. Obwohl er, mit einem Studium des Maschinenbaus im Hintergrund, von Technik begeistert war und schon als Nahost-Korrespondent Elektrizitätswerke besungen hatte, gefiel es ihm, nach eigenen Worten, nicht, „als ein von der Partei bezahlter schreibender Berufsrevolutionär zu arbeiten“, er sah sich mehr als „Amateur-Kommunist“ und „Weltenbummler“. Koestler erlaubte sich auch, an seinen Überzeugungen als Zionist festzuhalten und übte Kritik an antisemitischen Motiven in der Propaganda der KPD. Auf der Reise durch die Sowjetrepubliken Georgien, Armenien, Aserbeidschan und Turkmenistan zermürbten ihn „die erdrückende Armut und Tristesse des sowjetischen Alltags“ und die „Atmosphäre einer Besserungsanstalt“. In Aschabad erlebte er einen Schauprozess und erkannte – im Gegensatz zu den meisten Freunden der Sowjetunion im Westen – sofort, dass da eine Farce inszeniert wurde. Er hat auch später nie an die Geständnisse der Angeklagten aus der alten Garde geglaubt. Zwei aus diesem Kreis, Karl Radek und Nikolai Bucharin, lernte Koestler auf der Rückreise in Moskau persönlich kennen. In der Gestalt Rubaschows sind vor allem Züge von Bucharin verarbeitet. Auch für Gorki war dieser Vertreter der alten Garde, der erst nach dem Tod des Schriftstellers 1938 hingerichtet wurde, ein wichtiger Ansprechpartner und Freund.
Die letzten Monate verbrachte Koestler in Charkow und wurde dort Zeuge der großen Hungerkatastrophe in der Ukraine. Ein deutscher Freund erinnert sich an Koestlers Empörung über den „Schwindel in der Presse“ aus diesem Anlass. Man spricht von „Schwierigkeiten in der Ernährung“, dabei „sterben die Menschen wie die Fliegen“. Überall herrscht der Widerspruch zwischen dem hohen Ziel, einem nebulösen Glück in der Zukunft, und den grausamen Mitteln der Gegenwart.

Die Russlandreise ist eine wichtige, aber nicht die einzige Quelle für das Konzept des Romans „Sonnenfinsternis“. Vor allem die Schicksale deutscher Kommunisten, darunter eine Reihe von Emigranten, die in der Sowjetunion mit knapper Not dem Tod entronnen waren, haben hier mitgewirkt, dazu endlose Debatten mit Parteigenossen, die aus der Partei ausgetreten waren wie Manès Sperber oder ausgeschlossen wurden wie der legendäre Propagandist Willi Münzenberg. Bei letzterem lernte Koestler auch eine andere mögliche Bewertung des Satzes „Der Zweck heiligt die Mittel“ kennen: der Satz kann als wahr empfunden werden, wenn es, wie in dem von Münzenberg herausgegebenen „Braunbuch“, um Verbrechen der Nazis ging, die teilweise als Wahrheiten präsentiert wurden, obwohl die Beweise fehlten. Eine Halbwahrheit erweist sich als die wirksamere Waffe als die Wahrheit. Ist sie damit „geheiligt“? In „Sonnenfinsternis“ wird die Frage trotz solcher Zweifel genauso grundsätzlich verneint wie der „arithmetische Humanismus“, der den Wert von Menschenleben nach ihrer Zahl berechnet.
Zu den wichtigsten Erfahrungen Koestlers, die in das Buch eingegangen sind, gehört die Verhaftung durch die Truppen Francos in Malaga 1937, der ein Todesurteil und ein mehrmonatiger Gefängnisaufenthalt in Sevilla folgt. Er hat im Auftrag der Komintern Informationen im Lager der Francisten gesammelt und muss mit seiner Hinrichtung rechnen, bis er auf eine britische Intervention hin freigelassen wird.
Schließlich sind die katastrophalen historischen Ereignisse zur Zeit der Entstehung des Romans im Bewusstsein des Autors gegenwärtig. Koestler beginnt die Arbeit an „Sonnenfinsternis“ 1938 wenige Wochen nach seinem Austritt aus der KP, ein Jahr später kommt es zum Hitler-Stalin-Pakt, einem für gläubige Kommunisten unfassbaren Ereignis, im selben Jahr wird Koestler in Frankreich als feindlicher Ausländer im Lager Le Vernet interniert, wo er unter schwierigen Umständen weiter an dem Manuskript arbeitet. Fertiggestellt und nach London abgeschickt wird der Roman kurz vor der Besetzung von Paris durch die deutsche Wehrmacht im Juni 1940. Mit viel Glück gelingt Koestler die Flucht nach London.
Der Roman spiegelt die Dramatik dieser ganzen Periode, konzentriert auf das Einzelschicksal des Protagonisten Rubaschow, und so erklärt sich auch die enorme Wirkung auf die ersten Leser. Darüber berichtet der englische Autor und Koestler-Biograf Michael Scammell in dem Vorwort zu der neuen Textausgabe. Koestlers englische Freunde, überwiegend aus dem linken Flügel der Labour Party, sympathisierten mit den sozialistischen Genossen in der Sowjetunion, von denen sie wenig wussten. Der Roman traf sie wie ein Schlag, berichtet Scammell, einer von ihnen schrieb in einer Rezension: „Wer kann jemals seine erste Lektüre von ‚Sonnenfinsternis’ vergessen?“ Andere sprachen von der „verheerendsten Bloßstellung stalinistischer Methoden, die jemals geschrieben wurde“ und hoben hervor, dass Koestler als einer der ersten „die wachsende Ähnlichkeit zwischen dem Sowjetregime und dem Naziregime“ bemerkt habe. Die breite englische Öffentlichkeit blieb aber zunächst gleichgültig, die Sowjetunion war schließlich von 1941 an der wichtigste Verbündete gegen Hitler-Deutschland. Zur Sensation wurde das Buch erst 1946 in Frankreich, wo von einer französischen Übersetzung in einem Monat 70.000 Exemplare verkauft wurden, in zwei Jahren waren es zwei Millionen. Dabei stellten die Kommunisten die stärkste Fraktion in der verfassunggebenden Nationalversammlung und konnten auf mühelose Wahlsiege hoffen. Stattdessen scheiterte der von ihnen und den Sozialisten unterstützte Entwurf im Verfassungsreferendum mit 53% Gegenstimmen. Namhafte Zeitgenossen schrieben das Ergebnis der Wirkung des Romans zu. Binnen weniger Jahre wurde das Buch in dreißig Sprachen übersetzt und avancierte zum internationalen Bestseller. In gewissem Maße war das ein Anzeichen für den beginnenden Kalten Krieg, ohne Zweifel aber auch die Reaktion der Leser auf ein eindrucksvolles Buch, das mehr war als eine antikommunistische Propagandaschrift. Es stellt eine gedanklich anspruchsvolle und glänzend formulierte Debatte über die kommunistische Bewegung und die sowjetische Revolution dar, wobei die magische Anziehungskraft dieses Projekts in der Welt der Intellektuellen ebenso zur Geltung kommt wie die verbrecherische Ausführung des Experiments. Zusammengefasst wird das Romanthema in der Frage nach der Richtigkeit des Satzes „Der Zweck heiligt die Mittel“. Im Vergleich mit Gorkis Rolle in den Jahren des zunehmenden Terrors der Stalin-Zeit ergibt sich ein klarer Gegensatz zwischen den Antworten der beiden Schriftsteller auf die gestellte Frage. Koestler verneint sie kategorisch, Gorki bemüht sich mit aller Kraft, die Richtigkeit des Satzes zu beweisen, indem er die „niedrigen Wahrheiten“ ignoriert zugunsten des „erhebenden Betrugs“ in Gestalt der „Errungenschaften“. Das gehört zu der traurigen Bilanz eines Schriftstellerlebens.

Gorki und Rubaschow

Es bleibt aber gleichsam eine Gegenstimme, die am Anfang des Eintrags angeführt ist: Gorki über das „jesuitische Prinzip“ „Der Zweck heiligt die Mittel“, über eine Revolution, die starke und ehrliche Menschen erziehen will und dafür Mittel einsetzt, die Sklavennaturen hervorbringen, eine Revolution, die das „Glück der Freiheit durch Verbrechen gegen die Persönlichkeit“ verdunkelt. Ein Leser des Romans „Sonnenfinsternis“, der diesen anderen Gorki im Sinn hat, wird in den Gedanken und Auftritten des Protagonisten Rubaschow immer wieder sinngemäße oder sogar wörtliche Übereinstimmungen mit Ansichten und Äußerungen Gorkis finden. Dabei könnte man sich Gorki in nahezu allen Situationen Rubaschows vorstellen, insbesondere als wortgewaltiger Ankläger der Revolution in der großen Rede, mit der er die „größte Schweinerei der Geschichte“ mit Daten und Fakten belegt. Die Rede ist im selben Ton einer grenzenlosen Empörung gehalten wie die Artikelserie „Unzeitgemäße Gedanken“ (1917-1918), mit der Gorki die Oktoberrevolution als ein verbrecherisches Experiment verurteilte. Als einen Text von Gorki könnte man auch das mit beißender Ironie vorgetragene Geständnis Rubaschows verstehen, mit dem er die absurden Anschuldigungen des Untersuchungsrichters Gletkin konterkariert: „Ich bekenne mich schuldig, den fatalen Zwang, unter dem die Politik der Leitung steht, nicht durchschaut und daher eine oppositionelle Haltung eingenommen zu haben. Ich bekenne mich schuldig, sentimentalen Regungen gefolgt und damit in Widerspruch zur historischen Logik geraten zu sein. Ich habe dem Wimmern der Geopferten mein Ohr geliehen und wurde dadurch taub gegen die Argumente, die zu ihrer Opferung zwangen. Ich bekenne mich schuldig, die Frage der Schuld und Unschuld höher gestellt zu haben als die Frage nach Nützlichkeit und Schädlichkeit“. Ähnlich dürfte Gorki argumentiert haben, als er in den Jahren nach der Revolution bis zu seiner Ausreise 1921 regelmäßig bei Lenin im Kreml vorstellig wurde, um die Freilassung von unschuldig inhaftierten Menschen zu erwirken. Und er hat solche Interventionen auch bei Stalin und Jagoda vorgetragen. Eine von denen, die ihm ihre Freiheit und ihr Leben verdankten, war die Historikerin und ehemalige Hofdame Julija Danzas (erwähnt in dem Eintrag über Gorkis Besuch im Lager Solowki). Sie schrieb in ihrem Nekrolog auf Gorki (1936): „Er kämpfte unermüdlich, um möglichst viele Menschen zu retten, sogar solche, die nutzlos oder sogar feindlich für das Regime waren. So viele hat er gerettet, häufig auf eigenes Risiko – von Großfürsten bis zu bettelarmen Priestern. Der Blutrausch der Macht löste bei ihm Entsetzen und physischen Schmerz aus“.
Zu den wichtigsten und widersprüchlichsten Themen sowohl in „Sonnenfinsternis“ als auch in Gorkis Werk gehört das Gefühl des Mitleids. Iwanoff beschreibt es bei seinem nächtlichen Besuch in Rubaschows Zelle geradezu als ein lebensgefährliches Gift: „Eine einzige Dosis Mitleid und Humanismus, und du bist verloren. Weinen und sich selbst beweinen – du kennst die pathologische Neigung unserer Rasse dafür. Unsere größten Dichter gingen an dieser Intoxikation zugrunde. Bis zu vierzig, fünfzig waren sie Revolutionäre – dann wurden sie mitleidsüchtig…“
Gorki hat nicht erst mit vierzig, sondern von Anfang an mit dieser gefährlichen Versuchung gekämpft, verkörpert in der Gestalt des „Trösters“ Luka in dem Drama „Nachtasyl“, wo das Mitleid im Konflikt mit dem Ideal des „stolzen Menschen“ gezeigt wird. In den „Unzeitgemäßen Gedanken“ feiert der Artikel „Christus und Prometheus“ „die beiden größten Symbole“, die die Menschen erdacht haben: die „unsterbliche Idee der Barmherzigkeit“ und die „Rebellion gegen das Schicksal“. In den dreißiger Jahren wurde das Thema der sowjetischen Staatsideologie angepasst: Barmherzigkeit war praktisch verboten und Gorki bezeichnete den Tröster Luka als eine „schädliche Figur“.
Auch die Debatte über den Wert eines Menschenlebens in „Sonnenfinsternis“ im Zusammenhang mit dem „arithmetischen Humanismus“ Raskolnikows („Schuld und Sühne“) hat ihre Parallelen in Gorkis Werk. In der Sammlung „Erlebnisse und Begnungen“ (Zapiski iz dnevnika. Vospominanija, 1924) reden einfache Menschen auf der Straße ungeniert über den guten Zweck des Massensterbens im Krieg. Es gibt zu viele Menschen, es muss Platz gemacht werden für die Lebenden. Auch das Ausrotten ganzer Bevölkerungsgruppen nach der Revolution halten viele für unumgänglich, zuerst sollen die Gebildeten drankommen.
Die Kritik an der Allmacht der Vernunft und der Logik der Geschichte, eines der Hauptthemen in „Sonnenfinsternis“, gehört ebenfalls in Gorkis Werk zu den ständig wiederkehrenden Motiven, allerdings auch hier eines mit Widersprüchen. Als Autor ein Prediger der Vernunft, bevorzugt Gorki in seinem Personal „unvernünftige“ Menschen, Sonderlinge, Sektierer und Außenseiter aller Art. Dagegen erscheinen Verstandesmenschen (umniki) gewöhnlich als beschränkte, „unrussische“ Charaktere, wie der Held des letzten Romans Klim Samgin, ein „Revolutionär auf Zeit“, der sich den Anschein eines bedeutenden Intellektuellen gibt, in Wirklichkeit aber nur ein opportunistischer Kleinbürger ist.
Das letzte Wort Rubaschows im Schauprozess kann natürlich keine direkte Entsprechung in Gorkis Leben und Werk finden, aber es lohnt sich doch, sich einen entsprechenden Auftritt vorzustellen. Rubaschow stellt sich als Teilnehmer eines grandiosen Projekts vor, das gescheitert ist. Er bekennt seine Schuld, die darin besteht, dass er einem Irrtum verfallen ist, zu den Besiegten gehört, die „von der Geschichte in den Staub getreten“ sind. Wie Gorki in den letzten Jahren über sein Leben dachte, wissen wir nicht. Aber er hat Vertreter der alten Garde getroffen, die fühlten wie Rubaschow. In „Erlebnisse und Begegnungen“ sagt einer von ihnen über die Revolution: „Wir haben sie angebetet wie verliebte Romantiker, - dann ist aber ein frecher Kerl gekommen und hat unsere Geliebte vergewaltigt“. Romain Rolland, der ihn ein Jahr vor Gorkis Tod besuchte, beschrieb ihn als einen „unglücklichen alten Bären“ mit einem Nasenring, niedergedrückt von der Last einer seinem Wesen fremden Rolle. Rolland sah den Grund für diesen Zustand allerdings nicht in den Verhältnissen im Land und in dem Regime Stalins, den er als einen „Augustus der neuen Welt“ bewunderte, sondern in Gorkis Natur, einem darin angelegten tiefen Pessimismus. Als Rollands „Moskauer Tagebuch“ nach einer vom Autor verhängten 50-jährigen Sperre im Jahr 1989 in Russland erschien, war der „Imperator“ Stalin gerade von seinem Sockel gestürzt, und mit ihm sein bis ans Ende nach außen loyaler Bundesgenosse Gorki. Trotz der fragwürdigen Thesen Rollands entsprach das Bild des unglücklichen Bären, wie man annehmen darf, der wirklichen Verfassung Gorkis, vergleichbar mit dem Ende Rubaschows, auch wenn er nicht erschossen, sondern mit großem Pomp beerdigt wurde. In dem Blog-Eintrag über Gorkis Besuch im Lager Solowki ist die Äußerung des Schriftstellers Boris Akunin über Gorkis „verdorbenen Nekrolog“ durch seine letzten Lebensjahre angeführt. Wäre er zehn Jahre früher gestorben, so wäre sein Ruhm unumstritten geblieben, meint Akunin. An diese Spekulation könnte man eine andere anschließen: Was wäre gewesen, wenn er zusammen mit seinen Genossen aus der Opposition vor Gericht gestellt worden wäre? Die Untersuchungsrichter hätten weit weniger Arbeit mit der Anklageschrift gehabt als die in Koestlers Roman, schon ein Bruchteil seiner Biographie und seines Werks hätte ausgereicht, um ihn als einen der gefährlichsten Feinde des Volkes vorzuführen. Dass dies nicht geschah, ist nur der Einsicht Stalins zu verdanken, dass eine solche Veranstaltung vor der Weltöffentlichkeit zu großen Schaden angerichtet hätte. Und selbst wenn Gorki in die Lage des Angeklagten geraten wäre, hätte ihm für einen großen Auftritt gegen das Stalin-Regime wohl die Kraft und auch die Überzeugung gefehlt. Angesichts der drohenden Kriegsgefahr wäre er zu einem solchen Schritt nicht bereit gewesen. Gorkis Äußerungen über Hitler und das NS-Regime wurden während der Gültigkeit des Hitler-Stalin-Pakts (1939-1941) zum Teil aus seinen Schriften entfernt. Abgesehen von diesen Rücksichten auf die historische Situation dürften Gorki aber auch ganz persönliche Gründe davon abgehalten haben, einen Aufstand gegen Stalin zu wagen, Gründe, die mit seiner Verstrickung in das totalitäre Regime und seiner Mitverantwortung für den Terror zusammenhängen. Es ist schwer vorstellbar, dass er in seinen letzten Jahren nicht wie Rubaschow von dem „Wimmern der Opfer“ verfolgt wurde. Man darf annehmen, dass auch er über den „Fehler im System“ nachgedacht und vielleicht wie Rubaschow den Kern des Übels in dem Satz gefunden hat, dass der Zweck die Mittel heiligt.

Literatur

Arthur Koestler, Sonnenfinsternis. Roman . Nach dem deutschen Originalmanuskript, Elsinor Verlag, Coesfeld 2018
Christian Buckard, Arthur Koestler, C.H. Beck, München 2004
Die russische Übersetzung von Koestlers Roman ist in zwei Ausgaben erschienen:
Кестлер А., Слепящая тьма, Ленинград, Лениздат, 1989
Textgleich im selben Jahr in dem sowjetisch-französischen Verlag DEM. In dieser
Ausgabe im russischen Internet verfügbar. Eine spätere gedruckte Ausgabe konnte nicht ermittelt werden.

Kategorie: Streit um Gorki

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