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Dreizehn Jahre Gorki-Blog - abschließende Bemerkungen (I)

Sonntag, 15. September 2019, 21:13:15

Am 18. Juni 2019 waren seit den ersten Einträgen auf diesem Blog 13 Jahre vergangen. In dieser Zeit ist der „unbekannte Gorki“ zu ca.150 Einträgen angewachsen, die zusammen eine Länge von über 600 Druckseiten ergeben. Die Menge sagt natürlich nichts über Qualität und Erfolg des Projekts, aber sie kann als „ausreichend“ für ein relativ begrenztes Thema gelten. Im Falle der russischsprachigen Variante des Blogs habe ich daher schon 2017, nach dem zehnten Jahr des Blogs, einen Schlusspunkt gesetzt. Die Seite ist jedoch bis heute mit einem Klick auf die russische Flagge auf der Startseite zu erreichen. Dort folgt auch ein Inhaltsverzeichnis, das das russischsprachige Material in übersichtlicher Form zugänglich macht. So soll es auch mit dem deutschsprachigen Teil geschehen. Es wird also keine neuen Einträge geben, aber der Inhalt steht für mindestens zwei Jahre im Netz zur Verfügung.

Die Einträge auf dem Blog wechseln in ungeregelter Folge zwischen zwei Sichtweisen auf den Schriftsteller Gorki: die eine betrifft den unbekannten Gorki allgemein, d.h. Grundzüge seiner Persönlichkeit und seines Werks ohne direkten Bezug auf die Gegenwart, die andere betrifft die Bedeutung des Schriftstellers in Bezug auf den Zeitraum der Blogeinträge (2006-2019), also das postsowjetische Russland unter der Präsidentschaft Wladimir Putins. Entsprechend diesem Unterschied der Perspektive ist die folgende Zusammenfassung der Inhalte des Blogs in zwei Einträge geteilt.

Der unbekannte Gorki

Über das lebhafte Echo der Besucher auf das Erscheinen des Blogs habe ich in dem zweiteiligen Eintrag „Fünf Jahre Gorki-Blog“ am 27.02.2012 berichtet. (Ich gebe im folgenden nur das Datum des Eintrags an, in der anschließenden Inhaltsübersicht sind die Einträge über Links direkt zu erreichen. Außerdem kann jeder Eintrag in der Zeitleiste „Archiv“ auf der Startseite mit einem Klick auf den Monat des entsprechenden Jahres aufgerufen werden.)Viele Besucher zeigten sich erstaunt und überrascht von dem „unbekannten Gorki“, dem sie auf dem Blog begegneten, und bestätigten damit meine erklärte Absicht, diesem allzu bekannten Denkmal der sowjetischen Kultur ein anderes Bild dieses Schriftsteller gegenüberzustellen, der bis zu seiner Rückkehr in die UdSSR 1928 als einer der Großen in der Weltliteratur galt. Was diese Rückkehr des abtrünnigen Revolutionärs Gorki zu Stalin und seinen Genossen mit ihm gemacht hat, ist in einem anschaulichen Bericht des Schriftstellers Kornej Tschukowskij von einer Gorki-Feier im Jahre 1932 zu lesen. Der Eintrag „Tonnen von bürokratischem Stumpfsinn“ (3.09.2007) bildet gewissermaßen den Ausgangspunkt der Debatte über Gorki auf diesem Blog. Das Gegengewicht zu der von der stalinistischen Propaganda erfundenen Ikone Gorki ist „Das Gesicht des Künstlers“ (Eintrag 20.03.2013), das vor allem in den autobiographisch fundierten Texten als eine Galerie von „russischen Menschen“ aller Klassen und Charaktere zum Ausdruck kommt. In der Inhaltsübersicht findet sich eine umfangreiche Liste der Texte aus Gorkis Werk, die auf dem Blog vorgestellt sind.


Als Erzähler ein „toter Mann“?

In einem Beitrag der „Mitteldeutschen Zeitung“ (28.03.2018) aus Anlass des 150. Geburtstags Gorkis geht der Verfasser mit dem Schriftsteller hart ins Gericht: Als Erzähler sei Gorki heute „ein toter Mann“, und wenn er überhaupt gerettet werden müsse, dann nur mit seinen frühen Erzählungen, dieser „rohen reinen Prosa“, die noch frei sei von der folgenden „künstlerischen Lähmung“ im Dienst der Revolution und der Partei. Nicht zufällig war das eine Stimme aus Ostdeutschland, wo die Erinnerung an Gorki überwiegend mit Klagen über die langweilige Lektüre des Romans „Die Mutter“ in den Schulen und die zahlreichen Straßen und Einrichtungen mit Gorkis Namen in jeder Stadt verbunden waren und sind (dazu der Eintrag „Staub der sowjetischen Kanonisierung“ – Gorkis 150. Geburtstag in Deutschland, 17.07.2018). Die Gorki-Verachtung in der ehemaligen DDR hat also ihre politischen Gründe, aber das zitierte Urteil ist trotzdem in beiden Teilen ungerecht, sowohl was den Erzähler Gorki im ganzen betrifft als auch die Beurteilung der frühen Erzählungen. Die „künstlerische Lähmung“ befiel Gorki in der Tat im Umfeld der ersten russischen Revolution 1905, als der Schriftsteller aktiver Teilnehmer der revolutionären Bewegung war, aber sie endete spätestens 1913 mit dem Erscheinen des ersten Teils der autobiographischen Trilogie „Meine Kindheit“, ein Buch, das von der Kritik einhellig als das Werk eines „neuen Gorki“ begrüßt wurde. Die Dichterin Zinaida Gippius, die zu den schärfsten Kritikern des „politischen“ Gorki gehörte, nannte den Autor der „Kindheit“ einen „großen Schriftsteller und einen großen Menschen“ (Eintrag „Meine Kindheit“, 25.03.2016). Auch die mehrfache Nominierung für den Nobelpreis bezog sich in den Gutachten auf das Werk zwischen 1910 bis 1928 („Gorki und der Nobelpreis“, 17.07.2015). Und eben diese Periode in Gorkis Werk gehört bis heute zu den weißen Flecken in der Rezeptionsgeschichte des Schriftstellers.


Eine Welt im Umbruch

Unzutreffend ist auch die Charakterisierung der frühen Erzählungen als „rohe reine Prosa“, verstanden als gewissermaßen unbearbeiteter autobiographischer Rohstoff. Was am Jahrhundertanfang Leser und Kritiker faszinierte, war nicht nur ein neuer Stoff, sondern auch die Entdeckung von literarischem Neuland, besonders in Gestalt der berühmten „Bosjaken“, der barfüßigen Landstreicher. Man kann sie in dem 2018 im Aufbau Verlag erschienenen Sammelband „Jahrmarkt in Holtwa. Meistererzählungen“, in neuer Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt kennenlernen (dazu der Eintrag „Eine Welt im Umbruch“, 06.08.2018). Neuartig an diesen Gestalten war die Verbindung von sozialtypischen Merkmalen mit einer unverwechselbaren Individualität. Sie sind alle „hungrig wie die Wölfe und böse auf die ganze Welt“, aber jeder für ist auch ein ungewöhnlicher Mensch, viele mit besonderen Begabungen als Sänger, Geschichtenerzähler oder lautstarker Rhetoriker im Streit mit der Obrigkeit und mit eigenen Genossen. Dabei geht es nicht um ethnographische Beschreibungen des lustigen und traurigen Zigeunerlebens, sondern um philosophische Diskurse über Grundfragen der menschlichen Existenz.
Viele dieser Erzählungen sind kleine Dramen, in denen zwei gegensätzliche Charaktere aufeinandertreffen: in „Tschelkasch“ geht es um ein regelrechtes Duell zwischen dem stolzen Titelhelden, der auf seinen nächtlichen Raubzügen im Hafen von Odessa die Schiffe der Wächter an der Nase herumführt, und seinem Komplizen, dem Bauernjungen Gawrila, der mit allen Mitteln die Beute in seinen Besitz zu bringen versucht. Auf eine ideelle Ebene transponiert, geht es um den Konflikt zwischen Freiheitsliebe und Stolz des Bosjaken auf der einen und einer auf Eigentum und Sesshaftigkeit ausgerichteten Bauernmentalität auf der anderen Seite. Es geht wie in vielen anderen der frühen Erzählungen auch um eine Konfrontation zweier Charaktere im Rahmen einer idealistischen, nicht soziologischen Anthropologie: die Starken und die Schwachen, wobei die ersteren immer schön, die letzteren immer erbärmlich erscheinen. Darin zeigt sich – in vergröberten, aber in ihrer Art gleichfalls „starken“ Bildern – der Einfluss Nietzsches auf den jungen Gorki. In „Kain und Artjom“ nimmt ein Kraftprotz und Diktator auf den Straßen einer Kleinstadt einen in ständiger Angst lebenden kleinen Juden unter seine Fittiche, läßt ihn dann aber im Stich, weil er die Unterwürfigkeit des Freundes nicht ertragen kann. Artjom ist bereit, ihn mit Geld zu entschädigen, mehr aber nicht: „Mitleid mit dir haben, das kann ich nicht“.
Mitleid ist in den frühen Erzählungen immer ein Gefühl mit Fragezeichen. Auch im Drama „Nachtasyl“ übertrumpft die berühmte Predigt des Falschspielers Satin „Mensch, das klingt stolz!“ das Mitgefühl des Pilgers Luka, der den Bewohnern des Nachtasyls mit erfundenen Geschichten Trost spendet. Zum Weihnachtsfest 1918 rief Gorki, verzweifelt über den „Sturm von Habgier, Hass und Rache“ auf den Straßen, die Menschen zur Rückbesinnung auf die beiden „größten Symbole“ auf, die der Mensch geschaffen habe: Christus, die „unsterbliche Idee der Barmherzigkeit und Menschlichkeit“, und Prometheus, „der erste Rebell gegen das Schicksal“ (Eintrag 6.01.2010). Eine Auswahl von Erzählungen mit überwiegend positiven Beispielen der Barmherzigkeit findet sich auch in dem Band „Unbekannte Erzählungen“, der erstaunlicherweise 1941 in der Reichshauptstadt Berlin erscheinen konnte (Eintrag 05.12.2013).

Man kann die frühen Erzählungen als eine Debatte über eine bevorstehende große Veränderung der sozialen und geistigen Welt in Russland lesen. Der Rittmeister Kuwalda, einer aus der Schar der heruntergekommenen „gewesenen Menschen“ tritt als Prophet dieser neuen Welt auf, die mit den alten Begriffen aufräumen soll: „Wir brauchen etwas anderes, andere Gesichtspunkte , andere Gefühle… Wir brauchen etwas Neues, denn wir sind selbst etwas Neues“. In der sowjetischen Gorki-Literatur waren das natürlich Pophezeiungen der proletarischen Revolution. Aber dem Autor waren in diesen Jahren solche „romantischen“ Ideen viel näher als der Marxismus-Leninismus. Das Wissen des heutigen Lesers über eine so brutale Veränderung wie die Oktoberrevolution in so naher Zukunft, die in der dargestellten Gegenwart noch völlig undenkbar war, gehört zu den besonderen Reizen der Lektüre dieser Werke.
Nicht weniger interessant erscheint auch das Selbstporträt des Schriftstellers in Gestalt des autobiographischen Ich-Erzählers. Wie im gesamten Erzählwerk Gorkis erscheint er als ein Gast in einem Milieu, in das er durch soziale Umstände geworfen ist, dem er aber von seiner geistigen Verfassung her nicht angehört. Er war nie ein „echter“ Vagabund und ungeachtet seiner mangelhaften Schulbildung in den Augen seiner Genossen immer ein Intellektueller: „du Schreckgespenst, vieräugiges“, redet ihn (den Brillenträger) einer von ihnen an. Aleksej (oder auch Maksim) ist von Anfang an ein Schriftsteller, ein Beobachter des Lebens, immer auf der Suche nach „interessanten Menschen“. Zugleich spielt er die Rolle des Lehrers und Aufklärers, wobei er oft selbst seiner Sache nicht sicher ist, hier liegt die Quelle für einen ironischen Umgang des Autors mit seinem alter ego. Besonders anrührend ist diese Situation in der Erzählung „Konovalov“ (Eintrag 4.09.2013) gestaltet. Der Titelheld, ein talentierter und zuverlässiger Arbeiter in einer Bäckerei mit der Neigung zu plötzlichen Alkoholexzessen zeigt ein lebhaftes Interesse an Büchern. Aleksej liest ihm eine Erzählung über das traurige Schicksal von zwei leibeigenen Bauern vor. Konovalov wird von Mitleid überwältigt und will von Aleksej wissen, warum ihnen niemand geholfen hat. Die literaturtheoretischen Erklärungen des Kollegen befriedigen ihn nicht, und er erhebt auch Widerspruch gegen manche der „fortschrittlichen“ Meinungen Aleksejs, z.B. gegen den ökonomischen Fatalismus, der die Opfer von aller Verantwortung freispricht („Du bist nicht schuld! Das Milieu ist schuld“). Konovalov besteht auf der persönlichen Verantwortlichkeit für sein ganzes Leben, auch für sein Unglück. Der gesunde Menschenverstand des „einfachen Menschen“ läßt den jungen Gorki schmerzhaft spüren, wie ungesichert und oberflächlich seine angelernten Wahrheiten sind. Der Held dieser Erzählung kann als Keimzelle des neuen Menschen gelesen werden, wie Gorki ihn sich vorstellte: ein Künstler in der Arbeit und ein wahrer Freund der Menschen im Leben.


Russland und die Russen

Die „künstlerische Lähmung“, die Gorki im Umfeld der Revolution von 1905 befiel, bedeutete also keineswegs, wie der zitierte Kritiker meint, das Ende des bedeutenden, auch heute noch lesenswerten Teils der Werke Gorkis. Die parteinahen Kampfschriften, darunter der so überaus erfolgreiche Roman „Die Mutter“ (den Gorki zeitlebens für einen künstlerischen Misserfolg hielt) und die utopischen Entwürfe des „Gotterbauertums“ für einen religiös fundierten Sozialismus bestimmten nur eine kurze Periode seines Schaffens. Schon um 1910 kehrte Gorki zu den Themen und Methoden des autobiographischen Schreibens zurück, die seiner künstlerischen Begabung entsprachen. Die Stoffe schöpfte er wie in den frühen Erzählungen aus den Erinnerungen an Erlebnisse der späten 1880er und frühen 1890er Jahre, zu denen die Wanderungen durch Russland gehörten. Neben der autobiographischen Trilogie , beginnend mit „Meine Kindheit (1913) und endend 1923 mit „Meine Universitäten“, gehören die „Wanderungen durch Russland“ (Po Rusi), eine Sammlung von ca. 30 Erzählungen, von 1912 und 1917 erschienen, sowie zwei weitere Sammlungen („Erzählungen 1922-1924“ und „Erlebnisse und Begegnungen“ (1924)), nach mehrheitlicher Ansicht der heutigen Gorki-Forschung zu der wichtigsten Periode in Gorkis Schaffen, und entsprechend bilden sie den inhaltlichen Schwerpunkt auf diesem Blog.
Wie in den frühen Erzählungen gibt es hier „interessante“ Charaktere in verschiedenen sozialen Milieus, oft in dramatischen weltanschaulichen Kollisionen, und dies immer in Beziehung zu dem Selbstporträt des autobiographischen Helden, des jungen Gorki, der von einem nach Alter und Erfahrung gereiften Autor geschildert wird. Neu ist die Akzentuierung auf die nationaltypischen Merkmale der erzählten Welt. Während es in den frühen Erzählungen um eher universale als nationale Kategorien geht wie die Starken und die Schwachen, die Vagabunden und die Sesshaften, die stolzen Rebellen und die unterwürfigen Sklaven, erscheinen nun von ihrem Milieu geprägte Personen, Kaufleute, Intellektuelle, Beamte und „einfache“ Menschen. Deutlicher als in den frühen Erzählungen sind hier die Bezüge auf die russische Geschichte und die Perspektiven des Landes. Anschauliche Beispiele für diese künstlerische Erforschung Russlands und seiner Menschen bieten drei Einträge unter dem gemeinsamen Titel „Russische Abende“ (17.10.2008; 31.01.2009; 01.02.2009). Der junge Gorki, noch nicht als Schriftsteller, sondern nur als Journalist in seiner Heimatstadt bekannt, ist zu Besuch in Häusern und Gesellschaften, die unterschiedlicher nicht sein könnten und in denen er – überwiegend vergeblich – nach Menschen sucht, die ihm als Vorbilder und nützliche Helfer für die Entwicklung des Landes dienen könnten. In „Ein Abend bei Panaschkin“ sind es Vertreter der literarisch gebildeten Intelligenzija, deren genüsslichem Plaudern über Gott und die Welt der junge Autodidakt mit Andacht lauscht wie in einem Gottesdienst, dann aber bitter enttäuscht ist über das gänzliche Verschwinden der geistigen Interessen seiner Gastgeber, sobald es ans Essen geht.
In „Ein Abend bei Suchomjatkin“ lernt er zwei halbverrückte Kaufleute kennen, die regelmäßig ein Fest veranstalten, das sie stolz „Vergnügung in drei Etagen“ nennen.Es geht zuerst ins Schwitzbad, darauf folgt ein deftiges Essen und als Höhepunkt eine „Kulturveranstaltung“: von den Gastgebern vorgeführte Zauberkunststücke. An dem „Abend bei Panaschkin“ lauscht Gorki mit nicht minderem Interesse den absonderlichen Reden seiner Bekannten aus den unteren Schichten. Dort tut sich einer hervor, der die Fähigkeit besitzt, „jede Wahrheit mit Eselsohren auszuschmücken“. So berichtet er von einem Gerät aus Amerika, das den Menschen das mühselige Zerkleinern ihrer Nahrung erspart, einer „Kaumaschine“. Die Zuhörer hängen an seinen Lippen und sind fasziniert von den Wundern der ausländischen Wissenschaft und der Technik. Der Erzähler Gorki erklärt dazu, er habe sich damals sehr interessiert für „die sanften, viel und nutzlos grübelnden russischen Menschen, die „mit dem Leben auf Kriegsfuß standen“, d.h. in einer Welt aufgelesener „Weisheiten“ und Verschwörungstheorien lebten. Solche Beschreibungen der schwerfälligen Gedankenarbeit einfacher russischer Menschen finden sich bei Gorki in großer Zahl, oft auch als Mittel der Charakterisierung in der Sprache der Personen. Diese Technik einer alternativen „bildungsfernen“ Sprache hat später Andrej Platonow weiter entwickelt.


Zwischen Asien und Europa

Die Psychologie der einfachen „russischen Menschen“ bei Gorki steht im Widerspruch zu den Normen der modernen Welt, wie sie in Europa und in den Metropolen verkörpert sind. Als Gegenbegriffe dazu fungieren „Asien“ und „die Provinz“. In dem Artikel „Zwei Seelen“ (1915) beschreibt Gorki die seelische Verfassung der Russen als einen permanenten Kampf zwischen den Einflüssen Europas und Asiens, wobei Europa für Sekularität, rationales Denken und zweckgerichtete Arbeit steht, Asien für die Neigung zu Mystizismus, Passivität und Trägheit. Gorki sieht die russischen Menschen aller Klassen und Weltanschauungen von diesem Konflikt betroffen, die Abhandlung ist ein Appell an die jungen Aktivisten in der Partei, die aufgefordert werden, die sogar in ihnen noch schlummernden Reste des „Asiatischen“ zu bekämpfen und ein klares Bekenntnis zu Europa und seiner unermüdlichen Arbeit am Menschen und an der Natur abzulegen. Der Text, der wegen seines gänzlich unmarxistischen Charakters bis in die Zeit der Perestrojka praktisch verboten war, ist im Blog in einer neuen Übersetzung zu lesen (Eintrag 12.02.2010). Das gleiche Schema mit seinen stark vergröberten Gegensatzpaaren verwendet Gorki auch in der Abhandlung „Vom russischen Bauern“ (1923), in der die „asiatische“ Prägung der Bauernschaft praktisch zu einer Eigenschaft der gesamten Nation erklärt wird. (Eintrag 07.07.2013).

Der geographische Ort des „Asiatischen“ in Russland ist die Provinz. Die Kleinbürger der Provinzstädte prägen nach Gorkis Auffassung das nationale Gesicht des Zarenreichs. „Russland ist ein Staat der Kreisstädte“, erklärt ein Bewohner und „Philosoph“ einer solchen Stadt, für die Gorki den Namen „Das Städtchen Okurow“ (1910) erfunden hat. Das Bild einer solchen Stadt steht auch am Anfang des Sammelbands „Erlebnisse und Begegnungen“ (1924, im Original „Bemerkungen aus dem Tagebuch. Erinnerungen“; Eintrag 24.03.2018). Es handelt sich um einen extrem hässlichen Ort, Gorki zeigt ihn im Zustand einer unerträglichen Mittagshitze. Aus einem graublauen Himmel „strömt unsichtbar flüssiges Blei hernieder“. In „Meine Kindheit“ hat Gorki das viel zitierte Wort von den „bleiernen Abscheulichkeiten des russischen Lebens“ geprägt. Es handelt sich um eine schwerfällige, gleichsam schlafende Welt, in der es keinen Fortschritt, sondern einen immerwährenden Stillstand gibt. Die Menschen verharren in erstarrten Traditionen, ihr Denken besteht aus Ängsten vor jeglicher Veränderung, Verschwörungstheorien, Neid und Missgunst gegeneinander und einer sklavischen Ergebenheit vor den Autoritäten des Staates und der Kirche. Die 31 Texte der Sammlung „Erlebnisse und Begegnungen“ umfassen die historische Zeit vom späten 19. Jahrhundert des Zarenreichs über den Weltkrieg bis zu den Revolutionsjahren 1917-1918. Dabei liegt der Hauptakzent nicht auf den umwälzenden Veränderungen der letzten Periode, sondern auf dem anscheinend problemlosen Übergang der Einwohner von Okurow in die neue Zeit. Die Kleinbürger des Zarenreichs verwandeln sich mühelos in Untertanen der neuen Macht, Handlanger, Denunzianten und Karrieristen.
Unberührt von den großen Umbrüchen Krieg und Revolution bleiben auch gewisse Eigenschaften der „russischen Seele“, die auf der folgenden Inhaltsübersicht in der Kategorie „Schlüsselbegriffe“ aufgelistet sind, darunter die berühmte „Skuka“, ein rätselhafter Seelenzustand der Langeweile (22.10.2012), „Neugier“ als die mächtigste Antriebskraft des Künstlers (18.06.2006) und die russische Bezeichnung eines von Gorki geliebten Menschentyps, des „Unruhestifters“ (Eintrag „Ozorniki“, 16.07.2009).

Am Ende des Bands „Erlebnisse und Begegnungen“ steht ein für Gorkis zwiespältige Seele typisches Bekenntnis zum Volk der Russen. Nachdem er ein ganze Galerie „von russischen Menschen, wie sie einmal waren“ vorgeführt hat, viele irgendwie „unfertige“ Menschen mit ihren ins Leere laufenden Gedanken und Phantasien, andere sogar bösartige Missgestalten in Körper und Geist, sieht er sich vor die Frage gestellt: „Möchte ich eigentlich, dass diese Menschen anders werden?“ Die Antwort ist eine fast enthusiastische Liebeserklärung an die russische Nation: „ Obwohl mir Nationalismus, Patriotismus und alle anderen Krankheiten des geistigen Sehvermögens gänzlich fremd sind, halte ich das russische Volk für ein ganz besonderes, phantastisch begabtes und eigenartiges Volk. Sogar die Narren in sind Russland originell in ihrer Dummheit, und die Faulpelze sind geradezu genial.“ Damit bietet dieses Volk nach Gorkis Ansicht schon jetzt „das dankbarste Material für einen Künstler“. Wenn es aber eines Tages alle seine Qualen überstanden haben wird und „richtig an die Arbeit geht“ – „dann wird es ein märchenhaft heroisches Leben leben und wird diese müde und vor Verbrechen wahnsinnig gewordene Welt noch vieles lehren!“ Damit war Gorki in gefährlicher Nähe zu dem Gedanken seines ewigen Opponenten Dostojewskij angelangt, der in seiner Rede über Puschkin 1880 eine solche historische Mission Russlands verkündet hatte, nur dass es jetzt nicht um die Rettung der Christenheit, sondern um eine ideologische Verjüngung des altersschwachen Europa im Geist eines „sozialen Idealismus“ ging.


Der „ewige Revolutionär“ und sein Absturz

Zu dem anderen, bis heute weitgehend unbekannten Gorki gehört neben dem bedeutenden Künstler auch der „ewige Revolutionär“, der in einem Artikel der Serie „Unzeitgemäße Gedanken“ (1917/18) als der unbestechliche Kämpfer gegen Unrecht, Gewalt und Grausamkeit beschrieben wird, auch und gerade dann, wenn diese Verbrechen von Revolutionären begangen werden. Diesem Gorki sind die Einträge zum 100.Jahrestag der Revolutionen von 1917 über seine Reaktionen auf die Februar- und die Oktoberrevolution (18.10. und 3.11.2017) gewidmet. Den gefeierten Gründungsmythos der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution erlebte Gorki als „wahnwitzige, von Blut und Schmutz besudelte Tage“.
Der „unbekannte Gorki“ erscheint aber auf diesem Blog mit all seiner künstlerischen Begabung und seiner moralischen Autorität keineswegs als ein makelloser Humanist. Es trifft auch nicht zu, dass ich als Verfasser des Blogs „ein leidenschaftlicher Gorki-Freund“ sei, wie mir in einem Beitrag der Deutschen Welle zum 150. Geburtstag Gorkis bescheinigt wurde. In dem Eintrag zu diesem Jubiläum (17.07.2018) habe ich mich dazu geäußert. Gorki ist für mich kein Gegenstand der rückhaltlosen Verehrung und Gesinnungsgenossenschaft, wie er es bei vielen Gorki-Forschern im Moskauer Institut der Weltliteratur bis heute ist. Er ist für mich eher ein Gegenstand der Neugier, ein „interessanter“ Autor, um einen Lieblingsausdruck Gorkis zu benutzen. Immer wieder überraschend sind die Schwankungen zwischen dem freiheitsliebenden Künstler und dem politischen Menschen Gorki, der sich den Zwängen der Politik unterwirft. Im Eintrag „Widersprüche bei Gorki“ (3.12.2008) sind Zitate aus der Gorki-Literatur versammelt, die in dieser Zerrissenheit einen Grundzug seines Charakters erkennen. Wie war es möglich, dass Gorki den bramarbasierenden Falschspieler Satin in „Nachtasyl“ mit seiner Predigt „Mensch – das klingt stolz“ höher schätzte als den menschenfreundlichen Luka? Ebenso interessant ist die Frage, warum er mit einem rücksichtslosen Fanatiker wie Lenin eine Freundschaft und mit dem „Führer“ der Sowjetunion Stalin zumindest eine Zweckgemeinschaft unterhalten konnte. Fragen solcher Art sind in den Einträgen „Ich liebte ihn im Zorn“ – Gorki über Lenin (20.01.2011) und „Eine schwere Schuld – Gorki und Stalin“ (18.06.2006) behandelt.
Die letzten Einträge auf dem Blog drehen sich unter verschiedenen Gesichtspunkten um das Thema der Rückkehr Gorkis aus seiner relativ unabhängigen Existenz in Italien in den Schoß der Partei und in das von Stalin regierte Sowjetrussland. Von Ehrungen und Privilegien überschüttet, wurde er zu einem führenden Berater des Diktators mit der Absicht, die von Stalin verfolgte Opposition wieder in die Regierung zurückzuholen und den beginnenden Terror abzumildern. Der Preis für diese lobenswerte Absicht war der Verrat an den moralischen Prinzipien der Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe, die bei allen Schwankungen sein Leben bestimmt hatten. Mit dem erklärten Programm, allein die „Errungenschaften“ des neuen Staates zu propagieren und Kritik an den unmenschlichen Maßnahmen des Regimes auszublenden, stabilisierte er das System, das er verändern wollte, und wurde zum Komplizen Stalins und des Geheimdienstchefs Jagoda. Als Beleg für diesen moralischen und künstlerischen Absturz des Schriftstellers sind zwei Propagandaschriften Gorkis behandelt: „Durch die Union der Sowjets“ und „Gorkis Besuch im Lager Solowki – ein politisches und literarisches Desaster“ (beide am 19.04.2019). In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage nach dem Nobelpreis für Literatur, den Gorki trotz mehrfacher Nominierung nicht erhalten hat. Gutachten der Kommission im Jahr 1928 bewerteten ihn als unzweifelhaft preiswürdig, aber es schien der Weltöffentlichkeit nicht zumutbar, einen Schriftsteller mit der Autorität eines Nobelpreisträgers auszustatten, der im Begriff war, ein Teil des Propagandaapparats Stalins zu werden – eine unter den gegebenen Umständen richtige Entscheidung. Näheres dazu in „Gorki und der Nobelpreis“ (17.07.2015).

(Im nächsten Eintrag der zweite Teil der Übersicht: „Gorki im postsowjetischen Russland (2006-2019)")

Kategorie: Streit um Gorki

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