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Gorkis "Wanderungen durch Russland" - Russische Abende (I)

Freitag, 17. Oktober 2008, 12:54:40

Gorkis

Maxim Gorki, 1898

Aus dem Zyklus «Wanderungen durch Russland»
Russische Abende (I)
(Die russischsprachige Version dieses Eintrags finden Sie hier)

«EIN ABEND BEI SCHAMOW»

Der junge Gorki zu Gast bei «russischen Menschen der besonderen Art» – so kann man das gemeinsame Thema der drei Erzählungen zusammenfassen, die hier unter dem Titel «Russische Abende» vorgestellt werden: «Abend bei Schamow», «Abend bei Panaschkin» und «Abend bei Suchomjatkin». Sie wurden zuerst 1916 in der Zeitung «Kievskaja mysl'» gedruckt. Wie der ganze Zyklus «Wanderungen durch Russland» basieren diese Erzählungen auf Erinnerungen des Autors an Erlebnise Ende der 1880-er, Anfang der 1890-er Jahre. In der Rückschau auf die eigene Jugend unternimmt der Autor einen gewissermaßen ethnographischen Streifzug durch die damalige russische Gesellschaft, ihre nationalen und soziologischen Absonderlichkeiten. Zugleich erfahren wir viel über die Persönlichkeit des jungen Peschkow, über die Einsamkeit des «Wanderers» unter all diesen Menschen, die als Originale sein lebhaftes Interesse wecken, zugleich aber Enttäuschung bei ihm auslösen angesichts ihrer unsinnigen und «nutzlosen» Lebensweise. In «Ein Abend bei Panaschkin» sind es die Vertreter der Intelligenz in einer Provinzstadt (Nizhni Novgorod), deren genüsslichem Geplauder der junge Mann «mit Andacht» lauscht, wie in einem Gottesdienst; ihnen folgen in «Ein Abend bei Panaschkin» russische Sonderlinge (chudaki) der ungebildeten Schichten mit ihren von «seltsamem Unsinn» strotzenden Erzählungen; in «Ein Abend bei Suchomjatkin» lernen wir zwei halbverrückte Kaufleute kennen, die regelmäßig ein Fest veranstalten, das sie stolz «Vergnügung in drei Etagen» nennen.
Schon zur Zeit der Niederschrift dieser Erzählungen, die überschattet war vom Weltkrieg und den Ahnungen einer neuen russischen Revolution (nach der gescheiterten von 1905), wollte Gorki diese fast schon vergessene Welt durch Erinnerung wiederbeleben, um sie nach der Zukunft Russlands zu befragen. Ein ähnliches Verlangen nach einer Bestandsaufnahme der nationalen Kultur besteht auch im postsowjetischen Russland. Welche Erkenntnisse diese Erzählungen über «Russland und die Russen» heute noch vermitteln können, mag jeder Leser selbst entscheiden. Ein gemeinsamer Eindruck ist sicherlich dieser: wir betreten hier ein seltsam versunkenes, in vielem aber doch bekanntes – unverkennbar «russisches» - Land. Von diesem Land auf eine ganz eigene Art zu erzählen, war das große Talent des Schriftstellers Maxim Gorki.
Die Texte werden in längeren Auszügen und Zusammenfassungen präsentiert
(Texte der deutschen Übersetzung nach der Ausgabe: Maxim Gorki: Wanderungen durch Russland. Erzählungen, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1979.)

An den Sonnabenden versammeln sich bei Maxim Iljitsch Schamow die ersten Leute der Stadt und allerlei «interessante Burschen» – ich zähle zu den letzteren und bin bei ihm deshalb ebenfalls ein gern gesehener Gast.
Diese Abend sind für mich wie für den Gläubigen eine Abendandacht. Die Menschen, die sie begehen, sind mir in vielem fremd; mein Verhältnis zu ihnen ist quälend unklar: Einerseits gefallen sie mir und entzücken mich, andererseits – ärgern sie mich; manchmal möchte ich ihnen herzliche Worte sagen, doch eine Stunde später schon packt mich der unüberwindliche Wunsch, zu diesen schönen Damen und freundlichen Kavalieren grob zu werden.
Aber immer nehme ich die Gedanken und Worte dieser Leute mit großer Achtung auf, ihre Unterhaltung ist für mich wie eine Andacht
Ich bin einundzwanzig Jahre. Ich fühle mich unbehaglich und unsicher auf der Welt. Ich komme mir vor wie ein ungeschickt mit allerlei Gerümpel überladener Bauernwagen; eine unbekannte Macht zieht mich auf unbekannten Wegen fort, und mir ist, als müßte ich an der nächsten Straßenbiegung umkippen.
Ich plage mich viel und hartnäckig mit mir selber herum und bin bemüht, mich möglichst gut zwischen den albernen und ärgerlichen Widersprüchen zu behaupten, die mich von allen Seiten umgeben und quälen und häufig genug in einen krankhaften Zustand versetzen, der an Tobsucht grenzt. Vor anderthalb Jahren war ich dieser Plackerei so überdrüssig, daß ich meinem Leben ein Ende zu machen versuchte. Ich jagte mir aus einem schauderhaften und klobigen Tulaer Revolver eine Kugel in die Brust – mit solchen Revolvern waren einst die Regimentstrommler bewaffnet. Dieser dumme und unsaubere Streich rief in mir das Gefühlt eines gewissen Mißtrauens und beinahe der Verachtung gegen mich selbst hervor.
Ich lebe zur Zeit im Garten bei einem ständig betrunkenen Popen, in einer Hütte, die am Rande einer schmutzigen Schlucht steht. Diese Hütte ist früher einmal ein Badehaus gewesen. In den beiden niedrigen Stuben riecht es nach Seife und faulen Badequasten – ein Modergeruch, der einem das Blut vergiftet. Die Zimmerdecken frieren bis nach innen durch. Diese Behausung ist selbst für Mäuse zu kalt und zu schlecht – sie kommen nachts zu mir aufs Bett geklettert.
Rings um das Badehaus wuchert dichtes Himbeergestrüpp, bei Unwetter pochen seine zähen Gerten an die Fenster und kratzen an den schwarzen schiefen Balken der Wände. Ich lebe ärmlich und roh, lebe in unklaren Träumen von einem anderen, schöneren und leichteren Leben, von ritterlicher Liebe, von hohen, aufopfernden Taten. Ich lasse ungeschickte Erzählungen in der kümmerlichen Ortszeitung erscheinen und bin überzeugt, daß man sie nicht drucken sollte und daß ich mit ihnen nur die Literatur beleidige, die ich leidenschaftlich liebe wie ein Weib. Aber ich lasse sie drucken. Man muß ja zu essen haben.
In Schamows Salon vergesse ich das alles; ich sitze irgendwo in einer Ecke im Schatten und höre begierig zu – ein einziges großes, empfindliches Ohr. Hier ist alles, von den Möbeln bis zu den Menschen, auf eine besondere Art interessant und sprechend und strahlt im freundlichen Sonnenlicht starker Lampen mit orangefarbenen Schirmen.
Von den Wänden, die warm und hell wirken, sehen mich die Augen von Herzen und Belinskij an, ich blicke in das übermenschliche Gesicht Beethovens, und ein bronzener Voltaire lächelt mir spitzbübisch zu; doch bemerkenswerter, lieber als alle anderen erscheint mir das Kinderköpfchen der Sixtinischen Madonna. In einer Ecke erhebt sich hinter einer Palme eine Venus, als schwebe sie in der Luft. Überall eine Menge von nutzlosen Dingen, die in diesem großen behaglichen Raum jedoch alle unentbehrlich wirken; jedes ist wie ein Wort in einem Lied. Die Vorhänge an Fenstern und Türen sind von Parfümgeruch und dem Geruch guten Tabaks durchdrungen. Hier und da blinkt, an eine Kirche erinnnernd, das Gold der Bilderrahmen, und alle diese Menschen, bescheiden in ihrer dunklen Kleidung, sind wie Sektierer in einem geheimen Betraum.
Sie sprechen leise und gewandt, als ob sie Schlittschuh liefen, und werfen launig verzwickte Wortornamente hin. Lauter und sicherer als alle anderen Stimmen klingt der Bariton des Rechtsanwalts Ljachow – er ist ein hochgewachsener schlanker Mann und trägt ein Spitzbärtchen, was sein blasses Gesicht mit den hellen Augen unnötig in die Länge zieht. Man behauptet, daß er ein großer Wüstling sei. Ich glaube es gern; er sieht die Frauen an, als ob er ihr Herr wäre, als ob jede sein Stubenmädchen gewesen sei oder es noch werden würde.


Als alle versammelt sind, teilen sich die Gäste zuerst einmal die neuesten Klatschgeschichten über die städtischen Würdenträger mit, dann kommt das Gespräch auf die Literatur. Jemand erwähnt Anton Tschechows «Langweilige Geschichte».

Assejew, der sich eine Zigarette ansteckt, sagt leise: «Die Geschichte – das sind doch wir, die Menschen.»
Sein Gesicht ist wie bei allen Buckligen unregelmäßig und unschön, im Profil wirkt er sogar böse. Doch die wunderbaren Augen machen die Mißbildungen des Körpers vergessen – aus diesen Augen spricht so unendlich viel sehnsuchtsvolle Aufmerksamkeit für den andern.
«Ein sonderbares Werk!» ruft Schamow heiser, ein fröhlicher Junggeselle, wohlgenährt und rundlich, mit einem Mongolengesicht und winzigen, gierig blickenden Augen, die sich tief zwischen fleischigen Hautsäcken verbergen. «Können Sie sich anstelle des Tschechowschen Professors einen Pirogov, Botkin oder Setschenow vorstellen?»
Er wölbt den Bauch vor und wirft siegesgewiss die kleine weiche Frauenhand hoch, ein Smaragd blitzt an seinem Finger. Er ist davon überzeugt, daß er stets etwas Unwiderlegbares sagt, das den Gegner niederschmettert. Sie unterhalten sich, als ob sie Geflügel rupften. Schnell sind sie erst mit Tschechow, dann mit Bourget fertig, und nun machen sie sich über Tolstoi her.
«Alle diese 'Langweiligen Geschichten' unserer modernen Schriftsteller sind durch 'Iwan Iljitschs Tod' angeregt worden...»
«Sehr richtig!»
«Tolstoi hat als erster das persönliche Dasein über das Dasein der Welt gestellt.»
«Das ist übertrieben – den Individualismus hat bereits Kant begründet!»
«Auch bei Herzen begegnet man einer Stimmung, die Tolstois 'Arsamaser Grauen' sehr ähnlich ist...»
«Resignation?»
Der Streit wird lebhaft und erinnert an ein Kartenspiel. Assejew hat mehr Trümpfe in der Hand als alle anderen.


Die Unterhaltung setzt sich einige Zeit in der Tonlage des leichten Spiels fort, doch dann ändert sich plötzlich die Stimmung. Jemand schlägt vor, das lyrische Drama „Drei Tode“ von Apollon Majkov vorzutragen, und sogleich beginnt, offensichtlich nicht zum ersten Mal in dieser Gesellschaft, so etwas wie eine spontane Aufführung des Dramas; jeder kennt seine Rolle und seinen Text.

„Achtung!“ befiehlt die Loktjewa. Die weichen Hände auf den Rand des Tisches gestützt, lächelt Schamow mit einem sonderbaren Lächeln, und lässig klingt in der Stille seine satte Stimme:
„Der Weise – anders als der Narr –
Ist gründlich, wenn er denkt, und klar...“

Ich bin erstaunt. Dieser schlaffe, immer und überall nur vermittelnde Mensch, ölig und ärgerlich selbstzufrieden, ist mir sonst gründlich unsympathisch. Aber in diesem Augenblick wirkt sein rundes Kalmükengesicht von dem Abglanz der heiligen Ironie merkwürdig veredelt; die Worte der Dichtung verwandeln seine zähe und süßliche Stimme, er sieht sich nicht mehr ähnlich. Oder - ist vielleicht erst jetzt er selbst geworden?

„Scherz ist im Tode nicht am Platze!“

sagt Speschnjow zornig und wirft die zerwühlten Haare zurück.
Assejews wunderbare Augen sind nachdenklich zusammengekniffen. Alle hören dem Vortrag ernst und aufmerksam zu, nur die Loktjewa lächelt wie eine Mutter, die dem Spiel ihrer Kinder gefesselt zusieht. Durch die Stille, die ab und zu vom Rauschen der Seidenröcke unterbrochen wird, tönen herrisch des Luzius-Schamow Worte:
„Da glaube einer noch den Dichtern!
Der Dichter ist wie eine Glocke,
Die jeder, der vorübergeht,
Erklingen lassen kann am Pflocke,
Ob Tod, ob Leben er erfleht!“

„So laßt den Streit!“

ruft Assejew und hebt die durchscheinende Hand gegen das Licht.
[...]
Alle diese Worte fallen mir wie feurige Kohlen auf die Seele. Auch ich will Verse schreiben und – werde sie schreiben!
Jetzt sind mir diese Menschen wunderbar nahe und anziehender als je zuvor. Mich rührt die versonnene Entrücktheit der einen, die hingegebenen Aufmerksamkeit der anderen, mir gefallen die finsteren Gesichter, das traurige Lächeln und die Teilnahme, mit der sie dem Gedankengang der sinnreichen Dichtung folgen. Ich bin fest überzeugt, daß sie, nachdem sie eine so tiefe geistige Erschütterung erlebt haben, morgen alle nicht mehr in der Lage sein werden, das gleiche Leben fortzuführen wie bisher.


Die Hoffnung Peschkovs erfüllt sich nicht. Gleich nach dem Ende der Lesung kehrt die Gesellschaft in ihren Alltagszustand zurück, jetzt sind die Freuden der reich gedeckten Tafel angesagt. Es wird laut und fröhlich. Die Kunst scheint vergessen. Peschkow geht unbemerkt fort. Auf dem Heimweg fühlt er sich zutiefst unglücklich: „Etwas war mit mir geschehen, - solch ein Schmerz presst mir das Herz zusammen, solch ein Schmerz...“

„Ein Abend bei Schamow“ – das ist das auf einen Moment konzentrierte Symbol der lebenslangen unglücklichen Liebe des Schriftstellers Gorki zur Welt der Intelligenz, die eine beständige Quelle seiner hochgespannten Hoffnungen und tiefen Enttäuschungen war. Die Erzählung ist zugleich eine Studie über die erhebende, veredelnde Wirkung der Kunst auf den Menschen. Kunst kann den Menschen zum Guten verändern, aber nur für einen Augenblick. Auf einer dritten Ebene bietet die Erzählung ein Porträt der russischen Intelligenzija, sie zeigt die enorme Spannweite zwischen der Banalität ihres bürgerlichen Alltagslebens – Tschechows Thema der „poshlost‘“ – und ihrem Potential zu künstlerischen - und utopischen! – Höhenfllügen. Gorkis ambivalente Einstellung zur Intelligenzija hat vor allem in seinem letzten Roman „Das Leben des Klim Samgin“ ihren Niederschlag gefunden. Es ist der Versuch einer „Selbstreinigung“ von den – wie er in den 30er Jahren dachte – „schädlichen“ Einflüssen dieses Milieus.

Kategorie: Russland und die Russen

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