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Russland am Jahresende 2008

Dienstag, 30. Dezember 2008, 14:57:17

Wie sich die Zeiten ändern! Vor einem Jahr bewegte die russischen Medien vor allem ein Thema: der «Nachfolger» (prejemnik). Namen zu nennen war fast überflüssig, es ging natürlich um Dmitrij Medvedev, den Nachfolger des Präsidenten Putin. Die öffentliche Vorstellung des Kandidaten – eigentlich mehr eine Ernennung – wurde mit deutlicher Erleichterung aufgenommen, sie machte der Ungewissheit ein Ende. Auch ohne Verfassungsänderung wird es so etwas wie eine dritte Amtszeit Vladimir Putins geben, Russland muss nicht ohne ihn in eine ungewisse Zukunft aufbrechen. Das seelische Gleichgewicht des russländischen Volks war wiederhergestellt. Und heute? Das Nachfolgeproblem ist eigentlich keines mehr, in den Umfragen zu den «Top-100» der Elite in Russland rangiert Putin wie im Vorjahr auf Platz 1, gefolgt von Dmitrij Medvedev, den der alte Präsident von Platz 5 auf den zweiten nachgezogen hat. (Nur zur Ergänzung: auf den Plätzen drei und vier folgen die Popsängerin Alla Pugatschowa und der Führer der Liberaldemokraten und Politclown Vladimir Zhirinovskij; weitere Daten siehe in dem «Rejting elitnosti» der Zeitung «Kommersant» vom 26.12.2008, www.kommersant.ru).

Das Nachfolgeproblem ist also schmerzlos und systemverträglich gelöst worden, aber an seine Stelle sind Probleme einer ganz anderen Größenordnung getreten. Im August führte Russland einen Krieg gegen Georgien, einen ehemaligen Staat der Sowjetunion, um die Vorherrschaft in Südossetien und Abchasien. Die USA und die Europäische Union sahen sich einem Russland gegenüber, dass auf diesem Wege die Rechte einer Supermacht für sich beansprucht bzw. zurückholen will. Das hatte für Russland außenpolitische Schwierigkeiten zur Folge. Aber noch weit heftiger wurde das Land von der internationalen Finanzkrise betroffen. Im Vorjahr waren die Wirtschaftsprognosen in den russischen Medien, gestützt auf den steigenden Ölpreis und die gewaltigen Ressourcen des Landes, durchweg positiv gewesen. Liberale Kommentatoren äußerten sogar die Befürchtung, der steigende Lebensstandard könne die Lust der Bürger auf demokratische Veränderungen dämpfen. Heute breiten sich in Russland, wie überall in der Welt, Unruhe und Angst vor den Folgen der Krise aus. «Vor uns liegt eine Industriekatastrophe, die in ihren Maßstäben die Krise der Jahre 1998-1999 übertriffft», erklärt die Zeitung «Kommersant». Die «Gazeta» veröffentlicht eine Liste von ca. 300 überregionalen und ca. 1500 regionalen Unternehmen, die zusammen etwa 85% des Brutoinlandssprodukts ausmachen und alle von Konkurs bedroht sind. Eine Welle der Arbeitslosigkeit könnte hier in Gang kommen.

Politologen erörtern die Risiken heftiger sozialer Unruhen in absehbarer Zeit. Vladimir Gel'man von der St. Petersburger Europa-Universität sieht die gegenwärtige Macht auf solche Szenarien schlecht vorbereitet. In einer Analyse «Das Regime und die Bürger unter den Bedingungen der Krise» (Polit.ru, 24.12.2008) erörtert er die möglichen Reaktionen der Bürger - Loylität , passiver Rückzug, Protest – und die möglichen Gegenmaßnahmen der Staatsmacht: verstärkte Repression oder politische Reformen. Die gefährlichste Variante wäre ein von oben organisierter «Protest», der den Volkszorn gegen angebliche Verursacher der Krise lenkt, soziale Gruppen wie «Oligarchen» oder ethnische Minderheiten. In jedem Fall werden die zu erwartenden Veränderungen reichlich Anlässe bieten, um die Gemüter in heftige Bewegung zu versetzen. Wieder einmal werden Rufe nach dem starken Staat, Empörung über das nähere und das fernere Ausland, Xenophobie und nationale Selbstverklärung mit Hilfe der «russischen Idee» die öffentlichen Debatten beherrschen. Einen Vorgeschmack auf diese neue Welle des russischen Nationalismus lieferten die Reaktionen auf den Georgien-Krieg. Der Soziologe Aleksej Levinson vom Lewada-Analyse-Zentrum in Moskau berichtet in einem Interview mit der taz (18./19.10.) über die verbreitete Auffassung von einem bevorstehenden «Krieg», dem die Bürger Russlands sogar «mit Freude» entgegensehen. Es werde um eine Kette militärischer Auseinandersetzungen gehen, die vor allem dazu dienen, die Position Russlands gegenüber den USA zu stärken.

Die Rolle der Opposition, vertreten durch eine Minderheit von «Nichteinverstandenen» (Nesoglasnye), scheint vorläufig weiter marginalisiert, gleichgültig, ob sie «Märsche» oder – wie für die Zukunft angekündigt – «Tage der Nichteinverstandenen» veranstaltet. Die Intelligenzija , traditionell als «Hirn der Nation» zur Führung politischer Debatten berufen, steht als politische Kraft nicht mehr zur Verfügung. Ihre Vertreter sind zu großen Teilen eingebunden in die Machtstrukturen oder haben sich ganz aus der Politik zurückgezogen. Die Intellektuellen in den alternativen Medien, die vorwiegend im Internet weiterbestehen, zeichnen in ihren Kommentaren oft ein kompromisslos schwarzes Bild der herrschenden Verhältnisse, in dem Resignation und Verzweiflung zum Ausdruck kommen. In dem Beitrag «Die Gesetze der Lüge» in «Ezhednevnyj zhurnal» (16.12.08) erklärt Julija Latynina: «Wenn man mich aufforderte, das Hauptkennzeichen des heutigen Russlands zu benennen, so würde ich sagen: es ist die Lüge. Eben die Lüge, nicht das Blut. Im stalinschen Russland war das Hauptkennzeichen Blut. Und die stalinsche Lüge gründete sich auf Blut. Bei uns gründet sie sich auf den Fernseher.» Im gleichen Ton erklärt Tat'jana Shcherbina in dem Kommentar «Am Vorabend» (Polit.ru, 25.12.08) ihre tiefe Enttäuschung über den Verlauf des «neuen Jahrhunderts», das mit dem Millennium so verheißungsvoll begonnen hatte. Kennzeichnend für die Gegenwart erscheint ihr vor allem das Vergessen der Vergangenheit als historische Realität und ihre Ersetzung durch mythische Verklärungen. Stalin ist «als erfolgreicher Führer und effektiver Manager, als Logo und Markenzeichen Russlands aus der Hölle auferstanden». Junge Internet-Benutzer, geboren unter Gorbatschow und Jelzin, schreiben über «ein Land, das wir verloren haben»: heute sorgen sich alle um Wohnungen, Vermögen und Arbeit, in der UdSSR lebte man ohne Geld, dafür war «alles geistig, groß und mächtig».

Autoren wie Latynina und Shcherbina rechnen sich der «alten» Intelligenzija zu, sie erleben die Gegenwart vor allem als eine Kulturkrise. Kennzeichnend für diese Krise ist das erbärmliche Niveau des staatlichen Fernsehens und der Verfall der Bücherkultur, aus der die «große Literatur» weitgehend verschwunden ist. Der Beobachter von außen, den ich hier vertrete, muss solche katastrophalen Befunde als ein Zeugnis für die Befindlichkeit großer Teile der heutigen gebildeten Gesellschaft in Russland akzeptieren, auch wenn er eine teilweise andere Wahrnehmung hat. Verglichen mit dem geistigen Leben der sowjetischen Periode, das ich viele Jahre aus der Nähe studieren konnte, erscheint das heutige Russland als ein Reich der Freiheit und einer lebendigen, vielfältigen Kultur. Die Vorstellung von einer weitgehend einheitlichen Kultur, wie es z.B. die der «Sechziger» (shestidesjatniki) war, gibt es nicht mehr, aber das ist vielleicht nur der notwendige Abschied von einer Illusion. Es bleibt dennoch ein unbestreitbares Faktum: eine große Zahl von Vertretern des Geisteslebens ist im heutigen Russland zutiefst unglücklich.

Zu den weniger pessimistischen Befunden der heutigen Kultur in Russland gehört das Thema, dem diese Internetseite gewidmet ist: die Wiederentdeckung des Schriftstellers Maxim Gorki. Dieser Autor kann, ungeachtet seiner Rolle als sowjetischer «Würdenträger», den Zweifelnden und Verzweifelten Trost und Ermunterung bieten. Zum Beleg dafür möchte ich den Verfasser einer Monographie zu Wort kommen lassen, die in diesem Jahr aus Anlass des 140. Geburtstags des Schriftstellers erschienen ist: Dmitrij Bykov: War denn Gorki da? (Da byl li Gor'kij?). Dieser «biographische Essay» (ocherk), bildete die Grundlage für eine Fernsehproduktion, die im April vom «Fünften Kanal» in St. Petersburg ausgestrahlt wurde. In den letzten Jahren ist eine Reihe interessanter Arbeiten über Gorki veröffentlicht worden, zu nennen ist vor allem die Biographie des Schriftstellers von Pavel Basinskij, die 2005 in der von Gorki gegründeten Serie «Leben bedeutender Menschen» (Zhizn' zamechatel'nykh ljudej) erschienen ist (2008 in neuer Aufmachung in dem Petersburger Verlag «Vita Nova»). Basinskij hat Gorki einem breiten Publikum erstmals als einen «interessanten» Schriftsteller präsentiert, der mit der sowjetischen Ikone Gorki wenig zu tun hat. Die Besonderheit des Buchs von Bykov besteht vor allem darin, dass der Autor diesen interessanten Schriftsteler und sein Werk als eine besonders zeitgemäße, auf die heutige kulturelle Situation in Russland passende Erscheinung vorstellt, die gewissermaßen einen Wegweiser aus der Krise bietet. Der im Deutschen etwas merkwürdig klingende Titel "War denn Gorki da?" nimmt eine leitmotivische Formel aus Gorkis Roman «Das Leben des Klim Samgin» auf: "War denn ein Junge da?" Sie hat mit einer biographischen Episode aus der Kindheit des Helden zu tun und kennzeichnet sein Bemühen, unangenehme Erinnerungen wie die an einen durch seine Mitschuld ertrunkenen Jungen zu verdrängen. Einem solchen Verdrängungsprozess sieht Bykov auch den Schriftsteller Gorki ausgesetzt. Leser und Kritik tun so, als habe es ihn nie gegeben, weil sie seinen «Traum» aus der Welt schaffen wollen: die Schaffung eines «neuen Typs des Menschen, der Kraft und Kultur, Humanität und Entschlossenheit, Willenskraft und Mitgefühl in sich vereinigt». Bykov geht wie die zuvor zitierten Autoren von der Vorstellung einer Kulturkrise im heutigen Russland aus, hervorgerufen durch die Orientierungslosigkeit der postsowjetischen Gesellschaft und die Enthumanisierung einer auf die Werte des Marktes und des Konsums reduzierten Lebensweise. Im Zuge dieser Entwicklung ist es nach Ansicht des Verfassers zu einem kulturellen Stillstand gekommen, die «Revolution» ist durch «Entropie», Bewegung durch «Stabilität» und Stagnation ersetzt worden. «Im heutigen Zustand der einschläfernden Ratlosigkeit und allgemeinen Lethargie ist es sinnvoll, sich den letzten Fragen, den Primärquellen, den sozialen Utopien und Antiutopien zuzuwenden», erklärt der Verfasser. Die «Stabilität des Öls» (eine heute nicht mehr ganz zutreffende Metapher) führe zur Barbarei, zurück zu den Instinkten der Höhlenmenschen. Ohne den Traum von der Vervollkommnung des Menschen könne die Menschheit nicht bestehen. Wie in Gorkis «Lied vom Falken» müsse der Einzelne auch heute den Mut zum Fliegen aufbringen, das Risiko des Absturzes dem gemütlichen Dasein der Natter in ihrer warmen Felsspalte vorziehen.«Eben deshalb lohnt es heute, an einem weiteren Wendepunkt des russischen historischen Wegs, diesen seltsamen, widersprüchlichen und starken Schriftsteller zu lesen und wieder zu lesen.» Ja, so lautet das Fazit, Gorki war da, und es gibt ihn immer noch.

Im Pathos des «Lieds vom Falken» werden wohl nicht viele Zeitgenossen ihre eigene Befindlichkeit ausgedrückt finden. Aber es gibt auch andere, eher nüchterne Überzeugungen des Schriftstellers, die einem Zeitgenossen in Russland und anderswo Orientierung bieten können, darunter Gorkis entschiedene Kritik an nationaler Überheblichkeit und Xenophobie, an der politischen Rolle der orthodoxen Kirche und – ganz allgemein – an der menschlichen Dummheit und Gemeinheit. (Eine ausführlichere Besprechung des Buchs von Bykov erscheint demnächst auf diesem Blog.)


Allen Besuchern des Blogs «Der unbekannte Gorki» wünsche ich ein erfolgreiches, gesundes und von den Wechselfällen der Krise möglichst wenig betroffenes Neues Jahr 2009.

Kategorie: Russland und die Russen

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