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Gorkis "Wanderungen durch Russland - Russische Abende (II)

Dienstag, 13. Januar 2009, 17:46:08

Aus dem Zyklus "Wanderungen durch Russland"
Russische Abende (II)
In russischer Sprache finden Sie diesen Eintrag hier.

EIN ABEND BEI PANASCHKIN

An den Sonnabenden ist der Erzähler, der junge Gorki-Peschkow, zu Gast im Salon des Advokaten Maxim Schamow und labt sich «an schmackhafter geistiger Nahrung», hört mit Andacht den Gesprächen der Gebildeten zu (Russische Abende (I)). An den Sonntagen dagegen lauscht er mit nicht minderem Interesse den absonderlichen Reden seiner Bekannten aus den unteren Schichten, genauer aus der psychologischen Klasse der «Sonderlinge» (chudaki). «Ich interessierte mich damals sehr für die sanften, viel und nutzlos grübelnden russischen Menschen – es gefiel mir, daß sie mit dem Leben auf Kriegsfuß standen.» Der geistigen Tätigkeit dieser Menschen, ihren «dummen Gedanken» und «verschiedenen Weisheiten» ist die zweite Erzählung der «Russischen Abende» gewidmet.
Der Titelheld Dmitrij Pawlowitsch Panaschkin genießt die besondere Sympathie des Erzählers. Er handelt auf dem Markt mit allem möglichen Plunder und leidet an Tuberkulose, überhaupt ist er eine «sehr kümmerliche Figur»; nichtsdestoweniger ist er zufrieden mit seinem Leben, lacht gern und liebt es, mit Menschen umzugehen, zu «philosphieren». Panaschkin erzählt Peschkow sein Leben. Er hat erfolglos verschiedene Berufe ausprobiert, dann hat er, mit zwanzig Jahren, beschlossen, Mönch zu werden. Im Kloster hat er sich in eine Novizin verliebt, hat sie entführt und ist mit ihr in die Heimatstadt zurückgekehrt. Nach fünfjähriger ungesetzlicher Ehe ist sie gestorben. Obwohl sie hässlich und zwölf Jahre älter war als er, hat Panaschkin diese Frau grenzenlos geliebt und spricht von ihr wie von einer Heiligen. Die Frau hat ihm eine Tochter hinterlassen, und die Sorge um sie hatte ihn zu neuen Versuchen genötigt «etwas anzufangen», wieder ohne Erfolg.
Panaschkin ist der ewige Verlierer, weil er zuviel «denkt»; er kann sich nicht auf eine Sache konzentrieren, sein Verstand ist immer mit etwas anderem beschäftigt: «Plötzlich fange ich an, über ich weiß nicht was nachzudenken, und dann höre und sehe ich nichts mehr.» Worin besteht der Sinn dieser seltsamen Arbeit des Gehirns? Der Leser bemerkt bald, dass diese Suche nach dem Sinn des Lebens nicht zu ernsthaften Resultaten führen wird, dass es eher um ein Spiel mit der Sinnsuche geht. «Philosophieren» – das ist für Menschen dieses Typs eher ein Akt des Redens, der möglichst originellen sprachlichen Formulierung von ebenso originellen, absonderlichen Gedanken. Und es stört sie nicht, wenn die auf solche Weise produzierten Thesen nicht mehr als Gemeinplätze sind: «Jeder Mensch, wer immer er sei», erklärt Panaschkin, «muss essen, - das ist die ganze Wahrheit.» Eine der Quellen für die Weisheiten ist das Werk des Romanciers Alexandre Dumas des Älteren, für Panaschkin der «größte Geist». – Doch hören wir seinen Selbsterklärungen zu:

«Und was sind das für Grübeleien?»
«Ja, weißt du... lauter Kleinigkeiten, im allgemeinen», erwiderte er, während er ins Feuer blickte. «Ich denke mir zum Beispiel: Wird morgen wieder nichts geschehen, wird alles bleiben, wie es war? Dumme Gedanken. Worauf wartet man eigentlich? Zum Bischof wird mich niemand ernennen! So drehe ich mich denn wie behext oder verdammt mein ganzes Leben lang im Kreise. Ich habe alles probiert, habe sogar wegen Hehlerei vor Gericht gestanden und ein halbes Jahr im Gefängnis gesessen. Wurde aber freigesprochen. Einmal hat man mich aus der Kneipe heraus wegen freier Redeweise für zweiundneunzig Tage in Haft genommen. Der Gendarm fragte mich: «Panaschkin, hast du die bewußten Worte gesagt?» Ich meinerseits hatte längst alles vergessen. «Euer Hochwohlgeboren», sagte ich, «entschuldigen sie die Freiheit, aber ist es nicht zu verstehen, wenn ich bei meinem verworrenen Leben einmal was sage?» Und ich erzählte ihm mein ganzes Leben. Er war ein gutherziger Mann und sah es ein: «Ja», sagte er, «Ihr Leben ist wirklich freudlos. Betrachten Sie sich als frei.» «Danke vielmals», erwiderte ich, «aber ein Hund, der an der Kette liegt, ist eher frei als ich, weil er weiß, wo er hingehört.» «Was kann man machen?», sagte er, «so ist das Leben!» «So ist es», sagte ich, «unser Leben dient nur dazu, die Erde mit unserm Unglück zu schmücken!» Er lachte.
Während Panaschkin erzählte, stolperte er häufig über seine eigenen Worte und hielt zwei, drei Sekunden mit geschlossenen Augen inne. Ich glaube, daß er vieles, was er erlebt hat, verheimlichte, wie man eine häßliche Krankheit verheimlicht. Ich bemerkte jedenfalls, daß er von angenehmen Dingen wortreich berichtete, während er über das Schlechte und Bedrückende schnell hinwegzukommen suchte. Das gefiel mir sehr an ihm.
«Was haben Sie eigentlich gesucht?», fragte ich.
Er warf mir durch den leichten blauen Rauch, der vom Feuer aufstieg, einen verwunderten Blick zu.
«Gesucht? Was alle suchen: Versorgtsein, Ruhe... Zugehörigkeit zu irgend etwas. Der Mensch muss irgendwohin gehören. Solange Kapotschka lebte, das heißt meine Frau, fühlte ich mich zu ihr gehörig, aber nach ihrem Tode hat sich nie mehr etwas gefunden. Gewiß, die Vögel am Himmel, sie säen nicht und ernten nicht, aber sie können ja auch fliegen, und ihr Federkleid reicht fürs ganze Leben, Stiefel brauchen sie nicht...»



Gegen Ende der Erzählung fragt Peschkow seinen Freund, wovon er träume, und die Antwort überrascht ihn: «Wenn ich drei Fünfzehnkopekenstücke hätte, würde ich ins Wirtshaus gehen und mir eine Fisch-Soljanka bestellen, so richtig in der Pfanne, mit Pfeffer und Zwiebeln, und vielleicht noch ein Bierchen dazu, das wäre was!»
Die dreißigjährige Tochter Panaschkins hat größere Ansprüche an das Leben, auch sie hat den ganzen Dumas gelesen und träumt von einer romantischen Liebe mit einem Offizier, aber da sie nicht hübsch und auch in ihrem Verhalten nicht gerade anziehend ist, wird daraus nichts werden. Ihren Körper benutzt der Krämer Brundukov, «aus Langeweile, oder vielleicht aus Mitleid mit dem hässlichen Mädchen». Brundukov selbst ist der Rivale Panaschkins auf dem Feld der «Philosophie». Abends versammeln sich die Bewohner der Vorstadt vor seinem Laden, um «die Weisheit Brundukovs» zu hören. Unter ihnen ist der Dieb und Herumtreiber Rowjagin, ein gutmütiger Bursche, den alle gern haben.

«In Amerika», erzählt Brundukov, «gibt es für vielbeschäftigte Leute sogar eine besondere Maschine, die ihnen das Essen vorkaut! Dort wird so viel gearbeitet, daß selbst zum Essen keine Zeit bleibt; man legt allerlei Nahrungsmittel in die Maschine, und sie kaut sie durch.»
«Teufel auch!» staunt Rowjagin, während er eine stutzerhafte Pfeife raucht.
«Von der Maschine führen nämlich Gummischläuche nach allen Seiten, man braucht nur einen Schlauch in den Mund zu nehmen und ein bißchen daran zu saugen, und fertig ist man, man ist satt!»
Das Publikum lacht. Ob sie es glauben? Es scheint, ja. Nur Rowjagin fragt: «Das kann doch gar nicht schmecken?»
«Darauf gibt man dortzulande nichts. Die Köche bekommen ihre zehntausend pro Jahr! Werden vom Staat bezahlt.»
Panaschkin sagt halblaut zu mir: «Widerleg du ihn doch, tu mir den Gefallen.!
Doch der Krämer fährt fort, als läse er aus einem unsichtbaren Buch vor.
«Der amerikanische Gelehrte Foucault hat sogar das Gewicht der Erde festgestellt. Zweiunddreißig Millionen Pud hat sie gewogen! Er ließ einen Luftballon von riesiger Größe aufblasen, legte Ketten um die ganze Erde und zog sie hoch, daß sie schaukelte wie ein Pendel...»
Eine Dampfersirene erstickt des Weisen Stimme, während ich immer wieder an die Abende bei Schamow zurückdenken muß. Dort spielen die Menschen mit ihren Kenntnissen wie geschickte Kinder mit Bällen. Ihre Wahrheiten sind schön – wohlgerundet und klar, frei von der schauerlichen Brundukovschen Phantasien in der Art der Kaumaschine. Stolz spreizen die Menschen dort den bunten Pfauenschweif ihres Wissens.
Hier dagegen kleben sie vor dem Ladeneingang wie Küchenschaben an einem Brotkanten. Sie stehen, sitzen oder liegen und schlingen begierig und schweigend den sonderbaren Unsinn in sich hinein, den Brundukov von sich gibt, der die erstaunliche Fähigkeit besitzt, jede Wahrheit mit Eselsohren auszuschmücken.



Am Schluss kommt noch einmal der «Philosoph» Panaschkin zu Wort: «Und im übrigen – wozu leben wir?» fragt er und beantwortet die Frage selbst: «Weiß der Teufel wozu, wenn man darüber nachdenkt...» - Peschkow ist im Grunde genauso ratlos: «Wer braucht wohl diese böse Karikatur, wem bereitet sie Vergnügen?»
In Bezug auf den «bekannten» Gorki, den Schriftsteller und Revolutionär, mögen diese Gedanken seltsam unpassend erscheinen. Sie spiegeln die tiefen Zweifel Gorkis, wenn es darum geht, das Ideal des stolzen, vernunftbegabten und selbstbestimmten Menschen in der Wirklichkeit in lebendigen Menschen seiner Zeit verkörpert zu finden oder solche Menschen in einer absehbaren Zukunft zu erwarten. Nichtsdestoweniger hat der Autor seine Freude an diesen wunderlichen Menschen und ihren Weisheiten.

(Die Übersetzung von Georg Schwarz nach der Ausgabe: Maxim Gorki, Wanderungen durch Russland, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1979 (Gesammelte Werke in Einzelbänden)).

Kategorie: Russland und die Russen

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