Russische Abende (III)
Sonntag, 01. Februar 2009, 18:09:28
Aus dem Zyklus «Wanderungen durch Russland»
Russische Abende (III)
In russischer Sprache finden Sie diesen Eintrag hier.
EIN ABEND BEI SUCHOMJATKIN
In der Reihe der «Russischen Abende» (s. die vorhergehenden I und II) ist «Ein Abend bei Suchomjatkin» vielleicht die komischste, aber zugleich auch die bedrückendste Erzählung. Das seltsame Spektakel, zu dem der Kaufmann Suchomjatkin den jungen Peschkow «ergebenst» einlädt, hat Züge eines Alptraums, besonders auch deshalb, weil die teilnehmenden Akteure (zwei Ehepaare) diese höchst banalen Vergnügungen wie Ereignisse einer höheren Kultur zelebrieren.
Einmal im Monat erhält Peschkow von Suchomjatkin einen Zettel folgenden Inhalts: «Verehrtester, Sie sind ergebenst eingeladen, uns morgen zu unserem dreistöckigen Vergnügen zu beehren.» Die Bezeichnung «dreistöckig» bezeichnet das dreiteilige Programm des Abends und die darin angelegte Steigerung des Vergnügens: Zuerst Schwitzen in der Banja, dann ein ausgiebiges Abendessen und als Höhepunkt der Auftritt der beiden Herren, Suchomjatkins und seines Freundes Lochow, als Zauberkünstler.
Die erste Etage des Vernügens: das Schwitzbad
Drei Herren nehmen teil: Suchomjatkin, sein Freund Matwej Lochow, der Vorsitzende des örtlichen Börsenkomitees, und Peschkow, der Erzähler. Es bedient sie der Kutscher Panfil, ein stark behaarter «tiergestaltiger» Mensch. Anfangs geben sich die Männer ganz dem Genuss des heißen Dampfes hin, dann beginnt Suchomjatkin ein «philosophisches Gespräch».
«Was ich nicht verstehen kann – das ist die Scham! Zum Beispiel: Vor einer Frau darf man sich nackt zeigen, wenn's aber drei sind – hat man sich zu schämen.»
Der Kutscher prustet in den Bottich hinein, daß der Seifenschaum auseinanderspritzt, während Lochow gesetzt bemerkt: «Die Tataren und Türken werden sich vermutlich auch vor dreien nicht genieren.» Und er summt mit seinem angenehmen leisen Baß vor sich hin:
«Sur votre jupe blanche
Brille la hanche...»
Sie haben sich beide «eingeatmet» und fühlen sich , als ob sie in dieser höllischen Hitze zu Hause wären. Suchomjatkin, völlig in Seifenschaum gehüllt, erinnert an ein Küken. Lochow wringt mit unermüdlichen Fingerbewegungen sein Bärtchen aus. Der Dampf zergeht, im Bad wird es heller, zahllose opalfarbene Tropfen zieren die Decke. Matt schimmern die verweinten Laternen, die Feldsteine im Ofen knistern.
«Das Leben will betrogen sein wie ein Weib, man muß ihnen Sand in die Augen zu streuen verstehen», belehrt der Hausherr seinen Kutscher. «Wie viele Mädchen hast du eigentlich sitzen lassen?»
«Hihi», kichert Panfil, während er ihm die weiche Brust massiert.
Inzwischen führt Lochow ein kluges Gespräch mit mir.
«Was ich an Ihrer Zeitung falsch finde, ist, daß Sie ein Bezirksgericht aus ihr machen», belehrt er mich. «Sie werfen sich in allem zu Richtern auf, und das ist überflüssig! Wie die Kirche uns zu erbauen hat, so hat die Zeitung die Aufgabe, uns von allem zu berichten, was irgendwo geschehen ist. Aber richten ist weder Sache der Popen noch – und erst recht nicht – der Zeitungsleute.»
«Richtig», bekräftigt Suchomjatkin des Gevatters Worte. Der fährt, nun schon nicht mehr belehrend, sondern bereits ein wenig gekränkt, fort: «Die Zeitung hat dem Vergnügen der Einwohner zu dienen, sie ist nicht dazu da, Skandale zu provozieren. Da setzt man sich morgens hin, um seinen Tee zu trinken, die Zeitung liegt auf dem Tisch, aber man kann sich nicht entschließen, sie in die Hand zu nehmen – es kann sehr wohl sein, daß etwas drinsteht, das einem den ganzen Tag verdirbt. Ein Geschäftsmann aber braucht seine Seelenruhe.»
Ich schweige. Dieser Mann hat Gründe, sich zu beklagen: Es wird zwar oft über ihn geschrieben, aber Gutes – nie!
Weißer Dampf verhüllt die Fensterscheiben. Das ganze aus Lindenholz gefügte Badehaus scheint zu schmelzen, als wäre es aus Wachs.
«Ich bin soweit!» verkündet Suchomjatkin. «Jetzt Dampf her!»
Er ist von oben bis unten mit Seife bedeckt wie mit Straußenfedern; er klettert auf die Bretterbühne, der Kutscher schüttet aufs neue Kwas auf die Ofensteine, Suchomjatkin kreischt, während Lochow den Kutscher finster anspornt: «Koch ihn! Brat ihn! Diable en porte à lune...»
«Gib nicht an, du!» fährt ihn der Gevatter barsch an. «Im Dampfbad spricht man nicht vom Teufel.»
Zweite Etage des Vergnügens: Das Festmahl
Im Speisezimmer ist ein gewaltiger Tisch mit Kristall, Silber und Schüsseln mit allerlei buntem Imbiss aufgebaut. In der Mitte steht eine Dreiliterflasche mit einem gelblichen Kräuterwodka. Am Tisch sitzen fünf Personen, das Ehepaar Suchomjatkin, Lochow und seine Frau Sinaida (Sinotschka). Die Köchin hat Pelmeni zubereitet: «sechshunderfünfzig», wie sie stolz verkündet.
«Mit Gott denn – ans Werk!»
Sie bekreuzigen sich alle vier, zur Ecke gewandt, mit Anstand, lassen sich wieder am Tisch nieder, und der Schmaus beginnt.
Der Hausherr und die Dame des Hauses essen schweigend, die Augen aufmerksam auf den Teller gerichtet und geistig gleichsam in der fetten, wohlschmeckenden Brühe badend, und nur hier und da läßt Suchomjatkin, unfähig, seine Fleischeslust zu beherrschen, ein überwältigtes Stöhnen hören. Sein rundes Gesicht ist freudig bewegt, als ob er jeden Augenblick vor Rührung in Tränen ausbrechen würde. Die Hausfrau ißt, die Augenbrauen zusammengezogen und ernst, als hätte sie eine schwierige Aufgabe zu bewältigen, in ihren Augen leuchtet jedoch das Feuer der Überzeugung, daß die Aufgabe gelöst werden wird. Auf ihrem gutmütigen hübschen Gesicht treten kleine Schweißtropfen hervor, die sie mit einem spitzengesäumten Batisttüchlein abtrocknet.
Lochow kaut die fleischgefüllten Klößchen nicht, sondern schlingt sie hinunter wie Austern, wobei er sich die Kehle verbrennt und dumpf stöhnt.
«Noch einmal ein kleines Dutzend, Katja», bittet er immer wieder.
«Das wievielte?» erkundigt sich neidvoll der Hausherr.
«Das fünfte. Sinaida, gieß ein!»
Sinotschka pickt, geziert den kleinen Finger abspreizend, mit der Gabel die Fleischkügelchen aus dem Teig und plaudert: «Das Beste – ist doch nun einmal immer die Mitte!»
Sie wendet sich an ihren Mann: «Wenn man nur immer alles herausbekäme!»
Suchomjatkin lacht, während er die Gläser füllt, schüttelt sich, schüttet Wodka auf das Tischtuch und ist außer sich vor Begeisterung: «Ach, Gevatterin, was hast du doch für ein loses Mundwerk!»
Die rothaarige Frau bringt nun in aller Ruhe etwas heraus, worüber selbst ihr gesetzter Mann in ein trockenes, schluckendes Lachen verfällt, während der Hausherr seinen Löffel hinwirft, vor Entzücken rot anläuft und zusammen mit seinem Stuhl hin und her schaukelt.
«Du wirst noch hinschlagen, Lachtaube», warnt ihn seine Frau.
Sie lacht ebenfalls ein bißchen, wischt sich das Lachen mit dem Taschentuch vom Gesicht, beugt sich aufs neue sachlich über den Teller und sagt: «Du bist ein schamloses Frauenzimmer, Sinka! Und das in Gegenwart eines Fremden zu sagen...»
Dritte Etage des Vergnügens: Zauberkünste
Nach dem Essen präsentieren die Herren dem «verehrten Publikum», bestehend aus den Ehefrauen und Peschkow, eine Vorführung der Zauberkunst. Lochow tritt als indischer «Magier» namens Harry auf, Suchomjatkin als sein Assistent James. Im ersten Teil zeigen sie Kunststücke mit Münzen und anderen Gegenständen, die verschwinden und überraschend wieder auftauchen. Eine dunkle Wand aus Schränken wird in die Vorstellung einbezogen, hinter einer Tür findet sich ein abgehackter Kopf mit einem schwarzen Schnurrbart und Porzellanaugen. Lochow spielt seine alberne Rolle mit großer Ernsthaftigkeit. Er hält diese Vorführung offensichtlich für etwas Wertvolles und Wichtiges.
Der zweite Teil begann damit, daß der rundliche Suchomjatkin in einen leeren Schrank kroch, während Lochow einen schwarzen Vorhang vor den Schrank zog und ausrief: «Hokuspokus»! Ein, zwei, drei!» Er zog den Vorhang zurück – der Schrank war leer, Suchomjatkin war verschwunden.
«Also das ist etwas, was ich nicht mag», sagte die Frau des Hauses zu mir und zuckte fröstelnd die Schultern. «Ich weiß wohl, daß es nur ein Kunststück ist, aber es macht mir dennoch ein wenig Angst.»
Der Vorhang wird zu- und wieder aufgezogen.
«Fidibus!»
Und aufs neue steht James-Suchomjatkin lächelnd vor uns im Schrank.
Als nächstes fesselte Harry ihn mit einem Strick an einen Stuhl und verdeckte ihn mit einem Wandschirm, während James sich in Sekundenschnelle von den Fesseln befreite und es sogar fertigbrachte, sich dabei obendrein die Schuhe auszuziehen.
Allmählich fühlte ich, daß ich mich zu langweilen begann und daß mir auf besondere Art ungemütlich wurde. Obwohl das, was sich vor meinen Augen abspielte, weder gruselig noch auch nur unangenehm gewesen wäre, erinnerte es an einen Alptraum. Die Damen waren ebenfalls müde, die Frau des Hauses schlummerte vorsichtig in ihrem Sessel, sie lächelte schuldbewußt, wenn sie den schweren Kopf hochriß, während Sinotschka unverhohlen gähnte und immer wieder zu pfeifen versuchte.
Suchomjatkin war augenscheinlich selber müde, seine hellblonden Koteletten waren ärgerlich gesträubt, er bewegte sich nur noch träge und ohne das Publikum und den Freund anzublicken, während Lochow schwitzend und hingerissen Taschentücher magisch ihre Farben wechseln ließ und immer wieder ausrief: «Ein, zwei, drei – fertick!»
Plötzlich hielt er inne und wandte sich mit vorwurfsvollem Blick zum Publikum: «Was ist denn das, Gevatterin, schläfst du?»
Er tat mir leid.
Sinotschka lachte, Suchomjatkin begann sich über seine Frau lustig zu machen, während der unverstandene gekränkte Artist, die Hände auf dem Rücken, mit schnellen Schritten das Zimmer durchmaß und sagte: «Das Vergnügen ist für mich eine ernste Sache und keine Nichtigkeit. Man kann schließlich nicht immer nur esen und beim Tee herumsitzen...»
«Das seh ich ja ein, Matwej Iwanowitsch», warf zerknirscht die Dame des Hauses ein, aber er hörte ihr gar nicht zu.
«Das Vergnügen dient dazu, seine Sorgen zu vergessen! Ihr Frauen könnt das natürlich nicht verstehen... Sinaida, komm, wir gehen nach Hause.»
«Warte doch, Gevatter, es gibt gleich Tee!»
«Es ist Zeit für uns.»
«Sie dürfen sich doch nicht ärgern...»
«Es ist noch zu früh, nach Hasue zu gehen», sagte Sinotschka.
«Zu früh?» rief Lochow. «Gut, dann gehe ich allein.»
Sie überreden den beleidigten Lochow doch noch zum Bleiben. Aber er verteidigt noch einmal seine Meinung von der ernsten Bedeutung solcher Vergnügungen. Sie seien im Grunde nichts anderes als das, was uns in der Kirche oder im Theater geboten wird. «Das Leben verlangt Einbildungskraft», meint Lochow, etwas, das anders ist als die «Wahrheit» des Alltagslebens. Am Ende entsteht der Eindruck, dass es dem Autor hier um mehr geht als um die Vorführung eines beschränkten Menschen und seiner eingebildeten Kränkung. Der Erzähler gibt selbst eine Deutung, die den Fall auf den russischen Nationacharakter bezieht: Peschkow denkt auf dem Nachhauseweg über den «russischen Menschen» nach, der «mit artistischer Vollendung die Rolle des Unglücklichen zu spielen versteht».
Aber das ist nicht die einzige mögliche Interpretation. Lochows anscheinend lächerliche Theorie von der Notwendigkeit der «Ergänzung» und Verschönerung des Lebens durch «Einbildungskraft» erinnert an Gorkis vielfach wiederholte Apologie des «Traums» und des «erhebenden Betrugs», die stärker sind als die prosaische «Wahrheit» des Alltagslebens. So betrachtet, könnte der glücklose Zauberkünstler Lochow Züge eines echten Künstlers erhalten, der seine Sache mit dem ganzen Einsatz seiner Seele vertritt und dafür von seinem Publikum nur gelangweiltes Gähnen oder Gelächter erntet. Damit bekommt diese Episode auch eine autoparodistische Note, in der die Selbstzweifel des Schriftstellers in seiner mittleren Periode anklingen.- Noch allgemeiner kann dieser Vorsitzende des Börsenkomitees auch für den Menschen schlechthin stehen. In dem Roman «Das Leben des Klim Samgin» findet sich eine dazu passende Definition, ausgesprochen von einem Geschäftmacher und Verächter humanistischer Ideen: «Der Mensch ist ein Nichtsnutz, ein Betrüger; sein Leben besteht darin, dass er sich selbst in Worten angenehme Kunststücke vormacht, das unglückliche Kind...»
Diese Methode verschiedener Lesarten auf verschiedenen Ebenen kann man auf den ganzen Zyklus der «russischen Abende» anwenden. Auf der Ebene der künstlerischen Ethnographie präsentieren die Erzählungen eine Galerie origineller «Typen» unter den russischen Menschen: im Salon Schamows die Vertreter der Intelligenzija, die mit Genuss «den Pfauenschwanz ihres Wissens ausbreiten»; bei Panaschkin werden die absonderlichen Denkversuche und Phantasien der «Philosophen» aus dem Volk vorgeführt, darunter die schreckenerregende Kaumaschine Brundukows; bei Suchomjatkin schließlich herrscht die grobe Sinnlichkeit gefräßiger und vergnügungssüchtiger Kaufleute, verbunden mit dem Anspruch auf eine eigene Kultur. Unter diesen Menschen erscheint der junge Peschkow-Gorki wie ein Gast aus einer anderen Welt, der darüber nachdenkt, wie man in diesem Land von irgendwie missglückten und «unfertigen» Menschen ein vernünftiges Leben einrichten könnte. Der Leser erfährt von diesen Ambitionen des autobiographischen Helden nur amRande, wenn er z.B. von Suchomjatkin mit den Namen der Slavenapostel angesprochen wird: «unser Aufklärer, Kyrill-Method». Der Autor lässt keinen Zweifel daran, dass die Bestrebungen dieses Apostels der Vernunft und der Menschenwürde illusorisch bleiben müssen. Am Ende jeder der drei Erzählungen bleibt er allein mit seinen «traurigen Gedanken». Auf dieser Ebene bilden die «russischen Abende» die unglückliche Situation des jungen Peschkow ab, in der sich der tragische Zwiespalt des künftigen Schriftstellers und Revolutionärs ankündigt.
Man kann sich nur schwer vorstellen, daß sich in dieser Welt weniger als drei Jahrzehnte später eine der gewaltigsten und schrecklichsten Revolutionen der Weltgeschichte ereignen wird. Echte Revolutionäre scheint es in diesem Russland nicht zu geben. Ihr Erscheinen auf diesen russischen Abendgesellschaften wäre höchst unwahrscheinlich, allenfalls ein «verdeckter» Beobachter in der Art Peschkows kann hier geduldet werden. Nicht zufällig werden Revolutionäre in anderen Erzählungen der «Wanderungen durch Russland» Opfer grausamer Misshandlungen und Morde (s. den Eintrag «Den Menschen keinen Zwang antun»)
Anstelle eines musterhaften Bildes des Klassenkampfs im vorrevolutionären Russland bietet uns Gorki, dessen marxistische Gesinnung in der Partei immer umstritten war, eine bunte Zusammenstellung sympathischer und abstoßender, aber immer «origineller» russischer Menschen, von denen jeder seine besonderen Talente besitzt. Die liebsten unter ihnen sind ihm offenbar die «Unfertigen» (nedodellanye), Untüchtigen, die «mit dem Leben auf Kriegsfuß stehen» und die ihre eigene Bestimmung wie Panaschkin darin sehen, «mit ihrem Unglück die Erde zu verschönern». Vieles an diesen Menschen hat mit Russland und seiner Geschichte zu tun. Solche Gestalten, ihr Äußeres, ihre Gefühle und ihre Sprache zu beschreiben und zu erschaffen, war Gorkis künstlerische Stärke. Ihnen sind die besten Seiten seiner Prosa gewidmet.
Für die Leser des heutigen Russland bietet die Thematik dieser Erzählungen ein interessantes Material, wenn es darum geht, nach einer neuen nationalen Identität zu suchen. In der postsowjetischen Periode geht etwas vor sich, das Gorki selbst in der Zeit um 1910 in Russland beobachtet hat, er nannte es – in Analogie zu der Gründung des Moskauer Staates – die «geistige Sammlung Russlands» (dukhovnoe sobiranie Rusi). Im Jahr 1913 beschrieb er die Situation mit den Worten: «Noch nie standen vor den ehrlichen Menschen in Russland so viele und grandiose Aufgaben, sehr zeitgemäß wäre heute eine gute Darstellung der Vergangenheit mit dem Ziel einer Erhellung der Wege in die Zukunft.»