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Zum Neuen Jahr: die russische Literatur der "Nuller" Jahre

Freitag, 01. Januar 2010, 17:12:27

Zum Neuen Jahr: die russische Literatur der

Der Kieler Hafen, 29.Dezember 2009

Literatur der «Nuller».- «Helden unserer Zeit».- Zakhar Prilepin – ein «neuer Gorki»?.- «Sünde» - in diesem Buch gibt es «unschätzbare Vitamine»

Alles Gute für das Jahr 2010, liebe Besucher des «Unbekannten Gorki»! Die finsteren Prognosen der Experten haben sich ja schon wieder aufgehellt. Aber wer glaubt noch an Experten und Prognosen? In Russland ist das ähnlich. Es gibt viel Unruhe über das mögliche Ende der «neftjanaja stabil'nost'» (Ölstabilität), aber, wie immer, auch viel Gelassenheit und Fatalismus. Und es gibt tröstliche Nachrichten, z.B. die mögliche Rückkehr Putins auf den Präsidentenstuhl. Schade um das Tandem, das Bykov als Wesensmerkmal der russischen Demokratie entdeckt hat (s. den Reiseführer Russland) Oder wird Medwedjew automatisch Premier? Dann stimmte es ja wieder. Warten wir es ab.
Ich möchte mich heute einem anderen Bereich der russischen Kultur widmen, nämlich der russischen Literatur, genauer der Gegenwartsliteratur? Gibt es sie überhaupt noch in bewährter Güte? Nachdem ich Sie im letzten Eintrag (Lesen in Russland darüber informiert habe, dass die Zahl derjenigen, die nie ein Buch zur Hand nehmen, nach Umfragen auf 35% gestiegen ist, muss die Frage erlaubt sein. Die Antwort ist ein klares Ja! Es gibt sie noch, die russische Literatur, und sie präsentiert sich unter den Bedingungen einer nie gekannten Freiheit höchst produktiv, lebendig und vielfältig - einfach interessant.

Die russische Literatur der «Nuller»

Ich habe im zuende gegangenen Jahr versucht, mir durch die Lektüre von «Übersichtsliteratur», d.h. von Sammelbänden bekannter Kritiker (A. Nemzer, L. Anninskij, L. Danilkin u.a.), ein Bild von der Literatur der letzten Jahre zu machen. Diese Publikationen bilden übrigens ein eigenes interessantes Genre in alter russischer Tradition: Literaturkritik in Buchform mit starker Akzentuierung der historisch-soziologischen Aspekte und des Zeitgeistes (so heißt er auch im Russischen:cajtgajst). Besonders das Buch von Lev Danilkin «Numeracija s khvosta» (Numerierung von hinten), M. (Astrel') 2009 hat mich durch die Menge und Vielfalt des Materials beeindruckt, obwohl es nur der Literaturproduktion des Jahres 2008 gewidmet ist. Der Titel soll darauf hindeuten, dass hier vorrangig nicht die Favoriten aus den Bestsellerlisten vorgestellt werden, sondern Autorinnen und Autoren aus der «zweiten Reihe». Danilkin bespricht ca. 50 Prosawerke, die er in sechs Kategorien einordnet: «Anspruchsvolle (kachestvennaja) Belletristik» , «Hohe Literatur», «Ein Held unserer Zeit: Porträtgalerie», «Biographien und Autobiographien» , «Hohe Phantastik» und «Frauenliteratur» (Zhenskij spisok). Insgesamt bestätigt dieser Textkorpus in eindrucksvoller Weise das Urteil des Autors im Vorwort: «Die Literatur hat sich, ungeachtet dessen, dass sie sich im Inneren und unter den Bedingungen einer Konsumgesellschaft entwickelt hat, dennoch nicht in einen Zweig der Unterhaltungsindustrie verwandelt.» Sie hat sich als eine «besondere Sphäre» behauptet, in der Buchpreise und Bestsellerlisten für den Rang eines Werkes letztlich nicht ausschlaggebend sind.

«Helden unserer Zeit»

An der Spitze der literaturästhetischen Pyramide sieht Danilkin einige wenige (und nicht besonders populäre) Werke, die auf hohem Niveau die Traditonen der europäischen Moderne fortsetzen, darunter der Roman «Die Anomalie Kamlaevs» von Sergej Samsonov, ein, wie der Kritiker glaubhaft darstellt, herausragendes Kunstwerk über ein Thema, das an Thomas Manns «Doktor Faustus» anklingt: die Suche eines Künstlers nach der Wahrheit in der Musik. Nicht weniger interessant erscheinen mir die Werke der Kategorie «Ein Held unserer Zeit», denn sie enthalten genau das, was ein Beobachter «von draußen» erfahren will: Wer sind sie und wie leben sie, die «typischen» Russen von heute? Wie kommen sie mit der unbegrenzten Macht des Kapitalismus zurecht? Wie behaupten sie ihre Persönlichkeit in einer immer mehr nivellierten Gesellschaft? Die Antworten sind – gedanklich und stilistisch - sehr verschieden, aber fast immer originell und anregend. Da ist zum Beispiel der Bankier Znaev, der in einer paranoidalen Weise der Zeit hinterherjagt und sich eine «nationale Idee» ausgedacht hat: «Bereite dich auf den Krieg vor» (Titel des Romans von Andrej Rubanov). Denn das, die Vorbereitung auf einen drohenden Krieg, scheint ihm das einzige Mittel, um die träge und apathische Masse der Russen, die im «Ölüberfluss» versunken ist, für die Anforderungen der neuen Zeit fit zu machen. Unzufrieden mit der neuen Ordnung ist dagegen Semipjatnickij (in German Sadulaevs Roman «Die Tablette»), Angestellter in einem «office» (sic), der seine midlife crisis erlebt und die ihm von der Gesellschaft aufgetragenen Aufgaben mechanisch weiter ausführt, obwohl sie ihm längst absurd erscheinen. Als Helden unserer Zeit begegnen in anderen Werken ein eitler «Hochglanzjournalist» (gljancevyj zhurnalist), der sich als bedeutende Persönlichkeit ausgibt, ein Quartalstrinker, der aus seinem interessanten Leben berichtet, ein Nostalgiker, der von der «Himmlischen Union», d.h. der Sowjetunion, träumt und Mitglieder von heutigen staatsnahen Jugendorganisationen. Es ist, wie man sieht, viel Ironie oder Satire im Spiel, aber auch viel ernste Beobachtung des Verhaltens der Menschen und des Zeitgeists. Viele dieser Figuren eröffnen Einsichten in Grundprobleme unserer Zeit, z.B. der Major Zhilin in dem Roman «Asan» von Vladimir Makanin (einer der wenigen auch im Westen seit langem bekannten Autoren in Danilkins Buch). Zhilin, der im Tschetschenienkrieg für die Verteilung von Treibstoff zuständig ist, mehr «Dispatcher» als Soldat, ist eigentlich ein Dieb, der heimliche Geschäfte mit dem Feind macht. Und doch scheint er der einzig Vernünftige in diesem absurden Geschehen. Zhilin verhindert sinnloses Blutvergießen und rettet Leben – die von eigenen Soldaten und auch die von Feinden. Sein sinnloser Tod lässt ihn fast wie einen Heiligen erscheinen.

Zakhar Prilepin – ein «neuer Gorki»?

In die Kategorie «Helden unserer Zeit» hat Danilkin auch Zakhar Prilepin aufgenommen, den Autor der Erzählbände «Sünde» (2007) und «Schuhe, voll mit heißem Wodka» (2008). Der Schriftststeller (und zugleich sein eigener Held) Prilepin hat eine Beziehung zum Gegenstand dieses Blogs, er ist mehrfach als ein «neuer Gorki» bezeichnet worden. Man kann darüber streiten, ob hier wirklich eine Ähnlichkeit der künstlerischen Persönlichkeiten vorliegt oder ein Zusammentreffen der Umstände ihres Erscheinens und ihrer überraschenden Karriere. Danilkin setzt den Akzent eher auf eine gewisse Ähnlichkeit der heutigen gesellschaftlichen und literarischen Situation mit der am Anfang des vorigen Jahrhunderts, als Gorki auftauchte und – in seinem bekannten Brief an Tschechow (1900) – die Sehnsucht der Zeit nach dem «Heroischen», «Ungewöhnlichen», dem Alltagsleben gänzlich Entgegengesetzen artikulierte.Eine ähnliche Stimmung konstatiert Danilkin auch bei einzelnen Schriftstellern und dem lesenden Publikum. Man spüre ein Verlangen nach «Menschen mit interessanten Biographien», aber es scheint sie im öffentlichen Bewusstsein nicht zu geben, man kann sogar entsprechende Suchanzeigen in Zeitungen lesen – «und das in Russland», bemerkt der Kritiker dazu, «wo Ereignisse, die für einen ganzen Romanzyklus ausreichen würden, praktisch mit jedem Menschen stattgefunden haben». Dieses gefühlte Defizit an Lebenserfahrung erklärt sich seiner Ansicht nach als Einwirkung der «erstickenden Stabilität» auf die Gemüter der Menschen. Wenn alle gleich geworden sind und anstelle ihrer Biographie eine «Kreditgeschichte» erworben haben, entsteht das Verlangen nach «interessanten Menschen». Und als ein ideales Angebot auf diese Nachfrage habe sich der Schriftsteller Zakhar Prilepin erwiesen, angefangen von seiner äußeren Erscheinung: «mit starkem Nacken und kompromisslos geschorenem Schädel», «ein Bosjak (Barfüßiger) in neuen Schuhen» - so hat sich Prilepin zu einem der meistgelesenen Autoren bei der Generation der Dreißiger entwickelt. Den Band «Schuhe, voll von heißem Wodka» annonciert der Verlag mit folgendem Text: «Eine Sammlung mitreißender brutaler Novellen – meisterhaft geschrieben: mal tragisch, mal ungewöhnlich komisch. Elf Erzählungen von Freundschaft und Verrat, den Erfahrungen von Gefängnis und Krieg. Und - von der Liebe zum Leben in allen seinen Erscheinungsformen.» Die Buchvorstellung beschreibt den Inhalt des Buches trotz ihres marktschreierischen Charakters ziemlich zutreffend. Er scheint widersprüchlich, fast absurd. Aber gerade das Nebeneinander der Themen Gewalt und Liebe zum Leben ist charakteristisch für die Prosa (und auch die Lyrik) dieses Autors, und es ist biographisch motiviert: Pripelin verabscheut die Gewalt, aber er kennt sie genau, auch als selbst Gewalt ausübender Täter. Er stammt aus einem Dorf bei Rjazan', das in seiner Prosa als ein eher idyllischer Ort der Kindheit und der geliebten Großeltern erscheint. Mit Gewalt kommt er an anderen Orten in Berührung. Nach einem Philologiestudium meldet er sich in den 90er Jahren zum OMON, einer als brutal bekannten militärischen Sondereinheit der Miliz zum Schutz der öffentlichen Ordnung, und kämpft in Tschetschenien. Danach arbeitet er als Türsteher bzw. «Rausschmeißer» (vyshibala) in einem Klub und als Totengräber. Er tritt in die von dem Schriftsteller Limonov gegründete Partei der «Nationalbolschewiken» ein und beteiligt sich an Prügeleien mit der Polizei. Der Roman «Sankja» (2006) ist ein offenes Bekenntnis zum politischen Radikalismus, zum Kampf gegen einen moralisch verkommenen Staat mit allen Mitteln, einschließlich denen des Terrors. Und das Buch ist zugleich die anrührende Erzählung eines jungen Mannes über die Sehnsucht nach Freundschaft und Liebe. In den letzten Büchern ist von der politischen Botschaft der «limonovcy» wenig geblieben, wohl aber die Motive des gerechten Zorns und der strafenden Gewalt des Helden im Kampf mit dem «Bösen».
Der Ich-Erzähler Prilepins erzählt aussschließlich von sich selbst und vermittelt den Eindruck der kompletten Identität mit dem Autor, er ist, wie Danilkin feststellt, ein «echter lyrischer Held, sensibel und grob zugleich». Der Kritiker vergleicht ihn zuerst mit Majakovskij, findet dann aber den Vergleich mit dem «Gorki der romantischen Periode» passender: «Ein Bosjak mit einem klar ausgeprägten Gendercharakter und einer ebensolchen sozialen und ästhetischen Position».

«Sünde» - in diesem Buch gibt es «unschätzbare Vitamine»

2008 hat Prilepin für den Band «Sünde» (Grekh) den Buchpreis «Nationaler Bestseller» erhalten. Das Vorwort stammt von dem Schriftsteller Dmitrij Bykov, der in diesem Blog schon als Verfasser einer Gorki-Biographie vorgestellt worden ist. Auf mögliche Ähnlichkeiten mit Gorki geht der Verfasser in diesem Vorwort nicht ein, er sieht Prilepin eher in der Tradition der Emigranten Aksjonow, Gazdanow und Limonov, aber auch er beschreibt Prilepin vor allem als eine ungewöhnliche, einzigartige Persönlichkeit, die sich allen Kategorisierungen widersetzt.. Da in dieser Charakteristik doch vieles an (den nicht genannten) Gorki erinnert, sollen hier einige Auszüge folgen.

Unter der Überschrift «Das glückliche Leben des Zakhar Prilepin» verteidigt Bykov den Schriftsteller gegen die ihm anhaftende Reputation eines Extremisten und «Untergrundmenschen». Prilepins Radikalimus gehe keineswegs aus einer Neigung zur Brutalität hervor. Lesern, die das glauben, gibt Bykov zu bedenken: «Stellen Sie sich vor, in eine extremistische Partei kann man auch aus anderen Motiven eintreten als deshalb, weil man von Natur ein Untergrundmensch und Verschwörer, ein Realisator eigener grausamer und heimlicher Komplexe ist, sondern einfach deshalb, weil man von dem Bewusstsein der eigenen Kraft erfüllt ist und sich schämt für dieses Russland, das einen umgibt. Es ist geschaffen, um schön, reich und stark zu sein, wie man selbst, und es vegetiert dahin in Nichtswürdigkeit. Wieso? Das ist eine Beleidigung!»

Prilepin ist ein «gutherziger» (dobryj) Schriftsteller, erklärt Bykov, das könne jeder feststellen, wenn er sich die Art und Weise ansieht, in der er über Frauen und – über Tiere schreibt. Mit beiden hat er, in guter russischer Tradition, «Erbarmen», und beim Leser weckt dieses Verhalten eine tiefe Sympathie für den Helden, er ist «bezaubernd», sogar in seinen Schwächen. «Es tut einem schrecklich leid und man schämt sich dafür, dass ein solcher anständiger junger Mann, der Berge versetzen könnte, wenn man ihm nicht fortwährend Schläge in die Magengrube versetzen würde, von dieser uns so vertrauten Realität, an die sich weniger anständige Menschen längst angepasst haben, ständig niedergedrückt, zerstückelt und buchstäblich ins Grab getrieben wird.“ Bykovs abschließende Bestimmung des Themas fällt aber doch viel optimistischer aus und sie klingt sehr „nach Gorki“. Ich bringe sie in einem längeren Zitat als ein Schlusswort zu diesem Eintrag. Vielleicht stellt sich später wirklich heraus, dass wir in diesen Jahren das Erscheinen eines „neuen Gorki“ erlebt haben.

Dieses Buch („Sünde“) handelt davon, dass mit Prilepin (und er ist offenkundig nicht der einzige von solcher Art) nichts zu machen ist. Weder die Arbeit als Totengräber noch die eines Rausschmeissers, weder Tschetschenien noch die regelmäßigen Versuche gewisser Verteidiger der liberalen Werte, das freudige (und nicht nur freudige) revolutionäre Pathos seiner Prosa der Lächerlichkeit preiszugeben, haben es geschafft, ihn in einen Untergrundmenschen zu verwandeln. Er bleibt ein aktiv arbeitender, gefragter und gelesener Autor, er erlaubt sich, dem Präsidenten Frechheiten ins Gesicht zu sagen, fürchtet Tod und Teufel nicht, auch nicht die öffentliche Meinung, und er vergisst dabei nicht, Kinder in die Welt zu setzen, damit es jemanden gibt, der das glückliche echte Russland aufbauen kann. /.../
Dieses Buch enthält unschätzbare Vitamine, die in der laufenden Literatur so selten sind: Energie, Tapferkeit, Freude, Zärtlichkeit. /.../ Prilepins Buch weckt den Wunsch zu leben – nicht zu vegetieren, sondern mit Volldampf zu leben. Noch ein Dutzend solcher Bücher, die selbst die Faulsten und Begriffsstutzigsten bis ins Mark treffen, - und Russland braucht keine Revolution mehr.“

Kategorie: Gorki in unseren Tagen

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