Christus und Prometheus - Gorki über das Weihnachtsfest
Mittwoch, 06. Januar 2010, 12:09:42

Die Zeitung "Novaja zhizn'" (Neues Leben)
In russischer Sprache finden Sie diesen Beitrag hier
Heute vor 91 Jahren, am 6. Januar 1918, dem Vorabend des orthodoxen Weihnachtsfests (nach dem bis 1918 gültigen Julianischen Kalender war es der 24. Dezember 1917) erschien in der Petersburger Zeitung «Novaja zhizn'» (Neues Leben) der unten folgende Artikel Maksim Gorkis aus der Serie «Unzeitgemäße Gedanken», der von der Erschütterung des Schriftstellers über die chaotischen Zustände in den Wochen nach der Oktoberrevolution geprägt ist. Ich nehme diesen Text in das Blog auf, weil er mir als ein eindrucksvolles Dokument der Weltanschauung Gorkis erscheint – paradox, utopisch, und eben darin zutiefst human. Indem der Schriftsteller die eigentlich unvereinbaren Symbolgestalten Christus und Prometheus miteinander verband, artikulierte er sein persönliches Glaubensbekenntnis. Es ist ein „Bolschewismus mit menschlichem Gesicht“, der offenkundig auch die geistige Welt seines ewigen ideologischen Widersachers Dostojewski einschloss, des Predigers der Barmherzigkeit, der Demut und der Brüderlichkeit aller Menschen. Den Lesern in Russland wurden die „Unzeitgemäßen Gedanken“ nach den ersten Veröffentlichungen 1918 erst in einer Neuausgabe 1990 bekannt.
(Der Text folgt der Ausgabe: Maxim Gorkij, Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution, herausgegeben und kommentiert von Bernd Scholz, suhrkamp tb 1974, S. 127-129)
Wir erleben einen Sturm dunkler Leidenschaften; die Vergangenheit hat ihr tiefstes Inneres geöffnet und zeigt uns, wie widerlich entstellt der Mensch ist; um uns herum tobt ein Sturm von Habgier, Haß und Rache; ein Tier, das jahrhundertelang gequält wurde und nach langer Gefangenschaft rasend ist, hat voller Rachsucht sein Maul aufgerissen und schreit seine Wut und Bosheit triumphierend heraus.
Aber alles Gemeine und Abscheuliche, was es auf der Welt gibt, wurde und wird von uns gemacht; alles Schöne und Vernünftige, wonach wir streben, lebt in uns.
Der Sklave von gestern sieht heute seinen Herrn ohnmächtig und verängstigt im Staube liegen; dieser Anblick erfreut den Sklaven zutiefst, denn er hat eine menschenwürdigere Freude noch nicht kennengelernt: die Freude, frei von Haß gegen den Nächsten zu sein.
Aber die Menschen werden diese Freude kennenlernen. Es lohnt sich nicht zu leben, wenn man nicht an die Brüderlichkeit aller Menschen glauben kann; das Leben hat keinen Sinn, wenn man nicht vom Sieg der Liebe überzeugt ist.
Gewiß, wir stecken bis zum Hals in Blut und Schmutz, dichte Wolken ekelerregender Gemeinheit umgeben uns und blenden viele von uns; manchmal scheint es, als werde diese Gemeinheit alle die schönen Träume, die wir unter Mühen und Qualen geboren haben, vergiften und ersticken, als werde diese Gemeinheit alle Fackeln, die wir auf dem Weg zur Wiedergeburt entzündet haben, wieder auslöschen.
Der Mensch bleibt aber immer Mensch, und letzten Endes kann doch nur das Menschliche siegen; darin liegt auf der ganzen Welt der eigentliche Sinn des Lebens; einen anderen Sinn hat das Leben nicht.
Sollten wir doch zugrunde gehen?
Es ist besser, im Feuer der Revolution zu verbrennen, als in der Abfallgrube der Monarchie langsam zu verfaulen, so wie wir vor der Februarrevolution verfault sind.
Für Rußland und für uns ist offensichtlich der Zeitpunkt gekommen, da alle zutiefst erregten Menschen den seit Jahrunderten angesammelten Schmutz unserer Lebensweise von sich abwaschen und abschütteln müssen. Wir müssen unsere slawische Trägheit und alle unsere Gewohnheiten ausrotten; die Erscheinungsformen des Lebens, Ideen und Menschen müssen wir neu bewerten. Alle unsere Kräfte und Fähigkeiten müssen wir erwecken und uns schließlich als entschlossene und geschickte Arbeiter der universalen Aufgabe widmen, unserem Planeten eine neue Ordnung zu geben.
Unsere Lage ist tragisch, aber gerade in der Tragödie ist der Mensch am erhabensten.
Es ist schwer zu leben; zu viel kleinliche Gehässigkeit ist an die Oberfläche des Lebens gelangt, und es fehlt der heilige Zorn, der die Gemeinheit töten könnte.
Aber Synesius, der Bischof von Ptolemais, sagte:
„Der Philosph bedarf der Seelenruhe – nur die Stürme erziehen den geschickten Steuermann.“
Laßt uns glauben, daß diejenigen, die im Chaos und im Sturm nicht zugrunde gehen, stark werden und eine unerschütterliche Widerstandskraft gegen die alten, grausamen Lebensprinzipien entwickeln werden.
Heute ist der Tag der Geburt Christi, eines der beiden größten Symbole, die der Mensch in seinem Streben nach Gerechtigkeit und Schönheit geschaffen hat
Christus ist die unsterbliche Idee der Barmherzigkeit und Menschlichkeit, Prometheus ist der Feind der Götter, der erste Rebell gegen das Schicksal; der Mensch hat nichts Erhabeneres geschaffen als diese beiden Verkörperungen seiner Wünsche.
Der Tag wird kommen, an dem die beiden Symbole – Stolz und Barmherzigkeit, Demut und Tollkühnheit beim Verfolgen eines Zieles – in der Seele des Menschen zu einem großen einzigen Gefühl verschmelzen werden und alle Menschen ihre eigene Bedeutung, die Schönheit ihre Strebens und ihre gemeinsame Herkunft erkennen, die sie alle miteinander verbindet.
Diese aufrührerischen, blutigen und feindseligen Tage sind für viele schrecklich und man darf nicht vergessen, daß wir unter großen Qualen und unerträglichen Prüfungen den Weg zur Wiedergeburt des Menschen gehen und daß wir an dem irdischen Werk arbeiten, das Leben von den schweren, rostigen Ketten der Vergangenheit zu befreien.
Laßt uns also an uns selbst glauben, laßt uns hartnäckig arbeiten; alles liegt in unserer Macht, und es gibt im Weltall keinen anderen Gesetzgeber als unseren vernünftigen Willen.
Allen, die sich im Sturm der Ereignisse einsam fühlen, deren Herz von bösen Zweifeln gepeinigt wird, deren Geist tiefe Trauer bedrückt – ihnen gilt mein herzlicher Gruß.
Und meinen herzlichen Gruß auch denen, die unschuldig eingekerkert sind.