VERRAT - Gorki über eine Krankheit des 20. Jahrhunderts
Dienstag, 08. März 2011, 13:14:23
Die Version des Eintrags in russischer Sprache finden Sie hier.
Was veranlasst einen Menschen, ihm nahestehende andere Menschen zu verraten, eigene Überzeugungen in den Schmutz zu treten? Was ist die Neigung zum Verrat? Ein Defekt im Charakter eines Individuums oder eine Eigenschaft im Bewusstsein bestimmter Klassen oder Gruppen, des „Kleinbürgertums“ oder der „Intelligenzija“? Ist sie eine Auswirkung der Gestimmtheit enttäuschter Revolutionäre und Renegaten? Oder ist das Verrätertum, im Gegenteil, eine Folge des in der revolutionären Bewegung selbst herrschenden „Jesuitismus“? Darf man annehmen, dass eine Neigung zum Verrat als eine der „Widerwärtigkeiten des russischen Lebens“ im Nationalcharakter angelegt ist? Oder geht es um die übernationale Erscheinung des Glaubensverlusts und des „moralischen Nihilismus“ in der Moderne? Alle diese Fragen werden in Gorkis Briefen, in seiner Publizistik und in seinem künstlerischen Werk mit leidenschaftlichem Interesse behandelt. Sie werden in verschiedenen Perioden seiner Entwicklung unterschiedlich beantwortet und führen nicht zu eindeutigen Resultaten. Der Verrat ist, nach Gorkis Ansicht, eines der großen Rätsel der menschlichen Seele und eine der schrecklichsten Krankheiten des politischen Lebens im Russland des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Eintrag wird Material aus der Publizistik und den Briefen vorgestellt, im letzten Teil werden der Roman „Der Spitzel“ (Originaltitel: Leben eines unnützen Menschen) und die Erzählung „Karamora“ besprochen, die beide dem Thema des Verrats gewidmet sind.
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In dem Artikel „Über Verräter“ (O predateljakh), der 1930 in der Zeitung „Izvestija“ erschien, versucht Gorki zunächst die außerordentliche Kompliziertheit des behandelten Phänomens deutlich zu machen: „Wenn man eine allzu originelle Erscheinung erklären will, vergleicht man sie mit einer gewöhnlicheren und verständlichen Sache, sucht eine ‚Analogie‘. Aber der Verräter ist eine so eigenartige abstoßende Erscheinung der Natur des Klassenstaates, dass man sie mit nichts und niemandem vergleichen kann. Ich denke, dass sich selbst eine Typhus erregende Laus durch den Vergleich mit einem Verräter gekränkt fühlen würde“.
Im weiteren Gang der Argumentation mussten die Leser der „Izvestija“ jedoch zu ihrer Überraschung erfahren , dass dieses höchst ungewöhnliche und unvergleichliche Phänomen eigentlich gar keine besondere Aufmerksamkeit verdient, dass der Verräter nämlich nichts anderes sei als ein ganz gewöhnlicher Lump, ein Gauner, einfach ein Schwein. Der wohl bekannteste Vertreter dieser Spezies, Evno Azef (Aseff), ein höchst erfolgreicher Provokateur, der der Polizei im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts einen großen Teil der Führung der Partei der Sozialrevolutionäre ausgeliefert hatte und gleichzeitig an Attentaten gegen Staatsbeamte beteiligt war, erweist sich am Ende der drei Seiten umfassenden Charakteristik Gorkis als „ein ganz gewöhnlicher, sogar äußerst simpler Kleinbürger“. Fett, mit wulstigen Lippen, sentimental, nannte er sich in den Briefen an seine Geliebte „dein Häschen“ und glaubte sogar sein ganzes Leben an Gott. Aber wenn es sich so verhält, warum dann überhaupt so viel Aufmerksamkeit für dieses gewöhnliche Subjekt? Es geht Gorki in diesem Artikel offensichtlich darum, eine andere Art der Betrachtung abzuwehren, obwohl diese in erheblichem Maße auch seine eigene Einstellung war: „Ein Künstler – ein Mensch, der professionell zu Erfindungen neigt“ , erklärt Gorki, „könnte Azef als eine finstere und sogar tragische Figur darstellen, die an den Verrat als eine ihr aufgetragene historische Mission glaubte, getrieben von einem Gefühl des Hasses gegen alle Menschen, wer sie auch seien“. An einzelnen Stellen ist Gorkis eigene Beschreibung Azefs, entgegen der behaupteten Einfachheit, durchaus geeignet, den Eindruck einer wenn nicht tragischen, so doch einer monströsen Persönlichkeit hervorzurufen: „Man kann annehmen, dass Azef, dieser professionelle Judas, keinerlei Unterschied zwischen Revolutionären und Polizisten empfand: die einen ermordeten Gouverneure und Minister, die anderen ermordeten hunderte von anständigen, heroisch gesinnten jungen Menschen; in beiden Lagern hatte der Judas Freunde, sie glaubten an seine ungewöhnlichen Fähigkeiten zur Organisation von Morden, und so verriet und verkaufte er, um Geld für ein’schönes Leben‘ zu verdienen, von rechts nach links und von links nach rechts“. Der Verräter bedurfte dabei nicht einmal eines Deckmantels in Form einer Theorie oder irgendwelcher Rechtfertigungen, betont Gorki. Azef erklärte nach links: „Was wollt ihr? Ich habe euch geholfen eure Feinde umzubringen“. Und dasselbe erklärte er auch seinen Freunden auf der rechten Seite.
Bei einem „normalen“ Menschen, um so mehr bei einem Künstler vom Typ Gorkis, der sein ganzes Leben dem Dienst an der Revolution als einer heiligen, ehrenhaften Sache gewidmet hatte, musste allein die Möglichkeit eines solchen Phänomens Gefühle nicht nur der Empörung, sondern auch der Ratlosigkeit hervorrufen. Reicht es aus, eine solche vollständige Abwesenheit von Moral als individuellen Charakterfehler oder als Merkmal einer bestimmten Klasse zu erklären? Muss man hier nicht nach tieferen und allgemeineren Gründen suchen? In dem Artikel „Über Verräter“ ist von einer solchen Ratlosigkeit nichts zu bemerken. Azef ist ein „Kleinbürger“, und, „wie jedes Mitglied dieses Stammes von Halbmenschen, verfügte er über die Fähigkeit, um des persönlichen Vorteils willen alles und jeden zu verraten und zu verkaufen“. Der Fall Azefs, von Gorki als ein Phänomen unerhörter Gemeinheit beschrieben, das jede Möglichkeit des Verstehens übersteigt, wird leichthin mit dem Begriff des Kleinbürgertums erledigt, der dem Schriftsteller schon 1905 in den „Bemerkungen über das Kleinbürgertum“ als Allzweckwaffe gegen alle Feinde der Revolution (eingeschlossen Tolstoj und Dostojewski) gedient hatte. Ebenso unbekümmert um feinere Unterschiede behandelt Gorki auch „Verräter“ der Gegenwart um 1930. Neben Angehörigen einer christlichen Sekte, die durch Enthaltsamkeit auf das Aussterben der Menschheit hinwirken will, finden sich in dem Artikel Emigranten der „dritten Welle“, ehemalige Marxisten, die mit antisowjetischer Propaganda versuchen, „die Arbeiterklasser zu verraten“. Gorki, in den zwanziger Jahren ein erklärter Gegner aller Arten der „Vereinfachung“, tritt hier als ein bedenkenloser Vereinfacher nicht nur des Problems des Verrats, sondern auch seiner eigenen Einstellung zu diesem Problem auf.
„Das Leben des Klim Samgin“ – alles vergiftet von Verrat
Gleichzeitig mit seinen Artikeln in „Pravda“ und „Izvestija“ bewies Gorki in der Arbeit an seinem Abschiedswerk „Das Leben des Klim Samgin“ ein wesentlich tieferes Verständnis für die Erscheinung des Verrätertums. Der Held des Romans ist kein Ungeheuer wie Azef, er wirkt nicht an Attentaten auf Minister und Revolutionäre mit. Dennoch ist Samgin nach dem Willen des Autors seiner Natur nach ein Verräter, ein heuchlerischer Verbündeter der Revolutionäre, die er im Grunde seines Herzens hasst. Sein Verrätertum besteht darin, dass er die Freiheit und Autonomie seiner Persönlichkeit verteidigt. Der Individualist Samgin führt das Leben eines neugierigen „Zuschauers“ (zritel‘), der die Entwicklungen in der Gesellschaft und seine eigenen Reaktionen auf diese Ereignisse mit unermüdlicher Aufmerksamkeit verfolgt . Vieles in dieser Haltung verbindet den Helden mit seinem Autor, der in dieser Gestalt die eigene Verstrickung in die Denkgewohnheiten der alten Intelligenzija zu überwinden sucht. Verständnis und Hilfe in seinem Kampf um die Autonomie der Persönlichkeit findet Samgin eher bei den Vertretern der Staatsmacht als bei den Revolutionären. Letztere gehören nach seinem Verständnis zu den „Gewalttätern“ in seiner Umgebung, die ihm ihre Meinungen aufzwingen wollen und Feinde des selbständigen Denkens sind. Die einzigen Menschen, mit denen er offene Gespräche führen kann, sind Beamte der „Ochranka“, der Behörde des Staatsschutzes, und dazu zwei Menschen aus seinem Umfeld, die sich später als Angehörige derselben Einrichtung herausstellen. Solche paradoxalen Beziehungen dienen natürlich der zugespitzten satirischen Entlarvung des Helden und seiner falschen Wahrnehmung der Welt, aber sie haben auch ihre Parallelen in eigenen Erlebnissen des Autors Gorki, die er andernorts beschrieben hat, und sie verweisen auf sein ausgeprägtes Interesse an dieser Thematik. Verrat ist in „Klim Samgin“ nicht nur ein Phänomen bei Einzelpersonen, es kennzeichnet vielmehr den krankhafte Zustand der ganzen Gesellschaft. Dronov, ein Journalist und boshafter, aber kompetenter Beobachter des Lebens in der Provinzstadt, aus der Samgin stammt, vermittelt nach Samgins Worten den folgenden Eindruck: „Die Stadt war bewohnt von Menschen, die einmütig jede Art von Gemeinheiten begingen und sich ebenso einmütig gegenseitig beobachteten, um sich gegenseitig zu verraten“.
„Das Leben des Klim Samgin“ ist die letzte in einer langen Reihe von Konzepten und Urteilen zum Thema des Verrats in den Schriften Gorkis. Im künstlerischen Werk gingen dem Roman zwei Werke voraus, die ganz diesem Thema gewidmet sind, der Roman „Der Spitzel“ (Originaltitel. Das Leben eines unnützen Menschen) (1908) und die Ezählung „Karamora“ (1924). Im erstgenannten Werk zeigt Gorki am Beispiel eines kleinen politischen Agenten in der Ochranka – nach der eigenen Erklärung des Schriftstellers – „die Psychologie eines Spions, die gewöhnliche Psychologie eines eingeschüchterten, in ständiger Angst lebenden russischen Menschen“, in der Erzählung „Karamora“, ist, im Gegensatz dazu, das Schicksal eines großen Provokateurs behandelt, der nach dem Maßstab seiner Verbrechen mit Azef vergleichbar ist, seiner Persönlichkeit nach aber eher an den Helden in Dostojewkis „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ erinnert. (Ausführlich zu diesen Werken am Schluss des Eintrags)
„Ich hatte das Gefühl, dass jemand mir ins Herz spuckt“
Die Nachrichten über die Entdeckung von Provokateuren, die im Dienst der Ochranka führende Stellungen in Parteien der Befreiungsbeweung eingenommen hatten, erschütterten Gorki. In der Skizze „Ein Alptraum“ (Koshmar) in der Artikelserie „Unzeitgemäße Gedanken über Revolution und Kultur“ (1917/18) ist dieser Eindruck beschrieben: „Ich kannte Gurovich, Azef, die Serebrjakova und noch eine Vielzahl von Verrätern: auf den kürzlich veröffentlichten Listen waren mir mehr als ein Dutzend Namen bekannt, sie nannten mich ‚Genosse‘, und ich glaubte ihnen, versteht sich. Als ihre Namen einer nach dem anderen auftauchten, hatte ich das Gefühl, dass jemand, ein gnadenlos böser Mensch, mir ironisch ins Herz spuckt. Das war eine der schändlichsten Verhöhnungen meines Glaubens an den Menschen“.
Erschütterungen solcher Art erlebte Gorki aber auch ohne Beziehung zu den Untaten der Provokateure, im ganz normalen Leben der Partei, das in den Jahren nach der Revolution 1905 von dem „Jesuitismus“ der führenden Genossen vergiftet war. Neues Material zu diesem Thema findet sich in dem von L.A. Spiridonova herausgegebenen Band „Koncepcija mira i cheloveka v tvorchestve M. Gor’kogo, M., 2009). Dort wird u.a. ein bisher unveröffentlichter Brief von M.F. Andreeva (Gorkis zweiter Frau) an N.E. Burenin aus dem Jahr 1909 zitiert: „Wenn Sie wüssten, was hier ringsum vorgeht, was für ein Durcheinander, Lüge, Verleumdung, welcher rasche und nicht wiedergutzumachende Verfall der Sitten, welche unersättliche Gier, den anderen zu Fall zu bringen, einzig mit dem Ziel, seinen Platz einzunehmen, und wie eine Seifenblase in allen Regenbogenfarben zu schillern. Schlimm ist das alles, so schlimm, dass es nicht zu sagen ist[...] Vorerst rate ich Ihnen: gehen Sie beiseite, vertrauen Sie niemandem, nicht einmal Nikitych [L.B. Krasin]und A.A. [Bogdanov], niemandem! Gegenwärtig sind alle damit beschäftigt, Politik zu machen und haben sich so entblößt, solche Buckel auf dem Körper ihrer Seele zum Vorschein gebracht, solche Eitergeschwüre, dass es widerwärtig und unmöglich ist, mit ihnen zusammen zu sein. Unmöglich, wenn man nicht selbst seine Seele zugrunde richten, Ehre und Anstand verlieren will“.
„Das ist ein nationaler Zug - der Nihilismus“
Gorki selbst empört sich um diese Zeit über das Verhalten Lenins, besonders über den „rowdyhaften Ton“ seines Buches „Materialismus und Empiriokritizismus“, in dem er gegen V. Bazarov und A. Bogdanov, Anhänger des Philosophen Ernst Mach, polemisierte, andernorts auch gegen Gorki selbst wegen seiner Lehre des „Gotterbauertums“ und der Parteischule auf Capri. 1909 (22. April) schreibt er an I.P. Ladyschnikow: „Hols der Teufel, wie gemein agiert Lenin!“. Aber auch mit den früheren Verbündeten in der Frage einer neuen sozialistischen Religion und anderen nahen Parteifreunden sind die Beziehungen verdorben. An E.P. Peschkova (seine erste Frau) schreibt er am 26. November 1909: „... Meine Situation ist unglaublich verworren. Nicht zu reden von der Beziehung zu Dir und überhaupt von allem Persönlichen, haben sich meine Angelegenheiten mit [dem Verlag] „Znanie“ , d.h. mit Pjatnickij, mit Ladyschnikow, und ebenso mit der Partei, mit Bogdanov und Lunatscharskij und mit allen – mit allen, begreife das! – heftig zugespitzt. Alles kracht in den Fugen, noch nie habe ich eine so schwere Zeit erlebt!“
Der Versuch einer Erklärung für diesen traurigen Befund findet sich in einem Brief an E.K. Malinovskij (26. Januar 1911): „Ja, ja – Russland ist ein hervorragendes Land, besiedelt von einem talentierten Volk, - aber die russische Intelligenzija ist ebenso barbarisch und geistig ungehobelt wie das Volk. Überhaupt – das Sprichwort vom Apfel, der nicht weit vom Stamm fällt, ist in seiner Einfachheit ein wunderbares Sprichwort und in ihm liegt die Erklärung für alle Schwankungen des Denkens, alle Krankheiten und Gebrechen, von denen unsere Miljukovs, Lenins, Struves und Bogdanovs [also Politiker des bürgerlichen Lagers ebenso wie Bolschewiken] und Menschen mit allen möglichen anderen Namen befallen sind. Das heißt nicht, dass ich Miljukov und Struve mit Lenin und Bogdanov im Sinne ihres sozialen und revolutionären Wertes gleichsetze, aber der Psychologie nach sind sie verwandt. Ihnen allen gemeinsam ist das Fehlen eines festen, standhaften Glaubens an die Sache und der Nihilismus, dem sie alle in verschiedenem Grade Tribut zollen. Das ist eben ein nationaler Zug – der Nihilismus“.
Die schärfste Äußerung zu diesem Thema findet sich in einem Brief aus dem Jahr 1908 (an A.V. Amfiteatrov, 24. September), wo Gorki von einem ungewöhnlichen Besucher auf Capri berichtet, einem Agenten der Ochranka, der den Roman „Der Spitzel“ gelesen hatte und in tiefer Verzweiflung sein Leben, seine eigene Nichtswürdigkeit verdammte: „Wir, sagt er, die Russen, sind unserer Natur nach Verräter. Revolutionäre dienen als Spione, Spione als Revolutionäre, darf so etwas denn sein? Ich nehme an, darin hat er Recht – das darf nicht sein!“ In vielen Äußerungen zu diesem Thema ist Gorki dem antirevolutionärenm Geist des Romans „Die Dämonen“ von Dostojewski nahe, aus dem das böse Wort stammt: „Das Wesen der russischen revolutionären Idee ist in der Verneinung der Ehre beschlossen“. Das Ziel der lichten Zukunft rechtfertigt alle Mittel, darunter auch den Verrat an Genossen.
Gorki war dennoch geneigt, den moralischen Nihilismus für eine zeitlich begrenzte Erscheinung zu halten, für ein Kennzeichen ausschließlich der „alten“ Intelligenzija. In dem oben angeführten Brief an E.P. Peschkova (2. Januar 1909) gibt er seiner Gewissheit Ausdruck, dass diese schwere Zeit bald enden werde, enden „mit einem starken, schöpferischen Ausbruch der Volkskräfte“: „Unsere Intelligenzija ist abscheulich. kraftlos und schlaff, aber sie wird von einer anderen, wahrhaft schöpferischen Kraft abgelöst werden!“ Alle Hoffnungen Gorkis richteten sich auf die jungen Schriftsteller aus dem Volk, Bauern, Arbeiter, Soldaten.
Bekenntnisse eines Verräters
Bekanntlich haben sich diese Hoffnungen nicht erfüllt. Die Revolution, wie sie Gorki erlebte, brachte eine neue Macht, aber keine neue moralische Ordnung. Nicht ohne Grund spielt das Thema des Verrats in den „Unzeitgemäßen Gedanken“ eine wesentliche Rolle. Als ein Zeugnis für diese bedrückende Zeiterscheinung druckte Gorki in der „Novaja gazeta“ vom 12. Mai 1917 einen an ihn adressierten Brief ab. Es ist ein Dokument der Selbstverteidigung eines Verräters, der den Adressaten und mit ihm die Gesellschaft mit allen Mitteln zu einem Freispruch bewegen will, mit Reuebekenntnissen ebenso wie mit Anklagen und Forderungen an die Adresse der „herzlosen“ Gesellschaft.
Die Absenderin befand sich als ehemalige Ochranka-Agentin in Haft. Sie war Mitglied der sozialdemokratischen Partei, Ehefrau eines Deputierten der Partei in der zweiten Staatsduma, d.h. sie war mehr als ein gewöhnlicher Parteisoldat. Und sie hatte offensichtlich die Gewohnheit bewahrt, Respekt für sich einzufordern.
Der Briefschreiber (Gorki verwandelte die Frau wegen des delikaten Charakters des Falles in eine anonyme Person männlichen Geschlechts) bezieht sich zunächst auf Gorkis Skizze „Ein Alptraum“, in der der Schriftsteller von dem Besuch einer jungen Frau in seinem Hause berichtet, die ebenfalls in der Ochranka gedient hatte und sich als ein Opfer der Umstände und ihrer Liebe zu einem Polizisten dargestellt hatte. So wie diese Frau spricht auch der Briefschreiber mit viel Gefühl von seiner ausweglosen Lage und verweist mit dunklen Andeutungen auf seine edlen Motive bei der Entscheidung für die Zusammenarbeit mit der Ochranka. Aber bald geht der Briefschreiber in den Ton der Anklage über: die Gesellschaft, die ihn jetzt mit Schmutz bewerfe, habe kein Mitgefühl mit ihm und seinesgleichen gezeigt und ihnen nicht geholfen, einen anderen Ausweg als den Verrat zu finden. Er selbst habe nie den „Glauben an den Sozialismus“ verloren und sich selbst mit dem Argument getröstet, dass seine unbedeutenden Aktionen dieser großen Bewegung nur einen minimalen Schaden zufügen würden und er es so einrichten könnte, dass „der Nutzen größer als der Schaden“ sei. „Ich rechtfertige mich nicht“, erklärt der Briefschreiber weiter, fordert dann aber nachdrücklich Mitgefühl für sich und seinesgleichen: „Wir sind doch viele, - alle beste Parteiarbeiter. Das ist keine Anomalie von einzelnen Personen, es gibt da offenbar irgendeinen tieferen und allgemeineren Grund, der uns in diese Sackgasse getrieben hat“. Der Brief gipfelt in einem Appell an den Schriftsteller: „Überwinden Sie ihren Abscheu, treten sie näher an die Seele des Verräters heran und sagen Sie uns allen: welche Motive haben uns geleitet, als wir, mit ganzer Seele an die Partei und den Sozialismus, an alles Heilige und Reine glaubend, ‚ehrlich‘ in der Ochranka dienten und, uns selbst verachtend, dennoch die Möglichkeit fanden, weiter zu leben?“
„Man sündigt abscheulich, und man bereut – noch schlimmer“
Gorki reagierte, wie zu erwarten war, mit bitterer Ironie auf diesen dreisten Versuch, von ihm nicht nur eine Freisprechung von der persönlichen Verantwortung des Täters, sondern auch noch so etwas wie eine Expertise aus der Hand eines bekannten Schriftstellers zu erlangen: „Schwer lebt es sich im heiligen Russland!“, erklärt Gorki. „Man sündigt abscheulich, und man bereut – noch schlimmer“. Besonders empörten den Schriftsteller die Worte über den Glauben an den Sozialismus und den minimalen Schaden, den der Spitzel seiner Meinung nach der Befreiungsbewegung zugefügt habe: „Könnte ein Mensch, der so seltsam und so schrecklich argumentiert, der geliebten Frau ein Ohr oder einen Finger abbeißen mit der Begründung, dass er sie ganz und gar, ihre Seele und ihren Körper liebe, während doch ein Finger, ein Ohr im Vergleich mit der ganzen Frau so unbedeutend seien?“
Betroffen zeigte sich Gorki auch von dem Gedanken an den geheimnisvollen „allgemeinen Grund“, der die vielen Verräter zu dem macht, was sie sind. Hier hatte der Provokateur aus den eigenen Reihen eine zentrale Frage gestellt, die auch den Schriftsteller bewegte. Wie kann man für all das eine Erklärung finden, nicht nur für den Verrat selbst, sondern auch für die Dreistigkeit, die in einer so „seltsamen“ und „schrecklichen“ Argumentation zum Ausdruck kam? Es gibt einen solchen Grund, erklärt Gorki salomonisch, aber es sei „ein sehr komplizierter Grund“.
Ein Aspekt dieser Kompliziertheit ist die Frage nach der Aufrichtigkeit. Kann ein und derselbe Mensch ohne Lüge und Heuchelei seine Genossen verraten, sich selbst verachten, den Sozialismus lieben und bei all dem „ehrlich“ in der Ochranka dienen? Er kann, antwortet Gorki sarkastisch, aber nicht alles gleichzeitig, sondern in verschiedenen Momenten seines Handelns, sozusagen der Reihe nach. Und dies ist nach Gorki nicht ein individueller Mangel, sondern eine Eigenschaft des Nationalcharakters: „Ein höchst origineller Zug des russischen Menschen besteht darin, dass er in jedem gegebenen Moment aufrichtig ist“. Eine gewagte These!
Für den außenstehenden Betrachter ist eine solche seltsame, fast pathologische Hingegebenheit an den gegenwärtigen Augenblick auf Kosten aller vorhergehenden und nachfolgenden Augenblicke schwer zu verstehen, und noch schwerer fällt es ihm zu glauben, dies sei eine Eigenschaft aller russischen Menschen. Wäre diese Beobachtung aber auch nur eingeschränkt zutreffend, so erscheint die Behauptung Gorkis plausibel, hier liege der Gund „für die moralische Verwirrung, in der wir zu leben gewöhnt sind“.
Das, was der Schriftsteller im weiteren Gang des Artikels beschreibt, ist derselbe moralische Nihilismus, den er im politischen Leben des Landes und besonders in den Auseinandersetzungen innerhalb der Partei beobachtet hatte. Hier wird der Befund wiederum auf die Gesellschaft als Ganzes ausgeweitet, zumindest auf ihren gebildeten Teil: „Eine Moral als das Gefühl des organischen Abscheus vor allem Schmutzigen und Schlechten und als das instinktive Hingezogensein zu seelischer Reinheit und einem edlen Verhalten, – eine solche Moral gibt es in unserem Umgang nicht“. Der Zustand der Gesellschaft, der aus diesem grundlegenden Defizit hervorgeht, erscheint in der Darstellung Gorkis als eine schreckliche Welt, in der anstelle gegenseitiger Aufmerksamkeit, Achtung und Sympathie eine Atmoshäre der Heuchelei, der schamlosen gegenseitigen Verurteilung, des gegenseitigen Belauerns herrscht: jeder schaut dem anderen in die Seele „mit dem schrägen und scharfen Blick des Feindes“. Dieser Zustand wird resümiert mit der bekannten Gedichtzeile Lermontovs „über uns“: „Beschämend gleichgültig im Guten wie im Bösen “ (Dobru i zlu postydno ravnodushny).
Der Ton der Bußpredigt hat, wie immer bei Gorki, seine Vorzüge, andererseits enthält diese Analyse aber wenig spezifisch Russisches oder Zeitbedingtes. Man könnte dem Schriftsteller erwidern, seine Beschreibung betreffe, in zugespitzter Form, den Zustand der Menschheit in jedem Land und jeder Epoche. Wo hat sich jemals eine Gesellschaft als ganze leiten lassen von dem „instinktiven Hingezogensein zu seelischer Reinheit und einem edlen Verhalten“?
Als bedenkenwerte Antwort auf die Frage nach dem Grund für den moralischen Nihilismus in Russland kann man jedoch zwei Argumente betrachten, die miteinander zusammenhängen.
1. In Russland, so meint Gorki, wird zuviel über Moral und Ehre geredet. Ein Lieblingsthema der Intelligenzija ist die „Selbstvervollkommnung“. Die hohen Anforderungen an die Einzelpersönlichkeit, die durch die ständigen Erörterungen über Verhaltensregeln geschaffen werden, leisten einer Atmosphäre der Heuchelei Vorschub, besonders bei Menschen mit einem schwachen Charakter.
2. Das bedeutet zugleich, dass in der Gesellschaft nicht echte Gewohnheiten eines moralischen Handelns verbreitet werden, also beständige „Gefühle“ des Anstands, der Ehre, der Würde usw., sondern nur „Worte“, die sich als bloße Hülsen der moralischen Werte erweisen können, die sie bezeichnen. Der Nächste, nach Gorkis Darstellung eher der Feind seines Mitmenschen, tritt als „slovesnik“ auf, d.h. als ein Sprachlehrer, ein Mensch, der nicht fühlt, sondern räsonniert und der seinem Gegenüber fortwährend „etwas beweist“, am liebsten die eigene Überlegenheit über ihn.
Einleuchtend sind diese Argumente aber nur mit Einschränkungen. In der negativen Bewertung der „Selbstvervollkomnung“ kommt allzu deutlich Gorkis geringschätzige Einstellung zu den Problemen der Persönlichkeit, den „Scherereien mit sich selbst“ zum Ausdruck. Schuld an dem moralischen Nihilismus ist gewiss nicht eine übertriebene, sondern eher eine mangelhafte Beschäftigung mit dem intimen Leben der Persönlichkeit . Dennoch verdienen diese Gedanken Gorkis in vielem ernsthafte Aufmerksamkeit. Sie berühren sich auch mit den Thesen heutiger Kulturologen über den „wortlastigen“, „buchmäßigen“ oder „literarischen“ Charakter der Kultur in Russland.
Das von Gorki öffentlich gemachte Gespräch eines ehemaligen Spitzels mit einem bekannten Schriftsteller ist nicht nur ein interessantes Zeugnis über die Verhältnisse kurz nach der Oktoberrevolution in Russland, es hat auch eine neue Aktualität in Bezug auf analoge Probleme in den postkommunistischen Staaten unserer Tage erhalten. Es bietet sich an, die Argumentation des ehemaligen Mitarbeiter der Ochranka z.B. auf die ehemaligen „seksoty“, die geheimen Mitarbeiter der sowjetischen Sicherheitsorgane, anzuwenden. Ein Teil von ihnen war ähnlich wie ihre Vorgänger in der Befreiungsbewegung des Jahrhundertanfangs unter staatlichem Druck zu dieser verräterischen Tätigkeit genötigt worden. Weit größer als in vorrevolutionärer Zeit dürfte aber der Anteil der freiwilligen heimlichen Informanten der Staatsorgane gewesen sein, denn die staatliche Propaganda unter Stalin zielte auf eine systematische Umkehrung des traditionnellen Bildes vom Spitzel im Staatsdienst ab. Aus dem niederträchtigen Verräter und Denunzianten sollte ein edeler Ritter werden, der den „Organen“ half, „Feinde“ zu entlarven, wenn nötig sogar in der eigenen Familie. In besonders krasser Form äußerte sich diese Tendenz in der Kampagne um den Pionier Pawel Morozov, der seinen Vater angezeigt hatte und deshalb von Verwandten ermordet worden war.
Für die Spitzel der Sowjetzeit war es sogar wesentlich leichter, ihr Gewissen zu beruhigen, falls es sich melden sollte. Sie hatten ja nicht wie die Verräter in der Ochranka die Seiten gewechselt, sondern waren nach ihrem Selbstverständnis zeitlebens treue Anhänger der Revolution und des Staates gewesen. Mancher von den Überlebenden dieser ehemaligen seksoty mag heute Briefe an Behörden oder nachfragende Journalisten schreiben, die dem Brief an Gorki aus dem Jahr 1917 in der Tonlage sehr ähnlich sind. In Deutschland wird diese Diskussion um die ehemaligen IM wesentlich offener geführt. Es sind auch in weit größerem Umfang Erinnerungen von Betroffenen, meist Opfern von Denunziationen, erschienen. Soweit sich die Täter auf Diskussionen einlassen, neigen sie in der Regel dazu, sich selbst als Opfer zu sehen oder beanspruchen den Respekt, der Überzeugungstätern zusteht. In Russland sind die Bedingungen für eine öffentliche Debatte ungleich schwieriger, weil alle Probleme der Vergangenheit von dem „imperialen Syndrom“, dem Gefühl der Kränkung durch den Verlust des Imperiums, überwogen und marginalisiert werden. Das wird wohl auch so bleiben, solange Opfer und Täter noch am Leben sind.
Gibt es nun wirklich jenen einen „allgemeinen Grund“ für das Verrätertum, von denen Gorki und sein Korrespondent gesprochen haben, ohne eine befriedigende Antwort darauf geben zu können? Sicher ist nur, dass es keine einfachen und eindeutigen Antworten auf diese Frage geben kann. Das wird auch in Gorkis genannten künstlerischen Werken zu diesem Thema, „Der Spitzel“ und „Karamora“, deutlich, die noch weit kompliziertere Antworten enthalten als die Publizistik Gorkis. Gerade deshalb scheint mir allerdings der Künstler Gorki ein interessanterer und überzeugenderer Gesprächspartner in dieser Sache zu sein als der Publizist und Briefschreiber. Der Publizist hat die Aufgabe zu generalisieren, der Künstler präsentiert Einzelfälle. Jeder Fall erlaubt zwar gewisse Verallgemeinerungen, aber seine Glaubwürdigkeit beruht doch auf der Einzigartigkeit des Falls.
„DER SPITZEL“ (Leben eines unnützen Menschen, erschienen 1908)
Evsej Klimkov, mit sieben Jahren Vollwaise, gerät in den Kreis der Spione unzweifelhaft deshalb, weil er einsam ist und in ständiger Angst vor den Mächtigen dieser Welt lebt. Er dient ihnen mit Furcht und in der Hoffnung auf ein gutes Wort. Gewalt, Lüge und Verrat gehören zu den normalen Bedingungen der Welt, in der zu leben er gezwungen ist. Der Besitzer des Buchladens, in dem Klimkov als Lehrjunge arbeitet, lockt im Dienst der Ochranka Studenten mit verbotenen Büchern an, um sie dann zu denunzieren. Klimkov, der „ängstliche Zuschauer“ in dieser Welt, ist auf grund seiner beschränkten geistigen Fähigkeiten nicht in der Lage, sich eine selbständige Meinung über die Verhältnisse zu bilden. Sein Verhalten wird von den Instinkten der Selbstbewahrung und des Misstrauens gegen die Menschen gesteuert. Dennoch gehört er nicht zu denen, die Gorki (mit Lermontov) „Beschämend gleichgültig im Guten wie im Bösen “ nennt. Er weiß sehr gut, wer Achtung und wer Hass verdient, und seine Auswahl fällt im wesentlichen mit der des Autors zusammen. Mit anderen Helden Gorkis (Foma Gordeev u.a.) verbindet ihn der Traum von einem „anderen Leben“, einem Leben ohne Gewalt, Trunksucht und Betrug – „etwas Zärtliches und Ernsthaftes, wie der Gottesdienst in der Kirche“.
Die politische Erziehung im Milieu der Gendarme und Spione führt Klimkov zwangsläufig in die Kreise der Monarchisten und Nationalisten. Vertreter verschiedener konservativer Richtungen von gehorsamen Untertanen des Zaren bis zu Fanatikern des rechten Terrorismus nehmen in dem Roman viel Platz ein. Im Bewusstsein des kleinen Spitzels entsteht das Bild eines großen Russlands.in dem sich „Schreckliches ereignet“: der demütige russische Mensch geht unter, seinen Platz besetzen Menschen „mit einem verdorbenen Verstand“ und Agenten fremder Mächte, die riesige Gehälter bekommen, um „unseren Staat zu schwächen“. (Vieles erinnert hier an die patriotische Phraseologie im heutigen Russland.)
In der Person Saschas, des Vorgesetzen Klimkovs in der Ochranka, zeigt Gorki einen potentiellen Diktator des faschistischen Typs. Er kommt aus dem Bauerntum und träumt von der Vernichtung aller „angesehenen Leute“ , der Aristokraten, der Schriftsteller, der „sittenlosen Weiber“ - all derer, die „mich stören, einfach zu leben“. (Dieses Thema hat Gorki in der Prosa der zwanziger Jahren weiter entwickelt). Klimkov fürchtet diesen Menschen und hasst ihn zugleich. Als Sascha in den Tagen der ersten russischen Revolution 1905 die Spione zum Kampf gegen die „Feinde“ aufruft, hat der Held des Romans schon jede politische Orientierung verloren und sympathisiert nur aus rein menschlichen Gründen mit einer Gruppe von Revolutionären. Er macht sogar einen Versuch, diesen Menschen seine Rolle des Provokateur zu offenbaren. Die empörten Reaktionen von seiten der Revolutionäre enttäuschen und kränken ihn, so dass er sich nun berechtigt sieht, sie den Gendarmen auszuliefern. Nachdem er diese Gemeinheit begangen hat, verfällt er in einen Zustand dumpfer Hoffnungslosigkeit. Im Haus des Schrifstellers Mironov, dem er im Auftrag eines Spitzel-Kollegen das Manuskript der Lebensgeschichte dieses Menschen übergibt, kommt er zu einem spontanen Entschluss: „Erlauben Sie auch mir, Ihnen mein Leben zu erzählen...“
Die Situation des intimen Gesprächs des Helden mit einem bekannten Schriftsteller (in Mironov kann man an einigen Zügen Gorki selbst erkennen) bot dem Autor des Romans die Möglichkeit, von sich aus ein letztes Wort in dieser Sache zu sagen, wie Gorki es ein Jahrzehnt später in den „Unzeitgemäßen Gedanken“ getan hat. Überraschend hat der Autor auf diese Möglichkeit verzichtet. Als Sieger geht aus diesem Streit, wenn man überhaupt von einem Streit sprechen kann, nicht der große Schriftsteller, sondern der kleine Spitzel hervor. Das heißt nicht, dass Gorki seinen Helden ohne Schuld sieht. Die Zweifelhaftigkeit der Selbstverteidigung Klimkovs ist offensichtlich, er hält sich für nicht schuldig und ähnelt in diesem Punkt dem Briefschreiber in den „Unzeitgemäßen Gedanken“. Aber er ist dennoch eine ganz andere Persönlichkeit. Er hat in diesem Gespräch nichts anderes gesucht als die Möglichkeit, sein Leben zu erzählen, und er erzählt dieses Leben in erster Linie nicht Mironov, sondern sich selbst: „Über sich zu erzählen war angenehm, Klimkov hörte seiner Stimme mit Erstaunen zu, er sprach wahrhaftig und sah klar, dass er an nichts schuld war. Er hatte doch sein Leben nicht so gelebt, wie er es wollte! Sie hatten ihn immer gezwungen etwas zu tun, was ihm unangenhem war. Er tat sich aufrichtig leid, war fast bereit zu weinen und betrachtete sich selbst mit Bewunderung“. Im Prozess des Erzählens, so erklärt der Autor, befreit Klimkov „seine kleine, schwächliche Seele von den schmutzigen und schweren Lumpen ihrer Erlebnisse“.
Im Vergleich mit dem kirchlichen Ritual der Beichte kann dieser Akt als eine boshafte Parodie erscheinen: es gibt keine echte Reue, die Sündenvergebung erledigt der Beichtende selbst, und der Geistliche (in Gestalt des Schriftstellers) ist zu der Rolle eines passiven Zuhörer verurteilt. Mironov versucht nach dem Ende der Erzählung vergeblich, seinen Besucher zu einer kritischen Sicht auf das eigene Verhalten zu veranlassen. Auf die Frage, ob ihm die Menschen, die er verraten hat, nicht leid täten, antwortet er, früher hätten sie ihm wirklich leid getan, aber jetzt sehe er keinen Anlass dazu: „Sie sind doch gute Menschen und haben erreicht, was sie wollten...“ Und auf die Frage, ob er nicht glaube, dass er sich mit einer schlechten Sache beschäftige, sagt er: „Sie gefällt mir ja auch nicht, ich tue das, was man mir befiehlt...“ Der Schriftsteller befindet sich in einer Situation des Zweifels und der Ratlosigkeit. Der Gast bittet um nichts, nicht um Rechtfertigung und auch nicht um einen Rat oder gar eine Expertise, wie der Spitzel aus den „Unzeitgemäßen Gedanken“. Eine Persönlichkeit von großer Autorität, Kenner der menschlichen Seele und Verkünder der Freiheit und Würde des Menschen ist mit seiner Kunst am Ende. Er hat dieser in ewiger Angst lebenden „russischen Seele“ nichts zu sagen.
Klimkov ist dennoch kein Doppelgänger des Spitzels aus den „Unzeitgemäßen Gedanken“. Er ist weit entfernt von der Dreistigkeit des Briefschreibers und erzählt sein Leben ohne taktische Winkelzüge und Ausflüchte, mit leiser Stimme; seine Aufmerksamkeit ist nicht auf den Zuhörer, sondern ausschließlich auf das eigene Innere gerichtet, er „horcht auf die Leere in seiner Brust“. Eines der Leitmotive des Romans ist die stereotype Antwort „Ich weiß nicht“, er gibt sie auf alle Fragen, die wesentliche Probleme seines Lebens betreffen. Im Grunde hat er schon bei Mironov mit seinem Leben abgeschlossen, obwohl bis zu seinem Selbstmord noch einige Zeit vergeht. Das Ende dieses „unnützen“ (d.h. von niemandem beachteten und gebrauchten) Menschen auf den Geleisen der Eisenbahn, einem Symbol der schrecklichen Welt, in der er zu leben gezwungen war, spricht in verallgemeinertem Sinn davon, dass der „in Angst lebende russische Mensch“ den Geschmack der Freiheit noch lange nicht kennen lernen wird. In massenhafter Erscheinung existiert er weiter, und es erwarten ihn die Prüfungen der Revolution und des lenin-stalinschen Sozialismus.
„KARAMORA“ (1924)
Petr Karazin (genannt Karamora, Schnake oder Stechmücke) ist seinem Charakter nach das direkte Gegenteil des ängstlichen Klimkov. Stark, intelligent, stolz und unabhängig, erscheint er als ein musterhafter Vertreter der „Epoche der Provokateure“. Den Platz des Gewissens besetzt bei ihm die Neugier, er ermordet oder begnadigt seine Opfer, Genossen der eigenen Partei, einzig zu dem Zweck, um zu sehen, „was dann sein wird“. Der Maßstab seiner Verbrechen lässt allem Anschein nach keine andere Lösung zu als die Darstellung eines Monstrums. Ihn dennoch nicht nur als einen „interessanten Verbrecher“, sondern als einen Menschen darzustellen, der die Achtung und sogar ein gewisses Mitgefühl des Lesers verdient, war ein kühnes Projekt, das die Kraft und Unabhängigkeit des Künstlers Gorki bezeugt. Man muss dazu bedenken , dass es hier nicht um einen kleinen Spion in den Wirren der ersten russischen Revolution ging, sondern um einen Provokateur des Formats von Azef, der im Land der siegreichen Bolschewiki im Gefängnis sitzt und seine Hinrichtung erwartet. Die Kritik in Russland begegnete diesem Werk im Todesjahr Lenins mit Irritation oder offener Ablehnung. Es kam einen Skandal gleich, dass der „Sturmvogel“ hier offenkundig auf den Spuren Dostojewskis wandelte.
In einem Brief an Romain Rolland vom 6. August 1923 teilt Gorki dem Freund mit, dass er ein „böses Werk“ mit dem Titel „Erzählung eines Banditen“ geschrieben habe. So lautete der ursprüngliche Titel der Erzählung „Erzählung von einem Helden“, einer eigentümlichen Wiederaufnahme des Themas von „Der Spitzel“. Die Beschreibung des Inhalts im Brief an Rolland bezieht sich aber offensichtlich auf „Karamora“: „Ich schreibe über einen gewissen russischen Helden, einen aufrichtigen Revolutionär, der gleichzeitig ein aufrichtiger Provokateur war und seine Freunde an den Galgen geschickt hat. Das ist nicht Azef, den ich kannte und der, wie mir scheint, einfach ein Vieh war, gierig nach Vergnügungen. Nein, mein Held ist schlimmer. Er hat tatsächlich große Taten der Selbstaufopferung vollbracht, aber einmal ‚kam ihm der Wunsch, eine Gemeinheit zu begehen‘ [Zitat aus A.N. Ostrowskis Drama „Wölfe und Schafe“], wie er selbst vor Gericht erklärte.“ „Mich quält dieses Rätsel – die menschliche, russische Seele“, erklärt Gorki. „In den vier Jahren der Revolution hat sie sich schrecklich und breit entfaltet, ist so grell aufgelodert. Was wird geschehen – wird sie verbrennen und nur Asche zurücklassen – oder?“. Als Antwort auf diese Frage schrieb Gorki eines der vieldeutigsten Werke seines Schaffens. „Karamora“ enthält eine ganze Enzyklopädie nicht nur zum Thema des Verrats, sondern auch zum Menschenbild Gorkis.
Petr Karazin – ein einsamer Übermensch
Karazin sitzt allein in seiner Zelle, man hat ihm Papier gegeben, damit er sein Geständnis schreiben kann. Aber er schreibt nicht für seine Richter, die er verachtet, sondern ausschließlich für sich selbst. Ein solche stolze Einsamkeit war charakteristisch für sein ganzes Leben. Er hielt sich für besser, klüger als seine Kameraden. Seine ungewöhnlichen geistigen Fähigkeiten erlaubten ihm, auf jedes Argument eine Erwiderung zu finden; seinem ersten Lehrer in der Parteiorganisation bewies er ständig seine geistige Überlegenheit. Karazin verachtete Menschen, die blind an die eine und einzige Wahrheit glauben, für die sie sich einmal entschieden haben. Es gefiel ihm, Menschen zu kommandieren, es bereitete im Vergnügen, Macht über sie zu haben. Karazin verließ sich auf nichts und niemanden, außer auf seinen eigenen Willen und seinen Verstand. Eines der leitenden Prinzipien seines Lebens lautet „min din min“ – ich bin ich -, eine Formel die er von einem tatarischen Bekannten gehört hatte. Die Liebe zu Menschen hält er für eine Erfindung, was seiner Meinung nach durch die „naive Lehre Christi“ hinreichend bewiesen ist. Es versteht sich, dass Karazin nicht an Gott glaubt. Er fürchtet auch sonst nichts, mit Ausnahme der Astronomie, angsterregend ist für ihn nur der leere Himmel.
„Ein zerstückelter Mensch“
Als ein geschworener Individualist ist Karazin dennoch kein „ganzheitlicher“ Mensch, d.h. ein Mensch mit unverrückbaren Überzeugungen und geradlinigen Prinzipien des Verhaltens. Die Erzählung „Karamora“ ist die Quelle einer bekannten, oft zitierten Formel Gorkis, der Einteilung der Menschen in „ganzheitliche“ (cel’nye) und „zerstückelte“ (razdroblennye). „Der ganzheitliche Mensch ähnelt immer einem Ochsen, - mit ihm ist es langweilig“, erklärt Karazin. Zu den ganzheitlichen Menschen zählt er die Revolutionäre, die nichts anderes brauchen als Enthusiasmus und den Glauben an sich. Die anderen, aus Teilstücken zusammengesetzten, gespaltenen, ungeordneten und widersprüchlichen Menschen sind „interessanter“: „Das Leben schmückt sich mit nutzlosen Dingen“.
Das Merkmal der Spaltung und „Zerstückelung“ offenbart sich deutlich in der Situation des Schreibens: „In mir lebten zwei Menschen, und der eine kam mit dem anderen nicht zurecht“. An einer anderen Stelle wächst die Zahl der verschiedenen Teilpersonen innerhalb des einen Ich auf vier an: Einer schreibt, der Zweite widerspricht dem ersten und ist sich selbst fremd, der Dritte beobachtet die beiden, folgt ihren Streitigkeiten, und ein Vierter denkt darüber nach, wer der Dritte sein könnte: ist er ein Freund des Schreibenden oder, womöglich, „sein schlimmster Feind“? Diese Konstruktion drückt sich in der Erzählstruktur aus, nirgendwo gibt es eine einzige, verlässliche Wahrheit, alle Äußerungen des Schreibenden über sich, über die Motive seines Handelns und seine Überzeugungen unterliegen dem Zweifel: „Nun, ich werde weiter schreiben über das, was ich nicht verstehe“. Zuweilen widerruft der Schreiber das soeben Geschriebene, streitet mit sich selbst. Aber nie ist er gleichgültig oder gelangweilt, immer in Hochspannung. In diesem Erzählmodus eines inneren Dialogs ist deutlich der Einfluss Dostojewskis zu bemerken, besonders der seiner „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“. Karazin selbst bekennt sein lebhaftes Interesse an Dostojewskis „Spiel der vielen Personen in der einen eigenen“.
Zu den verschiedenen Erscheinungen der Spaltung gehört auch das gestörte Verhältnis zwischen Gefühl und Verstand, ebenfalls ein Generalthema Gorkis. Karazin sucht vergeblich nach der Einheit von Fühlen und Denken, dem "„glaubenden Gedanken“. Die Idee des Sozialismus hat er nur als abstrakte Idee, d.h. mit dem Verstand, aufgenommen, ohne die emotionalen Verankerungen in der eigenen Person, wie sie in der Treue zur Sache des Sozialismus und in der Liebe zu den Menschen gegeben sind. In Bezug auf den Sozialismus besitzt er „keine Seele“.
„Der Verstand sagte mir nicht, was gut und was schlecht ist“
Der Gedanke über den Verstand als falschen Kompass für das Verhalten des Menschen bestimmt auch die Überlegungen des Helden zu dem zentralen Thema der Erzählung, dem Phänomen des Verrats und seiner Gründe. Schon in der Jugend hat Karazin an sich selbst die Unfähigkeit zur Unterscheidung zwischen Gut und Böse beobachtet: „Der Verstand sagte mir nicht, was gut und was schlecht ist. Das ist anscheinend überhaupt nicht seine Sache. Mein Verstand ist neugierig wie ein kleiner Junge, und offenbar gleichgültig gegenüber Gut und Böse“. Das Gewissen als Indikator einer emotionalen Reaktion protestiert nicht, wenn Karazin Verbrechen begeht. Die Hinrichtung eines Verräters in den Reihen der Partei vollzieht er äußerst kaltblütig, und als ihm der Beamte der Ochranka anbietet, anstelle der Todesstrafe, die ihn erwartet, die Aufgabe des Getöteten zu übernehmen, also Provokateur zu werden, stimmt er mit einer Leichtigkeit zu, die ihn selbst überrascht. Warum existiert in ihm keine moralische Barriere, oder warum funktioniert sie nicht? Letztlich bleibt diese Frage auch in „Karamora“ offen wie zuvor in dem Roman „Der Spitzel“. Das Problem des „schweigenden Gewissens“ wird auch hier anschaulich (und ebenso in „Das Leben des Klim Samgin“) mit dem Bild der „leeren Seele“ beschrieben, aber es wird nicht erklärt und scheint nicht erklärbar.
Dabei gehört Karazin im realen Leben nicht zu denen, die sich nach Lermontov „beschämend gleichgültig im Guten wie im Bösen“ verhalten. In dem Oberst der Ochranka Osipov, der nach seiner ersten Verhaftung die Untersuchnung führt, erkennt Karazin einen „ordentlichen“ und sogar „gutmütigen“ Menschen, der den Beschuldigten mit einer fast väterlichen Besorgtheit behandelt. Mit der freundlichen Saschka, einer Kinderärztin, die sich „von Belletristik ernährt“, unterhält er einige Zeit ein Liebesverhältnis, bis erneut sein Misstrauen gegenüber den Menschen die Oberhand gewinnt.
„Der Mensch ist ein Tier, das den Verstand verloren hat“
Als ein ihm nahestehender Mensch und Gesprächspartner erweist sich ein weiteres Mal ein Beamter der Ochranka. Simonov, ein Sonderling an der Grenze zum Pathologischen, lässt sich in seiner Tätigkeit von einer Philosophie leiten, die ebenso zynisch wie praktisch ist: „Der Mensch ist ein Tier, das den Verstand verloren hat“. Als einzig zuverlässiges Lehrbuch über die Natur des Menschen empfiehlt er Brehms „Tierleben“. Die Werte des Guten und Bösen haben ihre Gültigkeit verloren, ihre Anwendung in den gegenseitigen Beziehungen der Revolutionäre und der Sicherheitsorgane erscheint ihm unangebracht. Die Hauptsache auf beiden Seiten ist das Vergnügen, das aus dem Spiel und der Jagd hervorgeht. In Karazin erkennt Simonov die Fähigkeit zum Spiel, vor allem dem Spiel mit sich selbst. Mit den Ansichten seines neuen Mitarbeiters ist er allerdings nicht immer einverstanden. „Sie sind im Grunde ein guter Kerl“, sagt er und rügt ihn oft mit der Bemerkung „Wie haben doch die Intellektuellen Sie verdorben!“
„Uns fehlt die Gewohnheit anständig zu leben“
Karazin ist von dem moralischen Nihilismus Simonovs beeindruckt. Vielleicht hat er recht, vielleicht ist wirklich alles Gerede von Moral ausgedacht und erlogen, und er, Karazin, ist berufen, den Menschen die Wahrheit zu sagen wie der Junge in Andersens Märchen: „Der Kaiser ist doch nackt!“ Aber vorerst ist er noch nicht bereit, eine so radikale Lösung zu akzeptieren. „Von den Intellektuellen verdorben“, sucht er konkrete Gründe für die schwankende Haltung der Menschen. Er erinnnert sich an sein Leben unter den Revolutionären im Verlauf von fast zwei Jahrzehnten und kommt zu dem Schluss, dass das eine schlechte Schule der Moral war. „Die Gewohnheit anständig zu leben – das ist es, was den Menschen in der ganzen Gesellschaft, insbesondere aber auch den Genossen fehlt. „Ihr Alltag widersprach ihren ‚Überzeugungen‘, ‚Prinzipien‘, den Dogmen ihres Glaubens. Dieser Widerspruch offenbarte sich besonders heftig in den Methoden der Fraktionskämpfe, in der Feindschaft zwischen Menschen eines Glaubens, aber verschiedener Taktik“. Hier fanden der „schamloseste Jesuitismus“ und die „gemeinen Tricks von Hazardspielern“ ihren Platz. Diese Beschreibung erinnert an die bedrückenden Erfahrungen Gorkis in den Jahren nach der Revolution von 1905 (insbesondere die mit Lenins Verhalten), die Positionen des Verräters Karazin und des Autors Gorki sind hier besonders eng beieinander: Diejenigen, die sich die Aufgabe gestellt haben, „das Leben umzubauen“, die Menschen umzuerziehen, handeln nach der Devise „im Kampf sind alle Mittel erlaubt“, - und eben damit ist ihre Sache zum Scheitern verurteilt. Die Befreiungsbewegung, nach dem Selbstverständnis ihrer Teilnehmer ein Ort der Ehrenhaftigkeit und Selbstaufopferung, erweist sich als eine der Quellen des moralischen Nihilismus. Der Genosse Basov, Bolschewik und Untersuchungsrichter in der Sache Karazins, ist offenbar nicht geeignet, das Licht einer neuen Moral in diese finstere, verwirrte Welt zu tragen. In den Augen des Helden gehört Basov zu den uninteressanten „ganzheitlichen“ Persönlichkeiten. Basov wird sich nicht ernsthaft für die Persönlichkeit des Verräters interessieren, wie es seine Vorgänger in der Ochranka getan haben. Man wird über ihn Gericht halten und ihn hinrichten, nichts weiter.
Die Amoralität der Revolutionäre dient dem Helden jedoch nicht als Argument der Selbstverteidigung. Er verzichtet überhaupt auf jede Rechtfertigung; die Anerkennung der persönlichen Verantwortung für seine Taten entspricht seiner stolzen Natur. Gründe für sein Verhalten sucht er ausschließlich in sich selbst.: „Warum ertönte in meiner Seele kein Pfiff, keine Glocke, kein Schrei, nichts, was mich auf dem Weg zum Verrat aufgehalten hätte?“ Um eine Antwort darauf zu finden, lieferte Karazin den Gendarmen einen der besten Parteigenossen aus, einen Menschen von seltener Anständigkeit, und wartete, dass jetzt in seiner Seele „etwas aufheulte“. Nichts heulte auf. Am Ende seiner Aufzeichnungen ist Karazin bereit, Simonov zu folgen und die verwirrenden Fragen nach Gut und Böse für Erfindungen der „Lehrer des Lebens“ zu halten. Aber so einfach löst Gorki das Rätsel nicht. In den vorhergehenden Zeilen kommt dem Schreibenden ohne besonderen Anlass die Erinnnerung an die Genossin Tasja in den Kopf, eine gläubige Revolutionärin und ein liebes Mädchen. „Warum habe ich mich plötzlich an sie erinnnert? Ich habe sie den Gendarmen nicht ausgeliefert“. Gut und Böse existieren, aber sie zu erkennen, dazu taugt nicht der Verstand, sondern nur das Gefühl, das Unterbewusstsein, das spontan reagiert. Als künstlerisches Verfahren geht dieser Gedanke wiederum auf Dostojewski zurück.
Eine seltsame Verwandtschaft – der Verräter und der Künstler
Karazin hat unter seinen Genossen von Anfang an die Reputation eines „ideologisch schwankenden“ Menschen, der zu „Romantik“ und „Metaphysik“ neigt. Ein Revolutionär ist dagegen „verpflichtet, Materialist zu sein“, erklärt der Genosse Basov. Die Partei hat überhaupt Vorbehalte gegenüber Menschen, die wie Karazin zu der Erkenntnis fähig sind, dass „alles auf der Welt auch seine Schattenseite hat“: „Der Zweifelnde ist immer verdächtig“. Dieselben Schwierigkeiten ergaben sich auch in den Beziehungen des Schriftstellers Gorki zu der Partei Lenins. Dabei ging es nicht nur, oder eigentlich gar nicht, um politische Meinungsverschiedenheiten. Die genannten Neigungen, die sich als „schädlich“ im Rahmen der politischen Arbeit erwiesen, bezeichneten zugleich die unerlässlichen Voraussetzungen für die Arbeit des Künstlers: Unabhängigkeit, Unvoreingenommenheit, die Bereitschaft, Menschen nicht als Freunde oder Feinde, sondern als komplizierte, „zerstückelte“ Wesen zu betrachten und darzustellen. Der Held der Erzählung bezeichnet dieses Einstellung als „Interesse am Menschen in seiner Vollständigkeit“, als „Interesse einfach am Menschen“, eine Einstellung, die er selbst als aufmerksamer Beobachter der ihn umgebenden Menschen anwendet und die er sich auch von den anderen in Bezug auf sich selbst wünscht. Es ist bezeichnend, dass er diese menschliche Aufmerksamkeit nicht bei seinen Genossen, sondern bei Vertretern des Klassenfeinds findet, die genauso untypisch für ihre Klasse sind wie er für die seine.
Zu den Eigenschaften des Künstlers, die auf paradoxe Weise mit denenen des Spions zusammenfallen, gehört auch die Neugier. Beim Künstler ist sie ein „reines“ Interesse, beim Spion dagegen von den professionellen Aufgaben gesteuert. Karazin, dessen Verstand „neugierig wie ein kleiner Junge“ ist, erscheint auch hier dem Künstler nahe. Er zeigt auch das Interesse an der Psychologie, an der „Vielfalt des inneren Lebens“, ein Interesse, das Gorki – auf den Spuren Dostojewskis – erst in der letzten Periode eines Schaffens in sich entdeckte.
In „Karamora“ ist, außer den Reminiszenzen an Dostojewski, auch der Einfluss der sogenannten „Judas-Belletristik“ der Jahre nach 1905 zu bemerken, in deren Mittelpunkt ein neuer Blick auf die Gestalt des biblischen Judas stand. Der Verräter Christi erschien dort als stolzer, kluger und furchtloser Held, dessen Verrat von edlen Motiven geleitet war, der Verteidigung der Freiheit des Volkes oder der Bestätigung der göttlichen Natur des Heilands. Das bekannteste Beispiel auf dieser Linie war die Erzählung „Judas Ischariot“ von Leonid Andreev. Eine vergleichende Betrachtung der „Judas-Belletristik“ mit den Werken Gorkis wäre eine eigenes Thema. (Interessantes Material dazu in dem Buch von I. Vajnberg, „Za gor’kovskoj strokoj“, M. 1976, S. 387-394).
Evsej Klimkov und Petr Karazin unterscheiden sich bei einem Vergleich vor allem nach dem Kriterium der Größe und Bedeutung – der „kleine Spion“ und der „große Verräter“. Bei einem Vergleich mit dem realen Ochrana-Spitzel in Gorkis „Unzeitgemäßen Gedanken“ erscheinen sie dagegen als Personen gleicher Größe. Im Gegensatz zu diesem erbärmlichen Menschen, der mit geheuchelter Reue Mitleid für sich fordert, haben sie beide ihre Würde bewahrt und übernehmen die volle Verantwortung für ihre Untaten. Klimkov hält sich zwar für nicht schuldig, aber er ist zutiefst unglücklich und scheidet ohne Anklagen aus dem Leben. Mit ähnlichen Gefühlen sieht Karazin seiner Hinrichtung entgegen. Beide Helden erscheinen so der Aufmerksamkeit und des Mitgefühls der Leser würdig, auch wenn sie geeignet sind, Irritationen auszulösen. In ihrer Darstellung kommt die Beziehung nicht des Ideologen und Politikers, sondern des Künstlers zu seinem Gegenstand zur Geltung, das „Interesse am Menschen in seiner Vollständigkeit“. Beide Helden verkörpern jene „menschliche, russische Seele“ (in dem Brief an Rolland), um deren Schicksal in den Wirren der Revolution sich Gorki Sorgen machte. Diese russische Seele ist, wie die behandelten Werke zeigen, nicht zu Asche verbrannt und nicht zu denen übergegangen, die sich „gleichgültig im Guten wie im Bösen“ verhalten, aber sie hat von diesen Erlebnissen ernsthafte Beschädigungen erlitten, die sich bis in unsere Tage bemerkbar machen.
Thematisch nahe Einträge
Neugier
„Ich liebte ihn im Zorn“ – Gorki über Lenin
Als Beleg für die fortdauernde Aktualität des Themas ein Interview mit dem Schriftsteller Fazil‘ Iskander in der „Rossijskaja gazeta“: „Dushno zhit‘ bez sovesti“ (Es fehlt die Luft zum Atmen, wenn man ohne Gewissen lebt)
Aus den Veröffentlichungen zum Thema in Deutschland:
Christoph Läpple, Verrat verjährt nicht. Lebensgeschichten aus einem einst geteilten Land, Hoffmann und Campe Hamburg 2008, tb Piper 2009
Hinweise zu deutschen Übersetzungen
Den Artikel mit dem Brief eines ehemaligen Ochrana-Agenten an Gorki findet man in: Maxim Gorkij, Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution, Hg. Bernd Scholz, Frankfurt a.M. (Insel) 1972, suhrkamp tb.1974, S. 44-47.
„Der Spitzel“ (Leben eines unnützen Menschen), übersetzt von Fred M. Balte ist als Bd. 6 in der Ausgabe Maximn Gorki, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, 1-14, 1926/30 im Berliner Malik-Verlag erschienen, 1987 im Neuen Malik-Verlag, Kiel. (Einzelne Exemplare bei ZVAB vorhanden)
Die Erzählung „Karamora“ findet man in der Ausgabe Maxim Gorki, Das blaue Leben. Erzählungen 1922-1924, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar1974 und in älteren Ausgaben gleichen Titels (s. ZVAB)