Über Heldentaten und das ganz normale Leben – Aleksej Slapowskijs Roman „Das Phönixsyndrom“
Sonntag, 20. November 2011, 12:13:08

In russischer Sprache finden Sie den Eintrag hier.
In einem Roman unserer Zeit wird Gorkis „Lied vom Falken“ zitiert, und der Autor meint zu diesem Lobgesang auf den „Wahnsinn der Tapferen“: Der Mensch wird geboren, um zu leben, nicht, um „ein Beispiel zu geben“. Aleksej Slapowskijs Buch „Das Phönixsyndrom“ (Sindrom Feniksa) liegt schon länger bei mir (erschienen 2007), Gorkis „Romantiker“ (siehe den vorigen Eintrag) brachte es mir wieder in Erinnerung. Slapowskij ist in Deutschland nur mit einigen Aufführungen als Dramatiker bekannt, in Russland werden auch seine Romane viel gelesen. „Das Phönixsyndrom“ enthält, eingebettet in eine unterhaltsame Liebesgeschichte und viel ‚Landeskunde‘ über das heutige Russland, einen anregenden Diskurs über die Bestimmung des Menschen. Schade, dass es nicht ins Deutsche übersetzt ist.
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Tatjana, eine ansehnliche Frau von resolutem Charakter, alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen, Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschaft, hat ein Problem. Ein seltsamer Mensch, ein Obdachloser, der alles mit kindlichem Staunen betrachtet wie ein Gast aus einer anderen Welt, hat sich an ihre Fersen geheftet und wartet vor ihrem Haus, bis sie ihm schließlich erlaubt, in ihrer Scheune zu wohnen. Goscha (so nennt ihn Tatjana), hat offenbar sein Gedächtnis verloren. Es beginnt eine Suchaktion nach seiner Vergangenheit, an der sich neben Tatjana auch ihr nichtsnutziger Mann (den sie aus dem Haus geworfen hat), Nachbarn und die Miliz beteiligen. Goscha zeigt Talente als Tischler, als Automechaniker, als Fußballer, scheint sich auch in der Welt der Spieler und Betrüger auszukennen. Ist er ein Außerirdischer, ein untergetauchter Bandit, womöglich ein Mörder? Sein freundliches Wesen spricht dagegen, besonders sein väterlicher Umgang mit Tatjanas Söhnen. Der Gedächtnisverlust hat offenbar mit Feuer zu tun (das „Phönixsyndrom“), beim Hantieren mit einem Gasherd geraten seine Kleider in Brand – und er verliert ein zweites Mal sein Gedächtnis. Das wird später noch zwei weitere Male passieren, das Phönixsyndrom bestimmt die vierteilige Komposition des Buches, die zugleich vier Etappen der Entwicklungsgeschichte des Helden zum Inhalt hat.
Diese wenig um Wahrscheinlichkeit bemühte Handlung ist – wie immer bei Slapowskij - in einer sehr realen und sehr „russischen“ Welt angesiedelt, in der bei den Männern Alkoholismus, Arbeitsscheu und Parasitentum herrschen, während die Frauen von einem Leben mit einem anständigen Mann träumen. Tatjana will Goscha „zu einem Menschen machen“, d.h. zu einem Mann, der sie liebt, der nicht trinkt und nicht faulenzt, der ordentlich arbeitet und ihren Kindern ein guter Vater ist. Sie wird dieses Programm nach einigen Rückschlägen erfolgreich abschließen, und so erwartet die Beteiligten am Ende ein bescheidenes Glück.
Aber ist das nicht ein allzu beschränktes, kleinbürgerliches Ideal, das Glück, von dem die TV-Serien erzählen? Was ist überhaupt „der Mensch“, was macht ihn aus? Die Protagonistin Tatjana beunruhigen solche Fragen nicht, sie folgt ihrem Gefühl und ist sich ihrer Sache sicher. Nicht so sicher fühlt sich anscheinend der Autor, der in vielen Andeutungen und manchmal auch in direkter Form einen Diskurs mit dem Leser über die Bestimmung des Menschen führt. Gab es da nicht einmal – in der sowjetischen Vergangenheit – ein anderes Ideal, den „stolzen Menschen“, den Revolutionär, den Erbauer der Zukunft, den Menschen also, der „Heldentaten“ vollbringt?
Auf diese Fragen bezieht sich der folgende Auszug aus dem Text, eine Anmerkung des Autors, der dem Leser seine persönliche Ansicht in dieser Sache erklärt. Denn der Autor schickt sich gerade an, von einer „Heldentat“ des Protagonisten zu berichten. Goscha wird die beiden Söhne Tatjanas, die mit Feuerwerkskörpern gespielt haben, aus den Flammen retten.
... Seit meiner Kindheit habe ich keine Sympathie für Heldentaten und Erzählungen über sie. Das hat mich sogar beunruhigt, ich hielt mich für eine Natur ohne Romantik, ohne Höhenflug. „O kühner Falke, magst du auch sterben, doch ewig bleibst du ein lebendes Beispiel...“ – ich weiß den Text nicht mehr genau. Etwa so: besser ein einziges Mal den Feind an das zerfetzte Herz drücken, auf dass er an deinem Blut ersticke, als ein Leben lang sich wie die Natter in der Sonne wärmen und kleine nichtsnutzige Nattern produzieren. Obwohl, nebenbei bemerkt, der Falke und die Natter beide Raubtiere sind, und vom Blut des Feindes, und sei es es nur kaltes Froschblut, versteht die Natter nicht weniger als der Falke.
Mich hat das nicht inspiriert. Ich habe irgendwie - auf eine nichtkindliche Art - gedacht, dass der Mensch geboren wird, um zu leben, nicht, um ein Beispiel zu geben. Etwas anderes wäre es, wenn das gewöhnliche Leben als Ganzes ein Beispiel darstellte, das wäre gut. Du gibst dem Land jeden Tag Kohle, in kleinen Stücken, aber viel davon, und du machst dich nicht kaputt wie ein Stachanow-Arbeiter für einen einmaligen Rekord, - ist das etwa keine Heldentat? Der Stachanowetz fährt seinen Orden und sein Auto abholen, und du bleibst da zum arbeiten, darfst die Spitzhacke schwingen. Oder im Schacht die Stützen absichern für den nächsten Stachanow-Rekord.
Nein, ich verstand das wohl: die Schönheit der Heldentat, die Größe, den Augenblick, die Erleuchtung... Aber Bücher über Pionierhelden, über Kundschafter und über den Krieg las ich trotzdem sehr wenig, stattdessen zog es mich, wie ich schon mehr als einmal und bis zum Überdruss erzählt habe und nochmal wiederhole, zu denjenigen Büchern, in denen der Mensch bescheiden, sorgsam-bedächtig und ohne Eile eine ganze Welt schafft. So wie Robinson oder die Helden von Jules Verne‘s „Geheimnisvoller Insel“. Mich begeisterten die detaillierten und sorgfältigen Stiche der Illustrationen, die es in diesen alten Büchern gab: jedes Brett, jeder Pfahl in Robinsons Behausung war glatt gehobelt und eingepasst.
Weiter kam ich zu der Einsicht, dass der Mensch, selbst wenn er ganz allein lebt, das ästhetische Bedürfnis bewahrt, sich nicht nur mit bequemen, sondern nach Möglichkeit auch mit schönen Dingen zu umgeben. Mag sie auch niemand sehen. Daraus zog ich weitreichende Schlüsse, - aber dazu an anderer Stelle, vielleicht in einem anderen Buch. (Insbesondere die Frage aller Fragen: wird der Mensch am Strand Verse in den Sand schreiben, wenn die Flut sie eine halbe Stunde später fortspülen und niemand sie lesen wird? Mein ganzes Leben schien mir: er wird es nicht tun. Aber jetzt kommen mir Zweifel...)
Aber unsere Geschichte ist wahr, und deshalb muss ich von einer Heldentat erzählen, die Goscha vollbracht hat, auch wenn diese Heldentat sich banal, geradezu standardmäßig ausnimmt.
Goscha rettet, wie erwähnt, die beiden Jungen aus dem Feuer – das gilt gewöhnlich als eine Heldentat, man kann dafür in der Zeitung erscheinen oder einen Orden erhalten. Beides geschieht hier nicht. Goscha hat etwas ganz Normales getan, auch wenn es Mut erfordert und nicht von jedem zu erwarten ist. Eine beispielgebende Heldentat wie der Opfertod des Falken ist das jedenfalls nicht.
„Oh kühner Falke...“ – in einer deutschen Übersetzung wäre hier ein Hinweis auf Gorkis „Lied vom Falken“ (1895) angebracht. Für den russischen Leser braucht es diese Hilfe nicht. Im Bereich der geflügelten Worte hat es dieser Schriftsteller zur Unsterblichkeit gebracht. Schon zuvor gab es ein Gorki-Zitat. Auf die Frage, wer er denn sei, antwortet Goscha treuherzig: „Ein Mensch“. Nun ja, „das klingt stolz“, erinnert sich Tatjana noch aus der Schule. Aber das Leben fordert von einem Menschen nicht klingende Worte, sondern Taten, und dazu braucht es Bildung, Können, einen Beruf. Darin ist Tatjana mit dem Autor einig: die großen Worte, die romantischen Höhenflüge des Falken und sein zerfetztes Herz berühren sie nicht. Auch sie denkt nicht „auf kindliche Art“, sondern erwachsen: Der Mensch wird geboren, um zu leben, nicht um ein Beispiel zu geben. Und wenn er doch als Beispiel dienen kann, so nicht durch spektakuläre Heldentaten, sondern durch einfaches menschliches Verhalten.
Diese Sichtweise kommt auch in der vierteiligen Entwicklungsgeschichte des Protagonisten zum Ausdruck. Eigentlich ist Goscha (der später Georgij und schließlich Viktor heißt) von Anfang an das, was man einen guten Menschen nennt, aber er kennt sich selbst nicht (das ist der Sinn des Gedächtnisverlusts) und muss erst durch Erschütterungen und mit der Hilfe eines liebenden Menschen ‚zu sich kommen‘. Goschas anscheinend so dunkle Vergangenheit erweist sich als relativ harmlos. Er hat niemanden ermordet, nur Geld unterschlagen und verspielt, einen Betrag, der als Schmiergeld gedacht war und niemandem fehlt. Goschas Fähigkeiten als Handwerker und Sportler belegen seine Suche nach einer sinnvollen Arbeit, seine ‘Leistungsbereitschaft‘, könnte man sagen, eine in Russland seltene Tugend. Den größten Erfolg auf diesem Gebiet erreicht er als „Landschaftsdesigner“, als er einer reichen Geschäftsfrau ihr Grundstück neu gestaltet.
Zurück zum Menschenbild der russischen Klassik
Man könnte meinen, hier sei der erfolgreiche Übergang von der sozialistischen Utopie zu der ‚vernünftigen‘ Wirklichkeit des Kapitalismus beschrieben. Aber das trifft nicht zu. Die neue Welt des Eigentums und des Marktes genießt offensichtlich nicht die Sympathie des Autors. Die erwähnte Geschäftsfrau, erfolgsverwöhnt und arrogant im Auftreten, versucht ihren Landschaftsdesigner auch privat in Besitz zu nehmen. Dieses Vorhaben scheitert aber nicht nur an dem entschiedenen Widerstand Tatjanas, sondern auch an der Einsicht Goschas (Georgijs) , der sich nach kurzem Zögern für die ‚richtige‘ Frau entscheidet. Beide, Tatjana und Goscha, unterscheiden sich von den typischen Vertretern der neuen Zeit durch ihre menschlichen Qualitäten, sie werden auch künftig nicht zu den großen Gewinnern des Umbruchs gehören. Dennoch verkörpern sie einen neuen Menschentyp, der besonders im Vergleich mit ihren ehemaligen Lebenspartnern deutlich wird. Tatjanas Ehemann, immer auf der Suche nach Geld für die nächste Schnapsration, spielt immer noch großspurig den Hausherrn; Goschas Frau und ihr Bruder, die aus seiner fernen Vergangenheit auftauchen, versuchen, ihn mit üblen Tricks um den Rest seines Geldes zu bringen. Diesen typischen „Russen“ gegenüber verkörpern die beiden Hauptfiguren gleichsam einen idealen Menschentyp, der universale Tugenden in sich vereinigt: Ehrlichkeit, Arbeitslust,Verantwortungsgefühl und Zuverlässigkeit in der Partnerschaft. „Neue Menschen“ sind sie deshalb nicht. Das ist schon mit der Wahl des Namens für die Protagonistin gesagt: Tatjana Lavrina ist – bis auf einen Buchstaben – namensgleich mit der Hauptfigur in Puschkins Versroman „Evgenij Onegin“ Tatjana Larina. Mit dem ‚v‘ im Familiennamen verleiht Slapowskij seiner Heldin gleichsam einen Lorbeerkranz (russ. ‚lavr‘). Puschkins Tatjana gilt als Idealbild der russischen Frau, seit ihr Dostojewski in seiner berühmten Puschkinrede diesen Titel verliehen hat. Dementsprechend kann man auch die Botschaft des Romans verstehen: nach den hohltönenden Phrasen vom „stolzen Menschen“ in der sowjetischen Periode muss nun die Rückkehr zu dem Menschenbild der klassischen russischen Literatur folgen.
Nicht anders ist auch der Sinn der zitierten persönlichen Bemerkung des Autors, eigentlich einer Anspache an den Leser, zu verstehen. Für Heldentaten und blutige Opfertode hat er kein Verständnis. Die Paraphrasierung des „Lieds vom Falken“ ist deutlich ironisch intoniert, sie ist Ausdruck einer „kindlichen“, unreifen Weltsicht, die einer erwachsenen, verantwortungsvollen Auffassung von der Bestimmung des Menschen Platz machen muss. Ebensowenig begeistert sich der Autor am Beispiel der Stachanow-Arbeiter, die sich mir ihrer Rekordarbeit auf Kosten ihrer Kameraden Orden und Autos verdient haben. Stattdessen rühmt der Autor einen anderen, wirklichen Heldentyp, einen Menschen, der „bescheiden, sorgsam-bedächtig und ohne Eile eine ganze Welt schafft“. Anschaulich gemacht wird dieses Ideal mit den Helden von Daniel Defoe und Jules Verne und den Illustrationen in diesen alten Büchern: sie sprechen von der gleichen sorgsam-bedächtigen Arbeit und zudem von dem Schönheitssinn dieser Schöpfer einer ganzen Welt, der den Stachanow-Aktivisten fremd war.
Gegen Gorki – oder doch mit ihm?
Wie verhält sich dieses Romanthema zum Andenken an den Schriftsteller Maxim Gorki? Auf den ersten Blick ist Slapowskijs Buch ohne Zweifel ein „Anti-Gorki“, eine Abrechnung mit den Phrasen der sowjetischen Erziehung. Aber der sowjetische Gorki ist, wie auf diesem Blog schon oft festgestellt, nicht der ganze Gorki. Das Bild Russlands in Slapowskijs Roman erscheint in vielem wie eine nur mäßig modernisierte Neuauflage der „Wanderungen durch Russland“. So setzen beispielsweise die Helfer bei Goschas Landschaftsprojekt, die am liebsten ihre Spaten ruhen lassen und über Russland philosophieren, die von Gorki geprägte Tradition fort. Gleiches gilt für Erscheinungen wie Alkoholismus, Schmarotzertum, Korruption in Regierung und Justiz. Die nachsowjetische Konsumgesellschaft ist in dieser ‚Landeskunde‘ im Vegleich mit dem „ewigen“ Russland sogar relativ wenig vertreten.
Nicht nur hinsichtlich der „bleiernen Abscheulichkeiten“ (Gorki), sondern auch hinsichtlich der Idealvorstellungen ist Slapowskijs Romanwelt nicht weit von der Welt Gorkis entfernt. Slapowsnkij erscheint als ein bekennender „Westler“, es gibt bei ihm keinen Verfechter des heute in Russland modischen Patriotismus, auch Tatjana ist keine Nationalheilige im Geist Dostojewskis, und die orthodoxe Kirche scheint es gar nicht zu geben. Stattdessen steht das Thema der schöpferischen Arbeit im Vordergrund, das in Gorkis Weltanschuung einen zentralen Platz einnimmt. Ich will damit nicht sagen, dass Slapowskij ein Gesinnungsgenosse oder sogar ein Verehrer Gorkis sei, ich vermute eher, dass er dem sowjetischen Klassiker mit der heute vorherrschenden Skepsis begegnet. Gorki ist im öffentlichen Gedächtnis hauptsächlich als Quelle sowjetischer Propagandaphrasen präsent und insofern unzeitgemäß. Der Gorki der „Wanderungen“, der „Bemerkungen aus dem Tagebuch“ und des „Klim Samgin“ bleibt außerhalb dieser Ansicht.
„Abgestorben und verblasst“?
Bleibt noch eine Frage bezüglich des Poems „Das Lied vom Falken“ und des thematisch verwandten „Lieds vom Sturmvogel“. Sind sie wirklich so verstaubt und lächerlich in ihrer Pathetik, wie es heute den Anschein hat? Sie reflektieren, wie viele Werke Gorkis, einmalige historische Momente und die persönliche, stark emotional gefärbte Reaktion des Zeitgenossen Gorki. Insofern sind sie authentische, nicht modischen Zeitströmungen folgende Werke. Die enorme Massenwirkung dieser Texte bestätigt diesen Befund. Ihr Thema war – bei gänzlicher Unbestimmtheit des politischen Inhalts – die Stimmung des Aufbruchs, des unbedingten Willens zur radikalen Veränderung der Verhältnisse, ein Ruhmgesang auf den „Wahnsinn der Tapferen“, d.h. auf die Unvernunft der Revolutionäre, die eher mit dem Tod als mit dem Sieg zu rechnen haben. Wenn Verse mit solchem Inhalt in den Schulen einer stagnierenden Diktatur auswendig gelernt werden müssen, nehmen sie zwangsläufig die Färbung der Parodie an. Auch ihre künstlerischen Schwächen werden gnadenlos sichtbar. Gorki selbst hat dieses Altern der eigenen Texte wahrgenommen. Schon 1910 empfand er den „Sturmvogel“ als nicht mehr aktuell. In einem Brief an den Maler I. Brodskij stellte er fest: „ ... das ist eine alte Sache, tausend Münder haben sie durchgekaut; die Worte, die einmal mit dem lebendigen Saft des Herzens getränkt waren, sind heute abgestorben, verblasst“. Der „Burevestnik“ gefalle ihm nicht mehr, er sei „gleichsam eine fremde Sache“.
Um so erstaunlicher, dass es heute wieder auch andere Auffassungen von diesen Werken gibt. So hat zum Beispiel Dmitrij Bykov in seiner Gorki-Biographie (2008) den „Burevestnik“ gleichsam neu entdeckt. In diesem Werk gebe es eine eigentümliche „Frische“ und eine Grundstimmung der Freude, die nichts mit der konkreten russischen Revolution zu tun habe, eine „drohende Begeisterung“. Auch die so abgenutzt erscheinende Gegenüberstellung von Falke und Natter, von Fliegen und Kriechen im „Lied vom Falken“, ist dem Autor bedeutend genug, um sie an das Ende seines Buches zu stellen: „Wenn man versucht das Fliegen zu erlernen, kann man zwanzig Mal ins Meer stürzen, aber beim einundzwanzigsten Mal zu fliegen anfangen. Wenn man sich jedoch das ganze Leben nur kriechend bewegt, wird man nichts Gutes erreichen“. Der Grund für diese Wahrnehmung ist offenbar in der neuen Aktualität des Themas zu suchen. Die zahlenmäßig kleine Opposition in Russland empfindet in der Situation der „Öl-Stabilität“ ein starkes Bedürfnis nach Veränderung, nach einem radikalen Umbruch.
In Slapowskijs „Phönixsyndrom“ ist von dieser rebellischen Stimmung nichts zu spüren. Dennoch ist das Bedürfnis nach Veränderung der bestehenden „russischen“ Verhältnisse auch dort unübersehbar. Nur der Weg ist ein anderer. Bykov vertritt bei aller Unbestimmtheit seiner Anschauungen doch eine radikale politische Opposition. Slapowskij wirbt für die Rückkehr zum Menschenbild der russischen Klassik. Dazu gehört die Überwindung des „kindlichen Denkens“, das in den Mythen der Revolution zum Ausdruck kommt und den Menschen Übermenschliches abverlangt. Stattdessen ist ein nüchternes, „erwachsenes“ Denken gefordert: Der Mensch wird geboren, um zu leben, nicht um ein Beispiel zu geben. Dabei erhält das Wort „leben“ ein neues Gewicht, es bedeutet nicht Heldentaten zu vollbringen, sondern „sorgsam-bedächtig“ am Bau einer besseren Welt mitzuwirken. Das ist gegen Gorkis „Lied vom Falken gesagt“, trifft aber nicht den ganzen Gorki. In seinem Werk gibt es das eine wie das andere: die „Romantik“, die „Schönheit der Heldentat“ ebenso wie die „prosaische“ Apologie der Arbeit.