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"Es gab ihn und es gibt ihn wieder": Dmitrij Bykovs Buch über Gorki

Freitag, 01. Mai 2009, 23:03:56

In russischer Sprache finden Sie diesen Eintrag hier.

Über Dmitrij Bykovs 2008 erschienenes Buch „Byl li Gor’kij?“ – etwa „War denn Gorki da?“ – habe ich schon in dem Eintrag Russland am Jahresende 2008 geschrieben. Es schien und scheint mir zu den wenigen, aber deutlichen Zeichen einer Wiederbelebung der russischen Kulturszene zu gehören, die von vielen als Stagnation und Werteverfall wahrgenommen wird. Der eigentümliche Titel geht auf eine Formel in Gorkis Roman „Das Leben des Klim Samgin“ zurück, die in Russland zum geflügelten Wort geworden ist: „War denn überhaupt ein Junge da, vielleicht war gar kein Junge da?“ Der Held des Romans drückt in diesem Leitmotiv seinen heimlichen Wunsch aus, ein unangenehmes Erlebnis - hier den Tod eines Jungen, an dem er nicht ganz unschuldig ist - zu vergessen, es ungeschehen zu machen. Etwas Ähnliches glaubt Dmitrij Bykov im Umgang der heutigen Kulturschaffenden mit Gorki zu erkennen: die Abschaffung nicht nur des sozialistischen Realismus und des utopischen Denkens, sondern jeglicher Bestrebungen nach einer „Verbesserung“ des Menschen und der Gesellschaft. Eben deshalb scheint es dem Verfasser angebracht und sogar unerlässlich, diesen „seltsamen, unausgeglichenen und starken Schriftsteller“ zu lesen und wieder zu lesen. Ja, es hat ihn gegeben, und es gibt ihn wieder, antwortet Bykov auf die im Titel gestellte Frage. Dieser Klassiker der Sowjetliteratur, der anscheinend längst zur Abschreibung vorgesehen war, sei von neuem in der Lage, „die Gemüter zu erregen“. In der gegenwärtigen Situation der „einschläfernden Stabilität“ und „Entropie“ , die den Menschen als Gipfel der gesellschaftlichen Entwicklung vorgestellt werde, sei Gorki eine Gegenstimme gegen die verbreitete Ansicht, jeder Traum von einer Umgestaltung der Gesellschaft führe zu Katastrophen und Blutvergießen.. Lasst uns dem Vorbild des Helden in Gorkis „Lied vom Falken“ folgen , ruft der Autor seinen Lesern zu, und so wie der Falke das Glück im freien Flug suchen, nicht in der gemütlichen Felsspalte wie die Natter.

Aus der Feder eines Schriftstellers der mittleren Generation (Bykov ist 1967 geboren), des Verfassers einer Biographie von Boris Pasternak und zahlreicher publizistischer Beiträge, eines Laureaten der Auszeichnung „Nationaler Bestseller“ und „Das große Buch“ sind das überraschende Gedanken, die ein wenig altmodisch klingen, fast im Ton der sowjetischen Gorki-Literatur. Aber von solchen Positionen ist der Verfasser weit entfernt. An seiner kritischen Beziehung zu dem „vollendeten Stalinisten“ Gorki lässt er keinen Zweifel aufkommen. Was ihn an dem Schriftsteller fasziniert, ist nicht die Apologie des mächtigen Staates und des proletarischen Humanismus, sondern eine Grundstimmung, das „Pathos“ des gorkischen Schaffens. Es ist jene „fieberhafte Erregung der Teilnahme am Schicksal der Welt“, wie sie sich beispielhaft in dem Bericht „Der neunte Januar“ (1905) ausdrücke. Dieses Gefühl sei jedem Vertreter der Intelligenzija vertraut, der in Russland die Jahre 1991 und 1993 erlebt hat, erklärt Bykov. Dieses Erlebnis des Betroffenseins von den Ereignissen der nationalen und universalen Geschichte erkennt der Verfasser im gesamten Werk des Schriftstellers. Bykov setzt damit eine Linie der Neuentdeckung Gorkis fort, die besonders in der 2005 erschienen Monographie „Gor’kij“ von Pavel Basinskij vertreten wurde. Die beiden Autoren sind einig in der Überzeugung, dass es an der Zeit sei, den russischen Lesern diesen äußerst „interessanten“ Schriftsteller zurückzugeben . Basinskij hat dabei den Hauptakzent auf die „Seltsamkeiten“ und Widersrpüche des „vielgesichtigen“ (mnogolikij) Gorki gelegt, während Bykov die utopische Generallinie des Schriftstellers und die daraus hervorgehende Aktualität seines Werkes betont.

Gefallen hat mir an Bykovs Buch, dass die Tendenz zu einer gewissen Politisierung nicht mit einer Vernachlassigung der künstlerischen Eigenschaften des Werkes verbunden ist, wie das im Umgang mit diesem Autor oft geschehen ist. Bykov verteidigt Gorki immer wieder gegen die üblichen Vorwürfe: ein nicht hat mehr als mittelmäßiges Talent, taktische Ausnutzung modischer Strömungen, stilistische Übertreibungen u.a.m. Es sei nicht zu bestreiten, erklärt der Verfasser, dass Gorki manchmal mit Pathos und stilistischen Aussschmückungen des Guten zu viel tue, dass vielen seiner Erzählungen eine klare Komposition fehle, dass seine Publizistik oft eine „mechanistische“ Denk- und Argumenationsweise zeige, aber diesen Schwächen stehe eine Menge bedeutender künstlerischer Entdeckungen gegenüber. Die beispiellose Popularität Gorkis um die Jahrhundertwende war vollkommen verdient, erklärt der Verfasser. Gorkis Debut fiel zusammen mit der Geburt des Massenlesers, und Gorki wurde der erste und beliebteste Schriftsteller dieses Lesers. In der Gestalt Konovalovs und anderer Helden des Frühwerks gab er diesem Leser zudem ein Gesicht und führte ihn in die Literatur ein. Anrührende Geschichten von der Begegnung einfacher Menschen mit der Welt der Bücher gehören zum Besten in seiner frühen Prosa und auch im späteren Werk. Eine nicht geringe künstlerische Errungenschaft ist auch Gorkis Ideal des Revolutionärs: „ein Nietzscheaner, bewaffnet mit dem Marxismus“. Das war nicht einfach der Tribut an das modische Nietzscheanertum, sondern ein eigenständiges und äußerst einflussreiches Symbol in der Geschichte der russischen Revolution. Von hier geht das „freudige, siegesgewisse Pathos seiner frühen Prosa“ aus.

Auch im Bereich des literarischen Handwerks ist Gorki nach Bykovs Ansicht keineswegs ein „Reaktionär der Ästhetik“. Er ist – in der Terminologie Jurij Tynjanovs – eher ein Novator als ein Archaist. In seinen frühen Werken hat er fast immer irgendein literarisches Schema zerstört, es „umgekrempelt“, zuerst die idealisierende Darstellung des russischen Bauerntums in der klassischen russischen Tradition. Der gierige und hinterhältige Bauer Gavrila in der Erzählung „Tschelkasch“ war eine Herausforderung an die Adresse der Volksverehrer. Auch als Stilist hat Gorki ein außergewöhnliches Talent bewiesen, vor allem im Spätwerk, nach der Revolution. Bykov spricht von seiner „energischen Erählweise“, dem „lakonischen Porträt“ und (im Genre des großen Romans) von einer hochentwickelten Technik der Leitmotive.

Durch große künstlerische Erfindungskraft zeichnet sich Gorkis letzte Erzählung „Über die Schaben“ (O tarakanakh) aus, der Bykov einen ausführlichen Kommentar widmet. Die Erzählung enthält - im Bild der Schaben - nicht nur eine starke Metapher des öden russischen Provinzlebens, sondern auch ein ganzes Programm des Erzählers und Zeitzeugen Gorki: „Alles existiert nur zu dem Zweck, damit davon erzählt würde“ . Das betrifft auch den toten Menschen, der eines Nachts am Ufer eines Sees liegt und von dem niemand etwas weiß. Der Wanderer, der ihn findet, denkt sich eine ganze Biographie für ihn aus, durch nichts bewiesen als durch die Phantasie des Erzählers. Worin liegt der Sinn dieses Lebens und dieses Todes? Und was ist das für eine Wahrheit, über die der Autor aus Anlass dieses Falles nachdenkt? Bykov entdeckt hier den Sinn des Verfahrens der „Inventarisierung“, der Gorki die Welt, besonders die russische Welt, unterzieht: „Etwas erzählen, es nicht spurlos verschwinden lassen, das bedeutet, einer Sache einen Sinn zu geben. Und einen anderen Sinn gibt es vielleicht gar nicht.“ Und was die Wahrheit betrifft, so erweist sie sich als unerreichbar, „nur als eine ausgedachte Bedingtheit unter anderen“.

Aus dem Mund eines Revolutionärs überrascht diese Definition der eigenen Bestimmung durch ihre Zurückhaltung. Und wo sind die Träume von den neuen Menschen, von der Umgestaltung der Gesellschaft? Bykov verweist hier auf eine der „Gegenstimmen“, die in Gorkis Werk eine permanente Bedrohung seiner utopischen Träume bilden. Schon in den frühen Erzählungen von den Vagabunden kommt die Kehrseite der „barfüßigen Freiheit“ zum Vorschein: eine schreckliche Gleichgültigkeit dieser Menschen gegen alle und alles, die Entwertung des Lebens, das Schweigen des Gewissens. Im nachrevolutionären Werk erhält diese dunkle Seite der gorkischen Weltanschauung ein deutliches Übergewicht über den Optimismus des Revolutionärs.

Kehren wir zur Frage der Aktualität Gorkis zurück. Am Ende seines Buches ruft Bykov im Geiste Gorkis zum Widerstand gegen das Böse auf – nicht zum gewaltsamen Widerstand, aber zum aktiven „Nichteinverständnis“ (nesoglasie) mit den bestehenden menschenfeindlichen Verhältnissen in Staat und Gesellschaft und zur „Arbeit an sich selbst“. Dieser Aufruf erinnert an die Worte des jungen Gorki in einem Brief an Anton Tschechow (geschrieben im Jahre 1900 aus Anlass des Erscheinens der Erzählung „Die Dame mit dem Hündchen“: „Wahrhaftig, es ist eine Zeit gekommen, die das Heroische braucht; alle wollen, das Aufrüttelnde, Leuchtende, etwas, wissen Sie, das dem Leben nicht ähnlich wäre, sondern höher, besser, schöner als das Leben.“ Wenn Bykov von „Entropie“ und der „verschlafenen Ratlosigkeit“ spricht, die er in der gegenwärtigen Kultur wahrnimmt, so scheinen sich die Klagen Gorkis über das „verschlafene, halbtote Leben“ seiner Zeit zu erneuern. Andererseits fällt aber auch der hundertjährige Abstand zwischen diesen Befunden ins Auge. Bei weitem nicht alle wollen heute das Aufrüttelnde und das Heroische. Die „Märsche der Nichteinverstandenen“ haben jede Ähnlichkeit mit den Massenaktionen der russischen revolutionären Bewegung verloren. Sie sind heute nicht mehr als der Ausdruck einer Minderheit von verbitterten Menschen, die enttäuscht sind von den Resultaten der jüngsten Revolution in Russland, in der - nach Bykovs Worten – wieder einmal „nicht die Freiheit gesiegt hat, sondern eine neue, raffiniertere Form der Unterdrückung“. Die Mehrheit der Menschen ist vollauf mit dem Erwerb oder mit der Sicherung eines bescheidenen Wohlstands beschäftigt, den ihnen der neue Kapitalismus gebracht hat oder zu bringen verspricht.

Für den Beobachter „von draußen“ ist schwer zu entscheiden, wie gerecht oder ungerecht solche scharfen Urteile über die gegenwärtige Wirklichkeit in Russland sind. Es hat keinen Sinn, so möchte man dem Verfasser widersprechen, den sogenannten einfachen Leuten einen Vorwurf daraus zu machen, dass sie eher dem gehorsamen Kriechen der Natter zuneigen als dem riskanten Flug des freiheitsliebenden Falken. Heldentum, Widerstand, Nichteinverständnis mit den herrschenden Verhältnissen waren nie die Sache der „normalen“ Menschen. Und das Szenario des „Lieds vom Falken“ wird heute wohl kaum die Massen zum Protest mobilisieren. Nichtsdestoweniger ist der Geist Gorkis, sein Pathos des Mutes und des unerschütterlichen Glaubens an das eigene Ideal, und ebenso seine kraftvolle Empörung über die „Widerwärtigkeiten des russischen Lebens“ sehr wohl geeignet, einen starken Eindruck auf Menschen, besonders auf junge Menschen unserer Zeit hervorzubringen. (Ein Beispiel dafür ist der Held des Romans „San’kja“ von Zakhar Prilepin (2006), ein zu allem, auch zum Terror, entschlossener junger Mann aus den Reihen der Nationalbolschewisten.) Aktuell und zeitgemäß sind nach Bykovs Auffassung auch die mehr als ein Jahrhundert alten Bilder des russischen Lebens, insbesondere die der „russischen Widerwärtigkeiten“: „Er (Gorki) hat doch gerade dasjenige russische Leben entlarvt, das wir heute unter dem Namen der „nationalen Matrize“ verehren.“ Gorki könne heute ein Lehrer der Moral und Ehrenhaftigkeit sein, er hat, in der treffenden Formulierung Bykovs, „immer die Unduldsamkeit gegenüber der Gemeinheit gelehrt“.

Die Schattenseiten des Wirkens Gorkis in den dreißiger Jahren werden in Bykovs Buch, wie oben gesagt, in keiner Weise verharmlost: „Alle Artikel über den Feind, der sich nicht ergibt, alle Lobeshymnen auf Stalin waren hunderprozentig aufrichtig“, erklärt der Verfasser, und äußert Verwunderung darüber, dass es zu diesem Thema noch Streit geben könne. Hart verurteilt wird das Verhalten des Schriftstellers gegenüber jenen Zeitgenossen , die Verfolgungen ausgesetzt waren. Sein Artikel „Über Hooligans“ (1935), zum Beispiel, hat, wie Bykov zu Recht feststellt, einen verhängnisvollen Einfluss auf das Leben der Dichter Pavel Vasil’ev, Boris Kornilov und Jaroslav Smeljakov genommen. Ungerecht erscheint dagegen die Behauptung des Verfassers, Gorki sei „überhaupt sehr selten für jemanden eingetreten, entgegen der Legende“. Der Feststellung Bykovs, Gorki habe zur Verteidigung des Schriftstellers Michail Bulgakov „kein Wort gesagt“, widersprechen bekannte Fakten. In dem Brief an Stalin vom 12. November 1931 hat er sich dafür ausgesprochen, Bulgakov einen Arbeitsplatz zu geben, und er erreichte die Zustimmung des Führers. Aber gewiss hat Bykov recht, wenn er feststellt, dass Gorki keineswegs ein „gutmütiger und wunderlicher alter Mann“ gewesen sei, wie der Schriftsteller Vjacheslav P’ecukh ihn genannt hat, sondern sich manchmal als ein „kalter, reizbarer und berechnender Mensch“ gezeigt habe. Große Schriftsteller zeichnen sich, wie die Beispiele Puschkins, Gogol’s, Dostoevskijs und Tolstojs zeigen, im allgemeinen nicht durch einen besonders liebenswürdigen Umgang mit der Öffentlichkeit aus.

Das Buch „Byl li Gor’kij?“ stellt einen wertvollen Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Schriftstellers dar. Es bietet uns – nach der Biographie von Pavel Basinskij – wieder einen neuen Blick auf diesen bekannten, allzu bekannten Maxim Gorki und einen neuen Versuch, dem breiteren Lesepublikum diesen „ großen und komplizierten Schriftsteller“ zurückzugeben.

Kategorie: Gorki in unseren Tagen

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