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Lesen in Russland

Freitag, 11. Dezember 2009, 19:21:19

Lesen in Russland

Gorki verteilt Bücher an die Massen. Karikatur in der "Wespe", 1918

„Informationsverarbeitung“ statt Lektüre von Romanen.-Auch die Deutschen lesen weniger.-Ein Prozess der Normalisierung. - Die russische Literatur ist heute lebendig wie nie.- Maksim Gorki und der „heilige Geist der Bücher“

Ist Russland – seit je das Land der Bücherleser – zu einem „Land der Idioten“ geworden? Diese Frage beunruhigt die Intellektuellen, seit das regierungsnahe Meinungsforschungs-institut VCIOM im Sommer dieses Jahres die Ergebnisse einer Umfrage zu den Lesegewohnheiten der Bürger Russlands veröffentlicht hat. Danach ist die Zahl derer, die nie ein Buch in die Hand nehmen, von 20% im Jahr 1996 auf 35% in 2009 angestiegen. Was läuft hier falsch und wie kann man dem Volk den Wert des Lesens glaubhaft machen? Zuerst und vor allem natürlich, so sollte man erwarten, durch die Förderung und Wiederentdeckung der Liebe zu Puschkin, Tolstoj und Dostojewski. Aber wer das glaubt, kennt das Russland von heute nicht. Für die (besonders im Westen ansässigen) Freunde der russischen Seele tun sich da wahre Abgründe der Verwestlichung und folglich des kulturellen Verfalls auf. Das zeigt uns ein Artikel von Oleg Nikiforov in der „Nezavisimaja Gazeta“ am 20.10. dieses Jahres unter der Überschrift „Lesen als Faktor des Wettbewerbs“(Chtenie kak faktor konkurencii). Die Unterzeile formuliert eine kühne Hoffnung des Verfassers: „Möglich, dass die ökonomische Krise zu einer Vergrößerung des Interesses am Buch beitragen wird“. Nicht die Attraktivität der Klassiker,meint der Verfasser, sondern schlichte ökonomische Vernunft sollen und werden die Menschen veranlassen, ihre Lesefähigkeit zu erhalten und weiter zu entwickeln. Gestützt auf die Ergebnisse deutscher Forscher (auch das gehört dazu!), unterstreicht der Verfasser die Rolle des Lesens in der heutigen Welt der Wirtschaft. Die Mitarbeiter in Unternehmen verbringen demzufolge ein Viertel ihrer Arbeitsszeit damit, schriftliche Informationen (von Fachzeitschriften bis zu e-mails) zu verarbeiten. Nur auf der Basis dieser Mitteilungen können die Unternehmen sinnvolle Entscheidungen treffen. Zudem erhöht sich die Menge der Informationen solcher Art alljährlich um 30%, haben die Forscher herausgefunden. Das erfordert nicht nur mehr Zeit zum Lesen, sondern zugleich eine verbesserte Technik der Informationsverarbeitung. Mit entsprechenden Ausbildungsmaßnahmen ließe sich eine Menge Arbeitszeit einsparen. Auch der Buchmarkt, gewissermaßen ein Trainingsfeld für Leser, wird mit den traditionell auf Papier gedruckten Büchern und neuen Medien wie e-book oder Audiobuch dafür sorgen, dass die Leser nicht aussterben.

Auch die Deutschen lesen weniger

Die Selbstverständlichkeit, mit der hier ein Kulturthema gewissermaßen aus dem Feuilleton in die Wirtschaftsredaktion verlagert und entsprechend „verarbeitet“ wird, hat auch ihre komischen Aspekte. So kann das gesteigerte Interesse an Büchern nach Meinung des Verfassers nicht nur durch die Anforderungen des Arbeitsmarktes gefördert werden, sondern auch durch den Absatzrückgang auf dem Automarkt. Im September 2009 wurden in Russland im Vergleich mit dem gleichen Monat im Vorjahr nur etwa halb soviele Autos verkauft. Als erfreulichen Nebeneffekt dürfe man so erwarten, meint der Verfasser, dass viele Menschen auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen und sich die Zeit in Bus und Bahn mit der Lektüre von Romanen verkürzen werden.
Aber auch direkte Eingriffe der „städtischen und föderalen Behörden“ findet der Verfasser wünschenswert, wenn es um die Förderung des Lesens geht. Gerade die in Russland gegebene staatliche Kontrolle über die wichtigsten Mittel der Kommunikation, insbesondere des Fernsehens, bietet nach seiner Ansicht günstige Voraussetzungen für die Erziehung zum Lesen. Bislang gibt es, wie wir hier erfahren, keine Büchersendungen im russischen Fernsehen. Möglich also, dass dort demnächst ein vom Staat bestellter Reich-Ranicki die Sache in die Hand nimmt.

Neben solchen Zeugnissen eines fast naiven Vertrauens in die Vernunft der Wirtschaft und des Staaates enthält der Artikel in der „Nezavisimaja Gazeta“ aber auch ernstzunehmende Überlegungen. Das betrifft insbesondere die Feststellung, dass es sich bei dem Rückgang der Bücherleser nicht um eine nationale Kulturkatstrophe, sondern um ein internationales und rational erklärbares Phänomen handelt. Der Verfasser zitiert die Ergebnisse einer Umfrage der deutschen „Stiftung Lesen“, aus denen sich ergibt, dass die Zahl der Bücherleser in Deutschland etwa ebenso groß (oder so klein) ist wie in Russland, hier wie dort gibt es auch die Vorliebe der Leser für bestimmte Genres wie Kriminal- und Unterhaltungsliteratur. Und auch die Gründe für diese Veränderungen unterscheiden sich in Russland nicht wesentlich von denen in Deutschland. Das gesteigerte „Tempo des Lebens“, ein breites Kulturangebot, in dem Fernsehen, Kino, Theater, Museen und nicht zuletzt das Internet um die Aufmerksamkeit des Konsumenten werben, sind die wichtigsten Faktoren.

Ein Prozess der Normalisierung

Manch einer mag das als trauriges Zeichen der kulturellen Nivellierung in der globalisierten Welt von heute ansehen, der Verfasser des Artikels scheint diese Veränderungen eher als eine normale Erscheinung in der Entwicklung der modernen Kultur anzusehen - und hat damit zweifellos recht. Solche Angleichungen der Gesellschaftsbedingungen in den modernen Industriestaaten kann man überall beobachten: in der Kultur ebenso wie in der Wirtschaft, der Politik oder der Wissenschaft. Sie sind, besonders in den Staaten des ehemaligen Ostblocks, Teil eines Prozesses der Normalisierung, der mit der neuen Freiheit verbunden und insofern eher zu begrüßen als zu beklagen ist. Dieser Prozess ist aber auch mit dem Abschied von bestimmten lieb gewordenen nationalen Mythen verbunden, zu denen auch der Mythos vom „meistlesenden Volk“ (samyj chitajushchij narod) gehört. Ob die Taxifahrer in der sowjetischen Zeit an ihren Haltestellen wirklich „Krieg und Frieden“ gelesen haben, mag man glauben oder nicht, sicher ist, dass die meisten von ihnen dieses Interesse an den Klassikern sehr schnell aufgegeben haben, als der Markt ihnen ein Fülle neuen Lesematerials bescherte: bunte Magazine, Krimis, Romane mit viel Sex und action, „bestseller“ aller Art. Das gilt in gewisser Weise auch für die Liebhaber der Literatur, die manchen Roman zu Sowjetzeiten nur deshalb gelesen hatten, weil er gewisse politische „Stellen“ enthielt, die der Zensur entgangen waren. Jetzt, nach Perestrojka und Glasnost‘, konnte man sich politische Informationen dort holen, wo sie normalerweise angeboten werden, also in (unzensierten) Zeitungen, Politmagazinen, im nichtstaatlichen Fernsehen und im Internet.

Die russische Literatur ist heute lebendig wie nie

Es gibt also in der breiten Leserschaft weniger Zeit und weniger Aufmerksamkeit für Romane, Erzählungen und Gedichte. Aber das bedeutet noch keineswegs, dass die Buchkultur an ihr Ende gekommen ist. In Russland ist sogar im Gegenteil – wenn auch in kleinerem Maßstab als in dem staatlich gelenkten Literaturbetrib der sowjetischen Zeit - eine beträchtliche Belebung des Buchmarktes festzustellen, kräftig befördert durch renommierte Preise wie „Nacional’nyj beststeller“, „Russkij Buker“ u.a. Die russische Literatur ist nicht vom Aussterben bedroht. Ich selbst bin in diesem Jahr nach der Lektüre von Essay-Sammlungen bekannter Literaturkritiker wie Lev Anninskij, Lev Danilkin, Dmitrij Bykov u.a. freudig überrascht worden von der Vielzahl interessanter Autoren, die es heute in der russischen Literatur gibt.
Von daher scheint mir die These des Verfassers in dem zitierten Artikel allzu kleinmütig. Müssen wir für die Zukunft des Lesens wirklich nur auf die Notwendigkeiten der Wirtschaft bauen, die auf eine rationale Informationsverarbeitung in schriftlicher Form angewiesen ist?
Lesen - besonders das Lesen von Literatur – ist mehr als eine Kulturtechnik, es kann eine sehr persönliche und intensive Beschäftigung sein (wie auf dem Foto mit dem lesenden Mädchen). Die postsowjetische Gesellschaft - sei sie nun eine autoritäre, eine „gelenkte“ oder eine richtige Demokratie – bietet den Lesern freien Zugang zum Universum des gedruckten Wortes, eine Situation, die es in Russland nie zuvor gegeben hat. Es ist jetzt schon erkennbar, dass die – verkleinerte und professionalisierte – Gemeinde der Literaturproduzenten und ihrer Leser die neuen Möglichkeiten intensiv nutzt und trotz einer deutlichen Entpolitisierung ihrer Funktion eine wichtige Rolle in der Erinnerungskultur und bei der Suche nach „Erklärungen“ für die Wege des nationalen Schicksals im zwanzigsten Jahrhundert spielt.
In dieser Funktion setzt die heutige russische Literatur die traditionelle Rolle als „Leitmedium“ der Kultur fort. Denn ganz falsch ist der Mythos vom „meistlesenden Volk“ nicht. Die Literatur und allgemein die Schriftkultur hat in Russland in der Tat eine größere Bedeutung gehabt als in den meisten anderen europäischen Kulturen. Es gibt zahlreiche Konzepte von Kulturtheoretikern, die Begründungen für dieses Phänomen anbieten: die Ersatzfunktion der Literatur für eine fehlende freie Presse, die Vorliebe der Russen (oder der Slaven) für Bilder anstelle von Begriffen; die Verwurzelung der russischen Kultur in einer auf die Schrift fixierten religiösen Tradition der orthodoxen Kirche u.a.m.

Maksim Gorki und der „heilige Geist der Bücher“

Spätestens bei der Frage nach den Ursachen des Literatur- und Bücherkults in Russland fühle ich mich aufgefordert, das Thema „Lesen in Russland“ mit dem Gegenstand dieser Website zu verbinden. Ich möchte die Behauptung wagen, dass keiner unter den russischen Schriftstellern so viel und mit solcher Leidenschaft über Bücher und das Lesen geschrieben hat wie Maksim Gorki. Sollte es wirklich einmal notwendig werden, sich an eine entschwindende oder schon entschwundene Kultur des Buches zu erinnern, so bietet Gorkis Werk eine ideale Materialsammlung zu diesem Thema. Das erklärt sich einfach aus der Tatsache, dass Bücher im Leben des jungen Aleksej Peschkow alles das ersetzen mussten, was es im wirklichen Leben für ihn nicht gab: liebevolle Eltern und geduldige Lehrer, Frauen und Liebe, Bilder von Leidenschaft und Größe, eine Enzyklopädie des Wissens und die Entwürfe eines anderen Lebens. Der „heilige Geist der Bücher“ war der wichtigste Verbündete im Leben des Waisenkinds, das es schaffte, vom Lumpensammler zu der höchsten Autorität aufzusteigen, die die nationale Kultur zu vergeben hatte, der des „berühmten Schriftstellers“.
„Unter Menschen“, der zweite Teil der autobiographischen Trilogie, ist in der Hauptlinie eine Erzählung über die Begegnung mit der Welt der Bücher. Die wenigen Menschen, die sich dem Heranwachsenden freundlich zuwenden, sind nicht zufällig „Lieferanten“ von Büchern: der Schiffskoch Smuryj mit dem Sammelsurium geheimnisvoller, unverständlicher Schriften in seiner Kiste; die Zuschneidersfrau, die dem Jungen Liebesromane leiht und die ihm leid tut, weil sie von den Offizieren verspottet wird, und – als Höhepunkt – die „Königin Margot“, eine schöne und stolze Frau, die ihn mit Puschkin bekannt macht. Die Abfolge der Bücher zeichnet eine aufsteigende Linie der literarischen Bildung von simpelsten zu den höchsten geistigen Genüssen nach, die das Lesen vermittelt.
Im erzählerischen Werk hat Gorki vielfach die Begegnung „einfacher Menschen“ mit der Welt der Bücher zum Thema gemacht. Das eindrucksvollste Beispiel dafür bietet die Gestalt des Bäckers Konovalov in der gleichnamigen Erzählung. Die Begeisterung und tiefe Betroffenheit, mit der dieser zur Schwermut neigende Alkoholiker auf das Vorlesen einer Geschichte reagiert, die vom traurigen Schicksal russischer Bauern handelt, kann als Werbetext für jede Maßnahme zur Förderung des Lesens (und Vorlesens) Verwendung finden. Für Konovalov wird das Buch zum magischen Gegenstand. Er hält das Buch in der finsteren Backstube andächtig ans Licht, um nach dem lebendigen Inhalt zu forschen, der sich hinter den schwarzen Zeichen verbirgt. Und auch sein des Lesens kundiger Kollege Aleksej, der künftige Gorki, hat eine solche magische Beziehung zum Buch. Auch für ihn ist das gedruckte Wort „ein Wunder“ – „in ihm (dem Buch) ist die Seele dessen eingeschlossen, der es geschrieben hat; wenn ich das Buch aufschlage, befreie ich diese Seele, und sie führt geheimnisvolle Zwiesprache mit mir“ (M.G., Autobiographische Romane, München 1972, S. 444).
Das Sprechen über Bücher bewahrt auch bei dem erwachsenen Schriftsteller, Redakteur und Kritiker Gorki immer etwas von dem sakralen Ton der Jugendzeit. In einem Brief an seinen Freund und literarischen Kontrahenten Leonid Andrejew (Dez. 1911) versteigt sich Gorki sogar zu dem Bekenntnis, Bücher seien ihm wichtiger als Menschen, sie lebten schließlich auch länger als die Menschen auf dieser Welt. Jeder nachlässige Umgang mit dem Buch wird von Gorki scharf verurteilt. Als „Plebejer“ in die Salons der Intelligenzija eingeladen, konstatierte er mit Empörung, wie leichfertig und verantwortungslos die Gebildeten mit dem Schatz der Bücher umgingen. Klim Samgin, der Held des letzten Romans, ist nicht zuletzt deshalb ein abstoßender Charakter, weil er das Lesen von Bücher als eine liebe Gewohnheit betreibt wie das Rauchen von Zigaretten. Bücher, die er in großen Teilen auswendig kennt (wie sein Autor Gorki), sind ihm angenehme Gesprächspartner, weil sie ihm nicht widersprechen können. Manches an dieser Karikatur eines Lesers spiegelt allerdings auch eigene Erfahrungen des Autors: die Überflutung durch fremde Bilder und Gedanken macht es dem Leser schwer, seine Individualität zu finden und zu bewahren.

In manchen Punkten scheint Gorki eine Bestätigung für die (besonders in den Jahren der Perestrojka) oft vertretene These zu liefern, derzufolge die Literatur, „das Wort“, in Russland oft die Priorität gegenüber dem „Leben“ erlangt habe und als ein Instrument zur „Umgestaltung des Lebens“ eingesetzt worden sei. In diesem Sinne war die russische Revolution von 1917 und der geplante Aufbau des Sozialismus ein „literarisches“ Projekt, in dem Worte „wahr werden“ sollten. Diese Rolle des Demiurgen hat die heutige russische Literatur – trotz gelegentlicher Rückfälle - im ganzen aufgegeben, und das wird sich sicher nicht zu ihrem Nachteil auswirken. Dabei hat der „engagierte“ Schriftsteller in der russischen Literaturkritik weiter den Vorrang vor dem reinen Sprachkünstler. Der Schriftsteller soll seine Begabung und sein Gewissen einsetzen, um unbestechlich über seine Zeit zu schreiben und zu urteilen, und er soll „etwas anstoßen“ in den Köpfen und Herzen seiner Leser.



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Kategorie: Russland und die Russen

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