Maksim Gorki: „Von dem Jungen und dem Mädchen, die nicht erfroren sind“
Samstag, 18. Dezember 2010, 23:10:26
Die russischsprachige Version des Eintrags hier.
Die „Weihnachtserzählung“ (Untertitel) von Maksim Gorki, zuerst erschienen in der Zeitung „Nizhegorodskij listok“, 1894, 25. Dezember, ist ein interessantes Beispiel für die Frische und Originalität der Erzählweise Gorkis in der ersten Periode seines Schaffens. Vieles ist dort unverkennbar Gorki: der „gewiefte Frechdachs“ (opytnyj prostrelenok) Mischka, ein kindliches Exemplar des Bosjaken (Barfüßers) und des Ozornik (Unruhestifters); seine weniger mutige kleine Gefährtin Kat’ka, die ihn glühend bewundert, und ebenso ihre gemeinsame Arbeit, das mit viel Talent organisierte Handwerk des Bettelns. Das alles wird in einem humorvollen und zärtlichen Ton erzählt, der offensichtlich darauf gerichtet ist, dem Leser die Welt dieser Kinder nahezubringen, seine Rührung und Begeisterung über diese Äußerungen kindlicher Lebensfreude zu wecken und Bewunderung für ihre Fähigkeit, den grausamen Bedingungen ihrer sozialen Umgebung zu widerstehen. Um diesem – fast unwahrscheinlichen – Geschehen mehr Überzeugungskraft zu geben, wählte Gorki das Genre der Weihnachtserzählung (rozhdestvenskij, auch svjatochnyj rasskaz), also gerade das Genre, nach dessen Gesetzen Kinder unter den beschriebenen Umständen sich nicht ihres Lebens freuen, sondern unbedingt sterben müssen, in der Regel erfrieren sie. Ausführlicher besprochen wird das in den einleitenden Sätzen der Erzählung:
In den Weihnachtserzählungen ist es seit jeher Brauch, alle Jahre eine Anzahl von armen Kindern erfrieren zu lassen. Der Junge oder das Mädchen aus einer ordentlichen Weihnachtserzählung stehen gewöhnlich vor dem Fenster irgendeines großen Hauses, betrachten durch die Scheiben voller Bewunderung den Weihnachtsbaum, der in den luxuriösen Zimmern erstrahlt, und dann erfrieren sie, nachdem sie eine Menge Unangenehmes und Bitteres erfahren haben.
Ich verstehe die guten Absichten der Autoren von Weihnachtserzählungen, ungeachtet des grausamen Umgangs mit ihren Personen. Ich weiß, dass sie, die Autoren, die Kinder erfrieren lassen, um reiche Kinder auf ihre Existenz aufmerksam zu machen, aber ich persönlich kann mich nicht entschließen, auch nur einen Jungen oder ein Mädchen erfrieren zu lassen, nicht einmal für einen so lobenswerten Zweck /.../
Deshalb ziehe ich es vor, von einem Jungen und einem Mädchen zu erzählen, die nicht erfroren sind.
Der spöttische Ton dieser Einführung bezieht sich natürlich in erster Linie auf die Massenproduktion von Weihnachtserzählungen, die mit kalendarischer Regelmäßigkeit in russischen Provinzzeitungen erschienen. Sie waren in der Regel mehr oder weniger geschickte Nachahmungen klassischer Vorbilder, unter denen vor allem H.Ch. Andersens „Mädchen mit den Schwefelhölzchen“ und Ch. Dickens‘ „Weihnachtserzählungen“ zu nennen sind. Und Gorki spottete nicht nur über die talentlosen Nachahmer, sondern erlaubte sich auch, Streit mit den genannten Klassikern und ihrem sentimentalen Humanismus anzufangen. Zu ihnen zählte er auch Dostojewski, der mit seiner Erzählung „Der Junge bei Christus zum Weihnachtsfest“ (Mal’chik u Khrista na elke) eine der bekanntesten Weihnachtserzählungen in der russischen Literatur geschaffen hat. Die ironische Beschreibung des Genres und eine Reihe von Motiven in Gorkis Erzählung zielen ohne Zweifel direkt auf dieses Werk Dostojewskis, seines bevorzugten ideologischen Opponenten.
„Der Junge bei Christus zum Weihnachtsfest“
Dostojewskis Weihnachtserzählung, zuerst erschienen in der Januarausgabe 1876 des „Tagebuchs eines Schriftstellers“, vereinigt in musterhafter Weise die typischen Motive des Genres. Eine ihrer Quellen war das „Weihnachtsgedicht“ des deutschen Dichters Friedrich Rückert „Des fremden Kindes heiliger Christ“ (1816), das Dostojewski vermutlich im Original aus seiner Kindheit kannte (es war nicht ins Russische übersetzt). Von Rückert übernahm Dostojewski das Motiv des armen Jungen, der mit seiner Mutter in eine große Stadt kommt (bei Dostojewski ist es Petersburg) und dort, „in der Fremde“, ganz nach dem bei Gorki beschriebenen Muster den Tod durch Erfrieren erleidet, nachdem er viel Bitteres erfahren hat. Zu Beginn stirbt in einem kalten und feuchten Keller die kranke Mutter, und der verwaiste Junge (etwa 6 Jahre alt, „oder sogar jünger“) geht allein hinaus auf die Straße, freut sich zuerst an dem lebendigen Treiben der Stadt, schaut in die hell erleuchteten Fenster der Wohnungen der Reichen, wo sich ihm ein märchenhaftes Leben zeigt: um den mit buntem Papier und Äpfeln geschmückten Baum laufen festlich angezogene Kinder, sie spielen mit Puppen, die wie Menschen aussehen, essen Pfefferkuchen und andere Köstlichkeiten. In eines dieser Häuser geht der Junge aus kindlicher Naivität einfach hinein: „Oh, wie sie auf ihn einschrien und mit den Armen herumfuchtelten!“ Er läuft davon und weiß nicht wohin, schließlich gerät er auf einen Hinterhof, versteckt sich dort hinter einem Stapel Brennholz und schläft ein. Die ganze Zeit über hatten seine Händchen und Füßchen vor Kälte geschmerzt, nun plötzlich verschwinden alle Leiden, ihm wird warm, er hört über sich ein Lied, das die Mutter ihm gesungen hat, und eine sanfte Stimme flüstert ihm zu: „Lass uns zu mir gehen zum Weihnachtsfest, mein Junge“. Der da spricht, ist Christus, und die Weinachtsfeier, zu der er den Jungen einlädt, heißt „Christbaum“ (Khristova elka) und wird zum Kulminationspunkt der Handlung. Alles glänzt und strahlt, und um den Christbaum schweben , wie lichte Engel, kleine Jungen und Mädchen, sie küssen den Jungen und ziehen ihn mit sich. Von ihnen erfährt er, dass sie ebensolche Kinder waren wie er und dass sie alle erfroren sind. Bei der Beschreibung ihrer Schicksale ändert sich der Ton, die Fröhlichkeit der Feier macht einer düster gestimmten Sozialkritik Platz: die einen sind in den Körbchen erfroren, die ihre Mütter an den Hauseingängen von Beamten zurückgelassen haben; andere sind in Erziehungshäusern zugrunde gegangen, wieder andere in Hungersnöten „an der ausgetrockneten Brust ihrer Mütter“. Aber nun sind sie alle hier, bei Christus, und hier, etwas abseits, stehen auch ihre Mütter und weinen. Und die Kinder fliegen zu ihnen, küssen sie und wischen ihnen mit ihren Händchen die Tränen ab.
„Über den Jungen und das Mädchen, die nicht erfroren sind“
„Der Junge bei Christus zur Weihnachtsfeier“ vermittelt in konzentrierter Form die christliche Apologie Dostojewskis mit ihren starken Seiten (vor allem in den Beschreibungen kindlicher Leiden) und auch mit ihrer stellenweise schwer erträglichen Sentimentalität. Mit eben diesen Eigenschaften bot Dostojewskis Weihnachtserzählung dem jungen Gorki eine ideale Vorlage, um dieser Apologie des Leidens und der christlichen Barmherzigkeit sein nietzscheanisch gefärbtes Freidenkertum und seine Predigt des aktiven und stolzen Menschen entgegenzustellen. Auch die Eintragungen in Dostojewskis „Tagebuch eines Schriftstellers“, die den Text der Erzählung umrahmen – „Der kleine Bettler“ und „Die Kolonie minderjähriger Verbrecher“ – waren in besonderer Weise geeignet, die Aufmerksamkeit Gorkis auf sich zu ziehen. In einem Brief vom 11. Januar 1876 (an Vs.S. Solov’ev) erklärte Dostojewski, er wolle „etwas über Kinder“ schreiben, „über Kinder überhaupt, über Kinder mit Vätern, besonders über Kinder ohne Väter, über Kinder, die Christbäume haben und solche, die keine haben, über Kinder als Verbrecher“. Hier konnte Gorki seinem ideologischen Gegner auf einem Feld begegnen, auf dem er sich nicht ohne Grund zu Hause fühlte. Als der „Mann aus dem Volk“, als vaterloses Kind und künftiger Verfasser der „Kindheit“ nahm er eine Kompetenz für sich in Anspruch, die dem Beobachter aus dem Kreis der aristokratischen Intelligenzija nicht zukam. Dostojewski besteht am Schluss seiner Erzählung darauf, dass diese von ihm, einem „Romanschriftsteller“, erfundene Geschichte sich sehr wohl so hätte ereignen können, und er bezieht diesen Anspruch auf „Wirklichkeit“ nicht nur auf diejenigen Teile der Handlung, die in der sozialen Wirklichkeit angesiedelt sind, sondern – trotz vorsichtiger Fragezeichen - auch auf die Weihnachtsfeier bei Christus. Auf eben diesen Wirklichkeits- und Wahrheitsanspruch antwortet Gorki mit der Überschrift und mit der gesamten Thematik seiner Erzählung. Sie handelt von Kindern, die unter den gleichen widrigen Umständen „nicht erfroren sind“und die aus eigener Kraft, ohne die Hilfe des Gottessohns, ein ganz diesseitiges Glück gefunden haben, wenn auch nur an diesem einen Tag.
Im Vergleich mit Dostojewskis Werk fällt zunächst auf, was in Gorkis Erzählung gänzlich fehlt. Es fehlt dort, außer dem Tod durch Erfrieren, eine ganze Reihe charakteristischer Motive aus der Tradition der Weihnachtsgeschichten: am Feiertag Christi wird sein Name nicht einmal erwähnt, es gibt keine Christbäume, keine erleuchteten Fenster mit der Wunderwelt der bürgerlichen Kultur. Die kleinen Helden leben in ihrem eigenen sozialen Milieu und haben ihre eigenen kindlichen Gedanken und Phantasien. Diese Welt bedarf nicht der Gegenüberstellung mit einem anderen, besseren oder schlechteren, Milieu, sie existiert selbständig als eine universale Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, auch die des Überlebens unter schwierigsten Bedingungen. Dabei lässt Gorki keinen Zweifel daran, dass diese Kinder unter den gegebenen Umständen sehr wohl auch hätten erfrieren können wie ihre Brüder und Schwestern bei Dostojewski und seinen Vorgängern. Der Frost ist nicht milder als auf den Petersburger Straßen Dostojewskis, wie dort steigen aus den Nüstern der Pferde „heiße Dampfwolken“ auf, der dichte Schnee fliegt den Kindern ins Gesicht und verklebt die Augen. Die gefährlichste Situation im Verlauf der Handlung ist der Augenblick, da das Mädchen, von Hunger und Frost überwältigt, sich in einem Hauseingang niederlässt und einzuschlafen droht. „Wäre Mischka nicht bei ihr gewesen, so wäre sie vielleicht erfroren“, stellt der Erzähler fest.
Kat’ka und Mischka sind Vollwaisen, das Wort Eltern gehört zu denen, die im Text der Erzählung nicht vorkommen. Der ihnen am nächsten stehende Mensch ist Tante Anfisa, aber sie, eine Trinkerin, sorgt sich nicht um das Wohlergehen der Kinder, eher um den Ertrag ihres Bettelgewerbes. Als es Kat’ka „nach Hause“ zieht, „in die Wärme“, erinnert Mischka sie daran, was diese Begriffe bedeuten. „Wärme!... Und wenn sie sich wieder versammeln und dich zum Tanzen zwingen – ist das gut? Oder sie füllen dich mit Wodka voll und dir wird wieder einmal schlecht... Da hast du dein „nach Hause“!“ Die soziale Lage der kleinen Helden ist also um nichts besser als die der Mädchen und Jungen bei Dostojewski und anderen Autoren von Weihnachtsgeschichten. Aber dort erscheint die soziale Not als unausweichliches Schicksal, sie endet erst im Jenseits des barmherzigen Gottes. In der Welt Gorkis bilden die Erscheinungen des sozialen Unglücks nur die dunkle Folie, von der sich um so leuchtender die reale Möglichkeit eines anderen Lebens abhebt. Es wird möglich durch die wunderbare Kraft, die von der menschlichen Energie, der Lebensfreude und dem Selbstvertrauen ausgeht. Diese Kraft findet ihren direkten Ausdruck in der Rolle des tatkräftigen, umsichtigen und „soliden“ Erwachsenen, die der kleine Mischka seiner Freundin vorspielt, aber noch überzeugender in dem ganz normalen kindlichen Verhalten der beiden Helden. Almosen zu sammeln ist ein schweres und nicht ungefährliches Gewerbe, aber die beiden betreiben es wie ein Spiel oder ein Straßentheater. Wie zwei aus Lumpen geformte Bälle rollen sie einem Herrn, der würdevoll dahinschreitet, direkt vor die Füsse, und beginnen mit ihrem zweistimmigen Bettelgesang: „Väterchen, gnädiger Herr, Euer Wohlgeboren! Geben Sie den armen Kindern! Eine kleine Kopeke für Brot!“ Sie laufen ihm ständig in den Weg und lassen ihn nicht in Ruhe, bis er das Portemonnaie zieht und eine Münze in eine der ausgestreckten Hände legt. Danach sind die Kinder stolz wie Zirkusartisten nach einer gelungenen Nummer. Als sie einmal aus Unvorsichtigkeit einem Polizisten in die Arme laufen und in Panik davonrennen, geht der Schrecken bald in eine unbändige Fröhlichkeit über. Kat’ka, außer Atem vom Laufen und vom Lachen, fällt dauernd in den Schnee, und Mischka lacht über dieses Schauspiel aus vollem Halse.
Reine Lebensfreude spiegelt auch die Schlussepisode der Erzählung, das Festmahl der Kinder in einem Wirtshaus. Kompositorisch befindet sich das Ereignis damit an der Stelle, an der bei Dostojewski der „Christbaum“ steht, das Fest des Gottessohns für die erfrorenen Kinder. Anstelle dieser paradiesischen Welt, wo alles von strahlendem Licht erfüllt ist und die Engel um den Baum kreisen, erscheint ein russischer „traktir“ (Wirtshaus oder Gasthaus sind dafür allzu freundliche Beschreibungen), ein finstere Unterwelt, angefüllt mit Rauch, einem betäubenden Gestank und dem Lärm betrunkener Kutscher. Aber dafür sitzen dort am Tisch zwei lebendige Menschen, der Junge und das Mädchen, die nicht erfroren sind, und freuen sich auf das bevorstehende Festmahl, das aus einem Pfund Weißbrot, einem halben Pfund Wurst und anderen Köstlichkeiten besteht. Die Kinder sitzen da wie ein solides Ehepaar, essen mit Würde und führen ein ernsthaftes Gespräch über ihre professionellen Angelegenheiten. Und es gibt keinen Zweifel daran, dass sie vollkommen zufrieden mit sich und glücklich sind. Der Erzähler teilt diese Ansicht und verabschiedet sich zuversichtlich von seinen kleinen Helden – sie werden nicht erfrieren. „Heute war ein richtig erfolgreicher Tag“, resümiert Mischka im Gespräch mit Kat’ka. - Mich erinnnerte dieser Satz an den Schluss der Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch“ von Alexander Solschenizyn, wo der Held beim Einschlafen die Ereignisse eines Tages im Straflager Revue passieren lässt, Ereignisse, die mit Kälte, Hunger, unmenschlicher Zwangsarbeit und ständiger Lebensgefahr zu tun haben: „Vergangen war ein Tag, der durch nichts verdunkelt war, fast ein glücklicher Tag“.
Man könnte hier Überlegungen zu verschiedenen Themen anfügen, zum Beispiel über den möglichen Sinn von Weihnachtserzählungen unter den sozialen Bedingungen des heutigen Russland. Die schreienden Widersprüche ziwschen den Klassen der neuen Reichen und der alten Armen bietet ohne Zweifel reichlich Stoff für eine solche Literaturproduktion. (Ich lese gerade Robert Senchins „Moskauer Schatten“, Erzählungen über Menschen, die „nie einen Kredit aufnehmen, ins Ausland fahren oder einen Bentley kaufen werden“). Man könnte auch über die neue Rolle der Orthodoxen Kirche und ihr Verhältnis zu sozialer Gerechtigkeit und Nächstenliebe nachdenken. Aber die Feiertage kommen näher (in Russland ist allerdings in diesem Punkt dank der konservativen Kirche noch der Julianische Kalender gültig, so dass Weihnachten erst am 7. Januar gefeiert wird), und ich habe wegen der Vorbereitungen nicht die Zeit für Recherchen im Internet. Erwähnen möchte ich aber doch noch ein Buch, das zum Thema passt: „Jetzt war ich ganz allein auf der Welt“, die Erinnerungen von Hans-Burkhard Sumowski an eine Kindheit in Königsberg in den Jahren 1944-1947 (2009 als Taschenbuch erschienen). Es ist die Erzählung von einem Menschen, der im Alter von 8-11 Jahren in einer eisigen Welt gelebt hat und nicht erfroren ist, dank seinem eisernen Überlebenswillen, seiner Technikbegeisterung und dank der Hilfe von guten Menschen, darunter auch Russen, Angehörige einer Nation, deren Vertreter er auch als Feinde und grausame Sieger kennen gelernt hat.
Im übrigen beschränke ich mich darauf, die letzten Seiten der Weihnachtserzählung Gorkis wiederzugeben und hoffe, dass dieser Text Ihnen, verehrte Besucher, so viel Vergnügen bereitet wie mir.
(Eigene Übersetzung, der Text ist in deutscher Sprache zuletzt erschienen in dem Band "Weihnachten auf Russisch", hrsg. v. Olga Kaminer, List Tb. 2008, Originaltext s. im russischsprachigen Eintrag)
Sie gingen nebeneinander her mit dem gesetzen Gang ernsthafter und in ihre Sorgen vertiefter Menschen.
„Ich habe dich vorhin belogen... Der Herr hat mir ein Zwanzigkopekenstück gegeben... Und vorher habe ich auch gelogen, damit du nichts sagst, es ist Zeit nach Hause zu gehen. Heute ist ein richtig erfolgreicher Tag! Weißt du, wieviel wir zuammenbekommen haben? Einen Rubel und fünf Kopeken! Viel!..“
„Ja-a!“, flüsterte Kat’ka. „Für soviel kann man ja ein ganzes Paar Schuhe kaufen... „
„Ach was, Schuhe! Schuhe klaue ich dir, warte nur ab... Ich habe schon lange ein Paar im Auge, die schnappe ich mir... Aber jetzt sage ich dir was: Wir gehen ins Wirtshaus, verstehst du?“
„Die Tante wird es wieder erfahren und dann setzt es was, wie damals!“, sagte Kat’ka in nachdenklichem Ton, aber darin klang auch der Vorgeschmack auf die Wärme mit.
„Setzt es gar nichts! Wir, Kumpel, suchen uns ein Wirthaus, wo uns keine Menschenseele kennt.“
„Ach so!“, flüsterte Kat’ka hoffnungsvoll.
„Also erstmal kaufen wir ein halbes Pfund Wurst – 8 Kopeken; ein Pfund Weißbrot – ein Fünfer... Das sind dreizehn! Dazu für jeden ein Brötchen aus Blätterteig, zusammen 6 Kopeken, macht zusammen 19. Dann Tee für zwei, nochmal 6, macht zusammen einen Viertelrubel! Und da bleibt uns noch...“
Mischka verstummte und blieb stehen. Kat’ka sah ihn ernst und fragend an.
„Es ist schon schrecklich viel Geld“, sagte sie zaghaft.
„Sei still... Überhaupt nicht viel... Zu wenig! Wir leisten uns nochmal 8 Kopeken... macht 33! Es ist Weihnachtszeit... Und dann bleiben immer noch über 70! Siehst du, wieviel! Was will sie noch mehr, die alte Hexe? Auf geht’s!“
An den Händen gefasst, liefen sie hüpfend über den Bürgersteig. Der Schnee wehte ihnen entgegen und verklebte die Augen. Manchmal bedeckte sie ein Schneewolke von Kopf bis Fuß und hüllt die beiden kleinen Figuren in ein durchsichtiges Tuch, das sie rasch zerrissen in ihrem Streben nach Wärme und Nahrung...
„Weißt du“, fing Kat’ka an, ganz außer Atem vom Laufen, „mach was du willst... aber wenn sie es erfährt... dann sage ich, dass du dir das alles ausgedacht hast. Du rennst einfach weg und fertig, aber mir geht es schlechter... mich kriegt sie immer und verhaut mich schlimmer als dich... Sie mag mich nicht... Ich sage es ihr, denk dran!“
„Na gut, sag’s ihr“, nickte Mischka. „Wenn sie dich verhaut.., das heilt wieder... Sag’s ihr ruhig.“
Er war ganz von Trotz und Stolz erfüllt und ging pfeifend seines Wegs, den Kopf nach hinten geworfen. Sein Gesicht war abgemagert, mit spitzbübisch blickenden, aber auf eine unkindliche Art harten Augen und einer spitzen, ein wenig gebogenen Nase.
„Da ist das Wirtshaus... Sogar zwei! In welches gehen wir?“
„Lass uns in das niedrige gehen... Zuerst in den Laden... Los!“
Und nachdem sie alles wie vorgesehen gekauft hatten, gingen sie in das niedrige Wirtshaus.
Das Wirtshaus war angefüllt mit Dunst, Rauch und einem säuerlichen, betäubenden Geruch. In der dichten rauchigen Dunkelheit saßen an den Tischen Kutscher, Vagabunden, Soldaten; zwischen den Tischen huschten unglaublich schmutzige Kellner herum, und das alles schrie, sang und schimpfte...
Mischka entdeckte mit scharfem Blick ein freies Tischchen in einem Winkel und ging, geschickt lavierend, dorthin. Er zog sich schnell aus und machte sich auf zum Büfett. Kat’ka fing auch an sich auszuzihen, wobei sie zaghaft um sich blickte.
„Onkelchen“, sagte Mischka zu dem Büfettier, „gestatten Sie, ich bekomme zwei Tee“, und dabei schlug er leicht mit der Faust auf die Tischplatte.
„Tee willst du? Bitte sehr. Nimm dir selbst... und geh dir heißes Wasser holen... Aber pass auf und mach nichts kaputt. Sonst setzt es was!“
Aber Mischka war schon unterwegs nach dem heißen Wasser.
Zwei Minuten später saß er mit seiner kleinen Gefährtin in würdevoller Haltung am Tisch, zurückgelehnt auf seinem Stuhl, mit der wichtigen Miene eines Lastenkutschers, der gerade seine Arbeit beendet hat – und drehte sich konzentriert eine Zigarette aus Machorka. Kat’ka betrachtete ihn mit Bewunderung für seine Fähigkeit, sich an einem öffentlichen Ort richtig zu benehmen. Sie konnte sich noch ganz und gar nicht an die mächtige, ohrenbetäubende Harmonie des Wirtshauses gewöhnen und erwartete insgeheim ständig, dass man ihnen beiden „eins hinter die Ohren geben“ und sie hinauswerfen würde oder etwas noch Schlimmeres geschehen würde. Aber vor Mischka wollte sie sich ihre Befürchtungen nicht anmerken lassen, und gab sich Mühe, einfach und unabhängig um sich zu blicken, während sie ihre flachsblonden Haare glatt strich. Diese Anstrengungen riefen immer wieder eine Röte auf ihren schmutzigen Wangen hervor und ein verlegenes Blinzeln mit ihren blauen Äugelchen. Und Mischka hielt ihr einen belehrenden Vortrag, wobei er sich bemühte, in Ton und Ausdrucksweise den Hofarbeiter Signej nachzuahmen, einen sehr soliden Menschen, obgleich er ein Säufer war und vor kurzem eine dreijährige Gefängsnistrafe wegen Diebstahls abgesessen hatte.
„Also du, sagen wir mal so, winselst um eine Gabe... Aber wie winselst du? Das taugt überhaupt nichts, um die Wahrheit zu sagen. „Ge-eben Sie, ge-eben Sie!“ Hat das etwa einen Sinn? Vor die Füße musst du ihm laufen, dem Passanten... Und versuche es so zu machen, dass er Angst hat, über dich zu fallen...“
„Ich werde es so machen“, stimmte ihm Kat’ka gehorsam zu.
„Na also“, nickte ihr Kamerad ihr zu, „so ist es recht. Und noch etwas: wenn, sagen wir mal, Tante Anfisa dich...Was ist denn diese Anfisa?... Eine Säuferin, zuerst mal! Und dann...“
Und Mischka erklärte offen, was Tante Anfisa dann noch war.
Kat’ka nickte mit dem Kopf, voll einverstanden mit Mischkas Definition.
„Du gehorchst ihr nicht... Das muss man nicht so machen. Du sagst ihr einfach, Tantchen, ich, sagst du ihr, habe nichts gegen Sie, ich werde auf Sie hören... Soll heißen, schmier ihr Saft ums Maul. Und dann mach, was du willst... So macht man das.“
Mischka schwieg und kratzte sich würdevoll am Bauch, wie Signej es immer machte, wenn er eine Rede beendet hatte. Weitere Themen standen ihm nicht zur Verfügung. Da schüttelte er den Kopf und sagte:
„Na, lass uns essen.“
„Oh ja!“, stimmte Kat’ka ihm zu, die schon lange mit gierigem Blick das Brot und die Wurst betrachtet hatte.
Und dann begannen sie in dem Halbdunkel des von verrussten Lampen schlecht erleuchteten Wirthauses und im Lärm zynischer Flüche und Lieder ihr Abendbrot. Sie aßen beide mit Gefühl, mit Verstand und mit kleinen Pausen, wie echte Feinschmecker. Und wenn Kat’ka aus dem Takt geriet und gierig einen zu großen Bissen nahm, wovon sich ihre Backen aufblähten und die Augen sich in komischer Panik weit öffneten, brummte Mischka spöttisch:
„Na, Mütterchen, hast dich wohl übernommen.“
Das brachte sie in Verlegenheit und sie bemühte sich, halb erstickt, die schmackhafte Speise schneller durchzukauen.
Nun, das ist alles. Jetzt kann ich sie beruhigt verlassen, damit sie ihren Weihnachtsabend zuende bringen können. Sie werden – glaubt mir das – nicht mehr erfrierern. Sie sind an ihrem Platz... Wozu sollte ich sie erfrieren lassen?..
Meiner Meinung nach ist es ganz unsinnig, Kinder erfrieren zu lassen, die alle Möglichkeiten haben, auf einfachere und natürlichere Weise umzukommen.
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